Frau Walitza, wie erkennt man Kinderängste? -
Merken
Drucken

Frau Walitza, wie erkennt man Kinderängste?

Lesedauer: 3 Minuten

Kinder- und Jugendpsychiaterin Susanne Walitza sagt, dass Kinder in der Regel nicht über ihre Ängste sprechen. Sie erklärt, wie man Kinderängste erkennt – und was sie von Erwachsenenängsten unterscheidet.

Frau Walitza, Angst ist eine der häufigsten psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter. Merken Sie das im Klinikalltag? 

Interessanterweise behandeln wir häufiger Kinder und Jugendliche mit ADHS, obwohl doppelt so viele Kinder eine behandlungsbedürftige Angststörung aufweisen. Aus Befragungen von Schulgesundheitsdiensten wissen wir, dass etwa 30 Prozent der Schülerinnen und Schüler Ängste haben, etwa 10 Prozent davon sind klinisch behandlungsbedürftig.

Wie kommt es zu dieser Diskrepanz? 

Früher wurden Ängste und Zwänge diagnostisch zusammengefasst. Bei Angst- und Zwangserkrankungen wissen wir, dass Betroffene oft bis zu acht Jahre warten, bis sie zum ersten Mal in Behandlung gehen. Kinder reden nicht über ihre Angst. Hinzu kommt, dass ein Kind mit einer Angststörung weniger auffällt in der Schule. Es verhält sich im Gegensatz zu einem Kind mit ADHS ruhig und angepasst. Angst ist eine unsichtbare Krankheit. Das führt zu diesem Gap zwischen Betroffenen und solchen, die in Behandlung kommen.

Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Susanne Walitza ist ärztliche Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Sie ist im Vorstand der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD) sowie Autorin von Fachliteratur und Fachbüchern zum Erkennen und Behandeln von Angststörungen.
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Susanne Walitza ist ärztliche Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Sie ist im Vorstand der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD) sowie Autorin von Fachliteratur und Fachbüchern zum Erkennen und Behandeln von Angststörungen.

Wie verbergen Kinder ihre Angst, damit sie nicht auffallen?

Nehmen wir die Sozialphobie, die bei Jugendlichen häufig vorkommt: 70 Prozent der Angstsituationen finden in der Schule statt. Meist geht es darum, was andere über den Jugendlichen denken. So entwickelt er Sicherheitsstrategien, um die Angst zu vermeiden: Zum Beispiel streckt er die Hand erst auf, wenn die Lehrerin schon dazu angesetzt hat, jemand aufzurufen. Er spricht leise und überlegt sich lange, wie er eine Antwort in einen kurzen Satz fassen kann. Damit er Pausen nicht mit anderen verbringen muss, gibt er zum Beispiel vor, noch eine Hausaufgabe abgeben zu müssen. Diese und andere Strategien sind höchst anstrengend für den Jugendlichen.

Können sich Ängste auswachsen? 

Was sich von alleine auswächst, sind Entwicklungsängste. Sie treten parallel zur kognitiven Entwicklung auf. Im ersten Lebensjahr ist das zum Beispiel die Fremdenangst – wenn das Kind plötzlich merkt: Das ist ja gar nicht meine Bezugsperson, die mich da herumträgt. Vom vierten bis zum sechsten Lebensjahr sind es dann zum Beispiel die Monster im Keller. Solche Ängste kommen und gehen. Ist die Angst aber übermässig im Vergleich zu Gleichaltrigen und beeinträchtigt sie den Alltag, dann ist fachliche Hilfe angebracht. Können Kinder ihre alltäglichen Aufgaben nicht erfüllen, verpassen sie unter Umständen wichtige Entwicklungsschritte. Eine unbehandelte Angst hat bei einem Kind viel grössere Auswirkungen als bei einem Erwachsenen.

Unterscheidet sich denn die Angststörung bei Kindern von derjenigen bei Erwachsenen?

Kinder haben meist unspezifische Symptome. Sie klagen über Bauchschmerzen, sind lethargisch oder aggressiv. Auch die Form unterscheidet sich: Die generalisierte Angststörung kommt bei Kindern weniger vor. Auch Panikattacken sind weniger häufig. Trennungsangst ist die häufigste Angst im Kindesalter.

Die Angst des Kindes, von den Eltern getrennt zu sein?

Ja, aber das ganz Entscheidende ist die Angst um die Eltern. Wenn sie nicht zu Hause sind, könnte ihnen etwas geschehen. Manche Kinder werden in der Trennungssituation aggressiv, auch gegenüber sich selbst: Sie klammern sich an der Mutter fest, reissen sich an den Haaren, schreien.

Einmal hatte ich ein Kind, das mit dem Kopf gegen die Wand schlagen wollte, als die Mutter im Begriff war, den Raum zu verlassen. Das muss man aushalten können, wenn man das sieht, und man muss Mutter und Kind bei der Trennung helfen. Die Aggression kann die Angst auch maskieren, was bei Buben schnell als oppositionelles Verhalten aufgefasst wird. Dabei steckt dahinter eine Riesenangst.

Und was tun Sie, wenn ein Kind seinen Kopf gegen die Wand schlagen will? 

Zuerst trenne ich Mutter und Kind. Dabei ist wichtig, der Mutter zuvor zu vermitteln, dass sich das Kind sofort beruhigen wird, sobald sie draussen ist. Ich habe es noch nie anders erlebt. Man kann der Mutter auch ein Handyfoto schicken, damit sie sieht, dass ihr Kind wieder zufrieden ist. Findet die Trennung zu Hause statt, dann beraten wir die Eltern oder statten im Notfall Hausbesuche ab. Wir behandeln in allen Variationen, immer individuell. Manchmal genügt schon die Elternberatung.

Und wenn nicht?

Ist die Situation verfahren – liegt zum Beispiel eine längere Schulverweigerung vor und kommen mehrere Ängste oder gar eine Depression hinzu – braucht das Kind unter Umständen einen stationären Aufenthalt. Wir haben eine Schule, in der Unterricht nach Lehrplan gegeben wird. Das Kind wird dann sukzessive wieder in die eigene Heimatschule zurückgeführt.

Gibt es Kinder, die von ihrem Charakter her anfälliger sind für eine Angststörung als andere?

Es sind verschiedene Faktoren, die eine Angststörung begünstigen. Bezüglich Charakter zeichnet sich manchmal die ganze Familie durch Zurückhaltung und Ängstlichkeit aus. Es gibt auch eine biologische Vulnerabilität beziehungsweise Anfälligkeit. Sie äussert sich in eher ängstlichem Verhalten und Zurückhaltung, wenn es darum geht, sich selbst kennenzulernen und Neues zu erproben.

Wie gross ist der Heilungserfolg bei Angststörungen?

Die Prognosen sind gut. Wir schliessen die Therapie ab, sobald die Angst so weit reduziert ist, dass das Kind alltägliche Aufgaben durchführen kann und es stabil ist. Das bezieht sich auf die Behandlung mit einer Verhaltenstherapie. Wird nur medikamentös behandelt, ist das Kind vermutlich nach dem Absetzen des Medikaments nicht mehr stabil. Die Psychotherapie ist immer die erste Wahl und eine Medikation erfolgt immer im Rahmen einer multimodalen Behandlung.

Wie lange dauert eine Therapie?

Das variiert je nach Kind und Angstform. Durchschnittlich umfasst eine Therapie etwa 20 Stunden. Bei der spezifischen Phobie geht es schneller, wenn sich die Angstsituation leicht üben lässt. Hat das Kind aber zum Beispiel Angst vor dem Erbrechen, ist es schwierig, eine Übungssituation herzustellen. Im Grundsatz gilt: Je früher sich die Betroffenen behandeln lassen, desto besser der Heilungserfolg. Aber: Es ist nie zu spät für eine Therapie.

Sarah King
ist Journalistin und betreibt Gesprächsforschung. Ihr Fokus: Sprachbilder, Körperbilder, alles im und rund um den Menschen. Ihre Leidenschaften: Schreiben und Musik.

Alle Artikel von Sarah King

Mehr zum Thema Angst:

Ängste: Das Monster unter dem Bett
Gesellschaft
Ängste: Das Monster unter dem Bett
Während der Kindergartenzeit durchleben Kinder viele Ängste. Eltern können ihren Kindern zeigen, wie sie mit ihren Ängsten umgehen können.
Loslassen: Dossier Interview mit Joëlle Gut
Erziehung
«Überbehütete Kinder sind in ihrer Autonomie blockiert»
Psychotherapeutin Joëlle Gut über Eltern, die sich schwertun mit Loslassen und ihren Kindern mehr Verantwortung zu übertragen.
Elternblog
Misox – oder die Geschichte von der entfesselten Drachenkönigin
Redaktorin Maria Ryser verarbeitet das Unwetter im Misox und nimmt uns mit auf eine innere Reise, die sie auch als Mutter wachsen liess.
Video
Mein Kind hat immer Angst
Silvia Zanotta ist Expertin für Angststörungen. Im Kosmos-Kind-Vortrag erklärt sie, wie Eltern betroffenen Kindern helfen können.
Joel spricht mit seiner Mutter im Wald über seine Angst in die Schule zu gehen.
Psychologie
Schulangst: «Der kann schon, der will nur nicht!»
Joel, 18, hat Legasthenie. Die Angst, von seinen Mitschülern ausgelacht zu werden, war gross. Wie er es geschafft hat, die Schule abzuschliessen.
Stress bei Kindern schnell und einfach mit Klopfen auflösen
Gesundheit
Stress bei Kindern schnell und einfach mit Klopfen auflösen
Prüfungsangst oder Bauchschmerzen wegen einem Konflikt? Mit der EFT-Klopftechnik können Kinder sich bei Stress schnell wieder beruhigen.
Schulangst: «Ich habe nur noch geweint»
Psychologie
«Als Colin in die Psychiatrie sollte, habe ich geweint»
Colin wollte wochenlang nicht mehr zur Schule. Er und seine Mutter erzählen, wie sie diese Zeit erlebt haben und was ihnen geholfen hat.
Schulangst: Kind bleibt zu Hause und schaut aus dem Fenster
Psychologie
Schulangst: «Mir war schon morgens zu Hause ganz schlecht»
Was tun, wenn das Kind vor lauter Angst nicht mehr in die Schule will? Ein Mädchen und sein Vater erzählen, wie es dazu kam.
Schulangst
Psychologie
Wenn die Schule zur Qual wird
Bei Schulabsentismus ist immer häufiger Angst im Spiel. Wie sollten Lehrpersonen reagieren? Und wie können Eltern ihr Kind stärken?
Gute Geheimnisse, schlechte Geheimnisse: Mädchen flüstert der Mutter ein Geheimnis ins Ohr.
Erziehung
Gute Geheimnisse, schlechte Geheimnisse
Was macht ein gutes und was ein schlechtes Geheimnis aus? Wie Eltern ihr Kind dabei unterstützen können, die beiden zu unterscheiden.
Malen zeichnen Umgang mit Kinderbildern
Elternbildung
Was malst du da?
Sich beim Malen frei auszudrücken fördert die Kreativität, wirkt entspannend und kann sogar helfen, belastende Erfahrungen zu verarbeiten. 
Angststörungen und Phobien bei Kindern und Jugendlichen nehmen zu.
Gesundheit
Angststörungen: Was können Eltern tun?
Noch nie litten so viele Kinder und Jugendliche an Angststörungen und Phobien wie heute. Was ist los? Expertin Silvia Zanotti ordnet ein.
Mut braucht vor allem Selbstvertrauen
Erziehung
«Mut braucht vor allem Selbstvertrauen»
Mut hat viele Facetten. Ingenieurin Anne Richter erzählt, wer von ihren Jungs eher zu physischem und wer zu sozialem Mut neigt.
Wie Kinder mutig werden: 5 Beispiele aus dem Alltag
Erziehung
Wie Kinder mutig werden: 5 Beispiele aus dem Alltag
Was sollen Eltern tun, um den Mut ihrer Kinder zu fördern? Und wo sind die Grenzen? 5 Beispiele aus dem Alltag.
Mut: Klare Absprachen fördern das Sicherheitsgefühl
Erziehung
«Klare Absprachen fördern das Sicherheitsgefühl»
Larissa und Jan Weile haben zwei klassische Schockmomente erlebt und eine Strategie entwickelt, ihren Kindern mehr Freiraum zu gewähren.
Mut entwickeln und Ängste überwinden
Erziehung
Wie wird mein Kind mutig?
Eltern wünschen sich mutige Kinder. Mut zeigt sich auf verschiedene Weise. Was hilft einem Kind, mutig zu werden? Und wie können Eltern es unterstützen?
Fritz+Fränzi
Mutige Kinder: Unser Thema im Juni
Wie Kinder an der Überwindung ihrer Ängste wachsen – und was Eltern dazu beitragen können.
Mikael Krogerus Kolumnist
Elternblog
Über den Grusel-Reiz beim Übernachten
Schlafen in einem fremden Haus bedeutet grosse Angst und unwiderstehliche Faszination, schreibt unser Kolumnist Mikael Krogerus und erinnert sich an seine ersten Übernachtungen.
Familienleben
Wie können Eltern besser mit Stress im Alltag umgehen?
Viele Eltern fühlen sich im Alltag mit seinen unendlichen To-do-Listen permanent gestresst und gehetzt. Woran liegt das? Und vor allem: Wie kommen wir da wieder raus?
Die meisten Kinder werden aus Überforderung geschlagen
Elternbildung
«Die meisten Kinder werden aus Überforderung geschlagen» 
Zwei Sozialarbeiterinnen plädieren für mehr Aufklärung und Hilfsangebote für Eltern, die häufig aus Überforderung gewalttätig werden.
Erziehung
Wie viel Elternangst ist normal?
Die Evolution hat uns mit Sorge um unsere Kinder ausgestattet. Wie findet man einen guten Umgang mit den Elternängsten?
Entwicklung
7 Tipps für ängstliche Eltern und Kinder
Welcher Risikotyp ist Ihr Kind? Und was tun, wenn Sie selbst zu Sorge und Angst neigen? Mit diesen Tipps stärken Sie sich selbst und Ihr Kind.
Angst vor Mathe und die Folgen
Lernen
Angst vor Mathe und die Folgen
Neuere Forschungen zeigen, dass die meisten Kinder mit starker Angst vor Mathematik keine schlechte Leistung in diesem Fach bringen.
Elternbildung
Wut, Angst und Trauer haben keinen Ausschaltknopf
Oft sind Eltern gute Problemlöser. Teilweise sind sie aber auch hilflos, die Gefühle ihrer Kinder auszuhalten.