Wovor ich mich fürchte
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren
CDC: Carpe Diem Corona! Mikael Krogerus spricht in seiner letzten Kolumne aus der Corona-Zeit über ein neues Gefühl: Angst.
Das Virus hat in vielen Menschen, die sich relativ satt und sicher in der Wohlstandsgesellschaft eingerichtet haben, also Menschen wie mich, ein neues altes Gefühl ausgelöst: Angst.
Es ist nicht die kalte, nackte Angst, die einen ergreift, wenn ein Bullterrier seine Zähne fletscht, sondern die vage Sorge, die ein erfahrener Kapitän verspürt, wenn er früher als andere einen Wetterumschwung registriert.
Da kommt was.
Die Angst, die ich verspürte, handelte nicht von einer Erkrankung. Natürlich wünsche ich mir das Virus nicht. Aber ich dachte auch nicht täglich dran.
Nein, die Angst galt meinen Eltern.
Sie sind beide gesund, treiben Sport, reden noch kein unzusammenhängendes Zeug. Sie sind Mitte 70. Sie haben also noch viele Jahre vor sich, und da sie beide neue Partner haben, sind sie auch nicht einsam. Ich mache mir also eigentlich keine Sorgen um sie. Und selbst wenn ihnen etwas zustossen sollte: Ich weiss, dass sie die Endlichkeit akzeptiert haben. Sie klammern sich nicht ans Leben, sind keine Gesundheitsneurotiker. Sie haben, so glaube ich, ihren Frieden gemacht mit sich und ihrem Leben. Vielleicht haben sie nicht das Leben gelebt, das sie sich erträumt hatten, aber sie haben ein Leben gelebt. Vor allem haben sie gelebt.
Nein, die Angst galt meinen Eltern.
Die Angst, die mich umtreibt, ist die Angst, dass sie erkranken und ich sie nicht besuchen könnte. Die Vorstellung, dass sie alleine sterben müssten, ohne Besuch, ohne jemanden, der ihnen die Hand hält, macht mir Angst.
Und dann sind da meine Kinder, ihre Enkelkinder. Meine Grosseltern waren herzliche, aber für mich letztlich skurrile Personen aus einer anderen Zeit, die ich zwar liebte und zu denen ich aufschaute, aber die mir fremd blieben. Ich freute mich immer, sie zu sehen, aber als sie starben, war mir sofort klar, dass es ein Segen für sie war, gehen zu dürfen. Meine Kinder haben viel innigere Beziehungen zu ihren Grosseltern. Sie sind handelnde Personen in ihrem Leben, keine grauen Nebendarsteller. Schon vor Jahren antwortete meine Tochter auf die Frage, wovor sie sich fürchte: «Dass Grossmutter stirbt». Gleichzeitig werden unsere Kinder grösser, die tauchen gerade ein ins Leben, vergessen schon mal, den Grosseltern zu schreiben. «Ich habe so viel zu tun», erklärte mir meine Tochter einmal mit leuchtenden Augen. Sie hat ihr Leben vor sich.
Was haben meine Eltern vor sich?
Während ich darüber sinnierte, wie es wohl ist, zu sterben, fragte ich mich plötzlich, ob es nicht klüger und vor allem viel wichtiger sei, ihre Hand zu halten, während sie noch am Leben sind. Also: Jetzt zum Beispiel?
Ich beschloss, meine Mutter anzurufen.
Mikael Krogerus ist Autor und Redaktor des «Magazin». Der Vater einer Tochter und eines Sohnes lebt mit seiner Familie in Basel.
Seit Anfang der Corona-Krise hat er einmal wöchentlich bei uns gebloggt. Dies ist sein letzter Beitrag. Hier können Sie alle bisher erschienen Kolumnen aus der Corona-Zeit nachlesen:
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