Über den Grusel-Reiz beim Übernachten
Schlafen in einem fremden Haus bedeutet grosse Angst und unwiderstehliche Faszination, schreibt unser Kolumnist Mikael Krogerus und erinnert sich an seine ersten Übernachtungen.
Als Kind war meine grösste Angst zugleich meine grösste Freude: bei einem Freund zu übernachten. Oft war ich so aufgeregt, dass ich am Vorabend Bauchschmerzen bekam und meine Mutter bei den Eltern anrief und absagte. Mein Körper rebellierte, so wie Wildtiere vor starken Erdbeben unruhig ihre Nistplätze verlassen. Und zugleich sehnte ich mich nach dem, was mir Angst machte: das Fremde, das Unsichere, das Andersartige.
Die Nacht in einem fremden Haus zu verbringen, war wie eine Reise in ein fremdes Land. Wie es wohl ist, Eltern zu haben, die sich lieben? (Meine waren geschieden.) Zu viert in einer Zwei-Zimmer-Wohnung zu leben? Oder zu dritt in einer Villa?
Menschen, so lernte ich, können dir für die Dauer eines Nachtessens etwas vorspielen, aber wer über Nacht bleibt, erhält Einblick in etwas Geheimnisvolles: das Gefühlsleben anderer Familien. Denn es fällt schwer, Stimmungsschwankungen über längere Zeit unter Kontrolle zu halten. Oft waren es die Väter oder die älteren Brüder, vor deren Launen ich mich fürchtete, aber auch die Mütter konnten seltsam sein: gleichgültig, depressiv, flatterhaft.
Manche Eltern stritten sich hemmungslos vor unseren Augen, andere stöhnten nachts, manche führten ein strenges Regime, das an nordkoreanische Umerziehungslager erinnerte, andere liessen uns nicht jugendfreie Filme schauen und brachten Kartons voller Glace.
Übernachtungen schenken dir einen Einblick in die Schwachstellen anderer Familien. Sie machen die anderen menschlicher und dadurch auch dich.
Das Andersartige bestärkte mich in dem Gefühl, dass ich mich zu Hause sicher fühlte, aber manchmal durchfuhr mich auch der furchtbare Gedanke, dass die Familien anderer ein klein wenig glücklicher und ausgelassener wirkten als meine eigene.
Ich bewegte mich durch die Familie wie ein Forschungsreisender. Überall Spuren von Gewohnheiten, Zeichen der Befindlichkeit, Hinweise auf Marotten. Ich durchwühlte das Medizinkabinett im Bad auf der Suche nach merkwürdigen Medikamenten. Was bedeutete es, dass manche das Toilettenpapier nicht vornüber abgerollt hatten, sondern hintenrum?
Besonders erstaunt war ich, als ich in einem Rudolf-Steiner-Haushalt unter einem rosa Tuch den Fernseher entdeckte. Das Schlafzimmer im Besonderen erregte unser Interesse. Die schamlos aufgeschlagene «Penthouse»-Ausgabe neben dem Ehebett der Eltern, die aufgerissene Kondompackung auf dem Nachttisch in einem anderen Haushalt. «Wie leben diese Menschen?», fragte ich mich mit pochendem Herzen.
Aber ich war nicht nur ein Voyeur; ich war auch ein Überlebender. Denn wenn die Dunkelheit einbrach und ich den gleichmässigen Atem meines Freundes hörte, kroch die Angst in mir hoch. Hellwach lag ich im Bett, überwältigt von der neuen Umgebung, hilflos der eigenen Fantasie ausgeliefert. Die Nacht ohne Schlaf ist ein Vergrösserungsglas. Ein loser Gedanke entwickelt den Sog eines schwarzen Lochs, die kleinste Sorge wird zu einem achtköpfigen Ungeheuer, das geringste Vorhaben zur untragbaren Bürde.
Ich lernte in diesem Moment, dass auch ein Fremder dich trösten kann.
Einmal öffnete sich die Tür und die Mutter meines Freundes kam herein. Sie hockte sich neben meine Matratze, strich mir über den Kopf und sprach zu mir in einer fremden Sprache. Ich lernte in diesem Moment, dass auch ein Fremder dich trösten kann.
Übernachtungen schenken dir einen Einblick in die Schwachstellen anderer Familien. Sie machen die anderen menschlicher und dadurch auch dich.