Das Schildkröten-Drama
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Das Schildkröten-Drama

Lesedauer: 4 Minuten

Die Verhandlungen unserer Kolumnistin und ihrer Söhne um die Anschaffung eines Hundes dauern an, der vorläufige Kompromiss lautet: Besser eine Schildkröte als gar kein Haustier. Wären sie nur kein Bund fürs Leben …

Text: Andrea Müller
Bild: Adobe Stock

Mama, ich will einen Hund!», sagen meine Söhne, seit sie sprechen können. Inzwischen sagen sie es weniger befehlstonartig, aber schon in ungebrochener Sehnsucht. Da Hunde laut Hundebesitzern in Fürsorge- und Finanzaufwand einem dritten Kind entsprechen und grundsätzlich an Müttern hängenbleiben, hadere ich weiter mit der Anschaffung eines Hundes – und denke eher über die Abschaffung der Kinder nach.

Während Caspars Hundewunsch kompromisslos fortbesteht, ist für Ben das vorläufige Nein zum Hund noch längst nicht das Ende der Fahnenstange. «Wenn schon kein Hund, dann wenigstens eine Katze …», versucht er es weiter. Doch die Katzenallergie des Vaters macht uns einen Strich durch die Rechnung, denn Katzenhaar bleibe auch in getrennten Haushalten trotz des regelmässigen Einsatzes von Waschmaschinen an den Klamotten der Kinder hängen und löse allergische Reaktionen aus.

«Dann halt ein Kaninchen!», fährt Ben fort. Unsere Vermieterin winkt ab. Hasen buddeln tiefe Löcher in ihren gepflegten Rasen, die restliche Zeit in kleinen Hasenställen wäre Tierquälerei. Ben kontert kontinuierlich: Justin Biebers Kapuzineräffchen zum Beispiel könne frei in dessen Wohnung herumtollen, und könnte hier sogar in seinem Bett schlafen, er wasche seine Bettbezüge auch ab sofort selbst. Klar doch!

Zu wenig Kuschelmasse

Ich weiss ja, dass Kuscheln Glückshormone freisetzt und bestenfalls Bens Schokoladenkonsum senken würde, aber ich möchte trotzdem kein Hausschwein (obwohl angeblich George Clooney eines hat), ich habe schon zwei. Nur Meerschweinchen, Hamster und Ratten stehen für Ben nicht zur Debatte. Zu wenig Kuschelmasse.

Während sich das irdische Dasein handelsüblicher Haustiere normalerweise innerhalb einer Kindheit erledigt, muss man hier bedenken: Schildkröten werden bis zu 130 Jahre alt!

Ein Kinoabend mit «Teenage Ninja Turtles» bringt schliesslich die Entscheidung. Die animierten Schildkröten-Krieger verströmen anscheinend eine gewisse kämpferische Stärke, so etwas wie die  Unbesiegbarkeit eines ewigen Tieres. Während sich das irdische Dasein handelsüblicher Haustiere normalerweise innerhalb einer Kindheit erledigt, muss man hier bedenken: Schildkröten werden bis zu 130 Jahre alt! Die älteste Schildkröte soll sogar 190 geworden sein, demnach wären die Dinger, wenn Ben 40 wird, gerade mal in der Pubertät?

Pünktlich zur heiligen Kommunion, quasi in konvergenter Symbolik eines lebenslangen Abkommens mit übergeordneten Mächten, wird Ben mit neun Jahren stolzer Schildkrötenbesitzer. Der Zoohandel gibt uns Formulare für das Veterinäramt mit, die bis heute unausgefüllt zwischen Gebrauchsanweisungen in der Küchenschublade liegen. Der Zoohändler sagt etwas von «hahaha ja, bis dass der Tod Euch scheidet». Doch wie soll ein Neunjähriger verstehen, was Erwachsenen selbst vor dem Traualtar nur selten gelingt? 

Als aus Anais Pierre wurde

Heute ist Bens Schildkröte viereinhalb Jahre alt. Sie heisst «Usain Bolt», nach dem jamaikanischen Sprinter und achtfachen Olympiasieger. Entgegen der wissenschaftlichen Erkenntnis, dass das Geschlecht einer Griechischen Landschildkröte erst im Lebensalter von mindestens zwei Jahren erkennbar ist, war Ben sich von Anfang an sicher, dass es sich um einen Jungen handelt.

Das Ganze erinnerte mich an mich selbst vor langer Zeit, als ich in Paris auf der Strasse eine Katze fand, die ich unbedingt «Anais» nennen wollte. Erst nachdem ich zuhause ausgezogen war, stellte sich heraus, dass Anais ein Kater war, mein Vater nannte ihn Pierre, wenigstens blieb er französisch. Mit Usain hat Ben Recht behalten: Er ist ein Kerl und schneller, als wir gucken können. 

Meine Mutter erinnert sich noch genau, wie früher nachbarschaftliche Schildkröten-Fahndungen mit viel zu vielen Drinks endeten.

Usains Abenteuerlust führt dazu, dass hilfsbereite Nachbarn in regelmässigen Abständen ihre Gärten nach Bens Schildkröte absuchen müssen. Erst vor Kurzem habe ich mal wieder «Vermisst!»- Plakate an Bäumen, Strassenlampen und Eisdielenfenstern aufgehängt, inklusive meiner Telefonnummer. 

Ein paar Leute haben sich gemeldet. Unter anderem ein Geflüchteter Afghane, der «Kröt für Kind» haben wollte. (Wenigstens nicht für seine Suppe.) Nach zwei Wochen klingelte ein hübsches Nachbarsmädchen, das Bens Schildkröte zurückbrachte. Ben hat kein Wort herausbekommen, sich aber am nächsten Tag mit Schokolade bedankt. 

«Jedes Mal kommen die wieder!», stöhnt meine Mutter. Sie erinnert sich noch genau, wie früher nachbarschaftliche Schildkröten-Fahndungen mit viel zu vielen Drinks endeten, die meine Eltern zum Dank fürs Mitsuchen ausgegeben hatten. (Falls meine Nachbarn das lesen: Drinks zum Dank stehen immer noch aus!)

Eine Schildkröte zwischen Schinken und Butterdose

Letzten Sommer wollte Ben Usain vor Wut aussetzen. Sein Tier hatte mutmasslich seine kleinere, eigens für ihn angeschaffte Artgenossin getötet. Der tragische, viel zu frühe Tod der zweiten Schildkröte, die eines Morgens einfach leblos im Terrarium lag, blieb bis heute ungeklärt. Sobald sie zum Essen ihr Haus verliess, schob sich der liebestolle Sprinter über ihren kleinen Panzer. Ich habe ihn dann immer aus dem Terrarium genommen, bis sie aufgegessen hatte. Es war mindestens sexuelle Belästigung am Essensplatz. Ben hat bitter den Tod der Kleineren beweint, wir haben Heidekraut auf ihrem Grab gepflanzt.  

Die beiden Schildkröten unterstützen Ben beim Homeschooling. (Bild: Privat)

Seitdem ist Usain wieder Single. Zurzeit hält er Winterschlaf, wir lagern ihn nicht (was viele Schildkrötenbesitzer tun) im Kühlschrank. In seiner natürlichen Heimat im Mittelmeerraum wird es im Winter schliesslich auch nicht kälter als 10, 15 Grad. Ben befürchtet, dass er im Kühlschrank bei 8 Grad zwischen Schinken und Butterdose nicht überleben würde.

Schildkröten und Teenager sind der perfekte Match.

Meine Söhne wünschen sich weiterhin einen Hund. Aber ein Hund geht nicht unterm Bett zwischen festgeklebten Bananenschalen und Krümeln von Milchschnitten Gassi, ein Hund sitzt nicht tagelang unbemerkt in einem Haufen einzelner Socken hinter der Heizung. Hunde-Häufchen auf Mathebüchern wären ausserdem deutlich schlechter zu verkraften als Usains, der sich von einigen Salatblättern und etwas Gurke ernährt und völlig geruchsneutral seine Bedürfnisse erledigt. 

Insofern sind Schildkröten und Teenager der perfekte Match. Sie chillen gemeinsam zwischen Chipstüten und anwachsenden Wäschebergen und vergessen derweil, dass der andere existiert.

Andrea Müller
ist Journalistin, lebt in Hamburg und hat zwei Teenager-Söhne, die sie (oft vergeblich) zu Nicht-Mackern zu erziehen versucht. In Bezug auf den Alltag mit ihren Kindern denkt sie nicht selten: Absurder könnte kein Hollywood-Autor das Leben einer Single-Mom erfinden.

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