Frau Walitza, wie erkennt man Kinderängste?
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Kinder- und Jugendpsychiaterin Susanne Walitza sagt, dass Kinder in der Regel nicht über ihre Ängste sprechen. Sie erklärt, wie man Kinderängste erkennt – und was sie von Erwachsenenängsten unterscheidet.
Frau Walitza, Angst ist eine der häufigsten psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter. Merken Sie das im Klinikalltag?
Interessanterweise behandeln wir häufiger Kinder und Jugendliche mit ADHS, obwohl doppelt so viele Kinder eine behandlungsbedürftige Angststörung aufweisen. Aus Befragungen von Schulgesundheitsdiensten wissen wir, dass etwa 30 Prozent der Schülerinnen und Schüler Ängste haben, etwa 10 Prozent davon sind klinisch behandlungsbedürftig.
Wie kommt es zu dieser Diskrepanz?
Früher wurden Ängste und Zwänge diagnostisch zusammengefasst. Bei Angst- und Zwangserkrankungen wissen wir, dass Betroffene oft bis zu acht Jahre warten, bis sie zum ersten Mal in Behandlung gehen. Kinder reden nicht über ihre Angst. Hinzu kommt, dass ein Kind mit einer Angststörung weniger auffällt in der Schule. Es verhält sich im Gegensatz zu einem Kind mit ADHS ruhig und angepasst. Angst ist eine unsichtbare Krankheit. Das führt zu diesem Gap zwischen Betroffenen und solchen, die in Behandlung kommen.
Wie verbergen Kinder ihre Angst, damit sie nicht auffallen?
Nehmen wir die Sozialphobie, die bei Jugendlichen häufig vorkommt: 70 Prozent der Angstsituationen finden in der Schule statt. Meist geht es darum, was andere über den Jugendlichen denken. So entwickelt er Sicherheitsstrategien, um die Angst zu vermeiden: Zum Beispiel streckt er die Hand erst auf, wenn die Lehrerin schon dazu angesetzt hat, jemand aufzurufen. Er spricht leise und überlegt sich lange, wie er eine Antwort in einen kurzen Satz fassen kann. Damit er Pausen nicht mit anderen verbringen muss, gibt er zum Beispiel vor, noch eine Hausaufgabe abgeben zu müssen. Diese und andere Strategien sind höchst anstrengend für den Jugendlichen.
Können sich Ängste auswachsen?
Was sich von alleine auswächst, sind Entwicklungsängste. Sie treten parallel zur kognitiven Entwicklung auf. Im ersten Lebensjahr ist das zum Beispiel die Fremdenangst – wenn das Kind plötzlich merkt: Das ist ja gar nicht meine Bezugsperson, die mich da herumträgt. Vom vierten bis zum sechsten Lebensjahr sind es dann zum Beispiel die Monster im Keller. Solche Ängste kommen und gehen. Ist die Angst aber übermässig im Vergleich zu Gleichaltrigen und beeinträchtigt sie den Alltag, dann ist fachliche Hilfe angebracht. Können Kinder ihre alltäglichen Aufgaben nicht erfüllen, verpassen sie unter Umständen wichtige Entwicklungsschritte. Eine unbehandelte Angst hat bei einem Kind viel grössere Auswirkungen als bei einem Erwachsenen.
Unterscheidet sich denn die Angststörung bei Kindern von derjenigen bei Erwachsenen?
Kinder haben meist unspezifische Symptome. Sie klagen über Bauchschmerzen, sind lethargisch oder aggressiv. Auch die Form unterscheidet sich: Die generalisierte Angststörung kommt bei Kindern weniger vor. Auch Panikattacken sind weniger häufig. Trennungsangst ist die häufigste Angst im Kindesalter.
Die Angst des Kindes, von den Eltern getrennt zu sein?
Ja, aber das ganz Entscheidende ist die Angst um die Eltern. Wenn sie nicht zu Hause sind, könnte ihnen etwas geschehen. Manche Kinder werden in der Trennungssituation aggressiv, auch gegenüber sich selbst: Sie klammern sich an der Mutter fest, reissen sich an den Haaren, schreien.
Einmal hatte ich ein Kind, das mit dem Kopf gegen die Wand schlagen wollte, als die Mutter im Begriff war, den Raum zu verlassen. Das muss man aushalten können, wenn man das sieht, und man muss Mutter und Kind bei der Trennung helfen. Die Aggression kann die Angst auch maskieren, was bei Buben schnell als oppositionelles Verhalten aufgefasst wird. Dabei steckt dahinter eine Riesenangst.
Und was tun Sie, wenn ein Kind seinen Kopf gegen die Wand schlagen will?
Zuerst trenne ich Mutter und Kind. Dabei ist wichtig, der Mutter zuvor zu vermitteln, dass sich das Kind sofort beruhigen wird, sobald sie draussen ist. Ich habe es noch nie anders erlebt. Man kann der Mutter auch ein Handyfoto schicken, damit sie sieht, dass ihr Kind wieder zufrieden ist. Findet die Trennung zu Hause statt, dann beraten wir die Eltern oder statten im Notfall Hausbesuche ab. Wir behandeln in allen Variationen, immer individuell. Manchmal genügt schon die Elternberatung.
Und wenn nicht?
Ist die Situation verfahren – liegt zum Beispiel eine längere Schulverweigerung vor und kommen mehrere Ängste oder gar eine Depression hinzu – braucht das Kind unter Umständen einen stationären Aufenthalt. Wir haben eine Schule, in der Unterricht nach Lehrplan gegeben wird. Das Kind wird dann sukzessive wieder in die eigene Heimatschule zurückgeführt.
Gibt es Kinder, die von ihrem Charakter her anfälliger sind für eine Angststörung als andere?
Es sind verschiedene Faktoren, die eine Angststörung begünstigen. Bezüglich Charakter zeichnet sich manchmal die ganze Familie durch Zurückhaltung und Ängstlichkeit aus. Es gibt auch eine biologische Vulnerabilität beziehungsweise Anfälligkeit. Sie äussert sich in eher ängstlichem Verhalten und Zurückhaltung, wenn es darum geht, sich selbst kennenzulernen und Neues zu erproben.
Wie gross ist der Heilungserfolg bei Angststörungen?
Die Prognosen sind gut. Wir schliessen die Therapie ab, sobald die Angst so weit reduziert ist, dass das Kind alltägliche Aufgaben durchführen kann und es stabil ist. Das bezieht sich auf die Behandlung mit einer Verhaltenstherapie. Wird nur medikamentös behandelt, ist das Kind vermutlich nach dem Absetzen des Medikaments nicht mehr stabil. Die Psychotherapie ist immer die erste Wahl und eine Medikation erfolgt immer im Rahmen einer multimodalen Behandlung.
Wie lange dauert eine Therapie?
Das variiert je nach Kind und Angstform. Durchschnittlich umfasst eine Therapie etwa 20 Stunden. Bei der spezifischen Phobie geht es schneller, wenn sich die Angstsituation leicht üben lässt. Hat das Kind aber zum Beispiel Angst vor dem Erbrechen, ist es schwierig, eine Übungssituation herzustellen. Im Grundsatz gilt: Je früher sich die Betroffenen behandeln lassen, desto besser der Heilungserfolg. Aber: Es ist nie zu spät für eine Therapie.