«Die meisten Kinder werden aus Überforderung geschlagen»
Obwohl über 90 Prozent aller Eltern Gewalt in der Erziehung ablehnen, sind die Fallzahlen hoch, sagen die Sozialarbeiterin Madleina Brunner Thiam und die Schulsozialarbeiterin Jenny Baruch – und plädieren für mehr Aufklärung und Hilfsangebote für die Eltern.
Frau Baruch, mit welchen Formen häuslicher Gewalt sind Kinder und Jugendliche konfrontiert?
Jenny Baruch: Uns Schulsozialarbeitenden begegnet im Rahmen unserer Arbeit das ganze Spektrum physischer Gewalt: Von den gesellschaftlich meist akzeptierten Ohrfeigen bis zu massiven Misshandlungen. Das gilt auch für psychische Gewalt wie verbale Erniedrigungen oder tagelanges Ignorieren eines Kindes.
Untersuchungen wie die der Universität Freiburg, die von Kinderschutz Schweiz in Auftrag gegeben worden ist, belegen, dass jedes 20. Kind hierzulande regelmässig körperliche Gewalt und sogar jedes vierte psychische Gewalt erfährt. Meine Vermutung ist, dass die Dunkelziffer bedeutend höher liegt.
Ab wann kann man ein elterliches Verhalten als Gewalt bezeichnen?
Jenny Baruch: Das ist schwer zu sagen und hängt von der Definition ab. Es gibt die Fälle, in denen es ganz klar ist, meist bei häufiger oder starker körperlicher Gewalt. Dann ist aber schon ganz viel passiert. Gewalt fängt aber schon viel früher an und hängt auch vom subjektiven Empfinden des Kindes und der Beziehungsqualität zwischen Eltern und Kind ab. Nicht alle Kinder entwickeln beispielsweise einen Leidensdruck, wenn die Eltern hohe schulische Leistungserwartungen haben, manche aber schon.
Madleina Brunner Thiam: Grundsätzlich ist jedes Verhalten als Gewalt einzustufen, das die Würde des Kindes verletzt.
Frau Brunner Thiam, Sie sind Co-Geschäftsleiterin der Nichtregierungsorganisation NCBI, die sich unter anderem für eine gewaltfreie Erziehung einsetzt, und Co-Projektleiterin des Programms «Keine Daheimnisse». Worum geht es dabei?
Madleina Brunner Thiam: Wir werden meistens von Schulen angefragt, eine oder auch mehrere ihrer Klassen zu besuchen. Einen Vormittag arbeiten wir im Rahmen eines Workshops mit den Schülerinnen und Schülern. Diese vertiefen dann das Erlebte beziehungsweise das Erfahrene, indem sie es in Form eines Films, eines Gedichts oder eines Raps anderen Klassen und ihren Eltern präsentieren.
Und an diesem Vormittag sprechen Sie über Gewalt an Kindern und Jugendlichen?
Madleina Brunner Thiam: Wir sprechen mit den Schülerinnen und Schülern über Strafen, da dieser Begriff für die Kinder klarer ist und sie besser Beispiele bringen können. Wir fragen sie beispielsweise: Was kennt ihr für Strafen? Was haltet ihr für sinnvoll, braucht es überhaupt Strafen in der Erziehung?
Wenn man es schafft, ohne Schuld und Scham mit diesen Eltern ins Gespräch zu kommen, kann man viel erreichen.
Madleina Brunner Thiam, Sozialarbeiterin
Vielen von Gewalt betroffenen Kindern wird erst während dieses Workshops bewusst, dass das, was sie zuhause erleben, nicht okay ist. Dass ihre Klassenkameraden beispielsweise nicht geschlagen werden, wenn sie mit einer schlechten Note nach Hause kommen. Dann geht es aber auch um die Kinderrechte und sie erfahren, wie und wo sie für sich selbst oder für ihre Freundinnen und Freunde Hilfe holen können.
In einer Erhebung der Universität Freiburg haben sich mehr als 90 Prozent der befragten Eltern dafür ausgesprochen, dass Gewalt in der Erziehung gesetzlich verboten werden sollte. Wie passt diese Bereitschaft mit den hohen Zahlen an körperlicher und psychischer Gewalt an Kindern zusammen?
Madleina Brunner Thiam: Eltern, die für eine gesetzliche Verankerung des Rechts auf eine gewaltfreie Erziehung sind, aber trotzdem in irgendeiner Form physische oder psychische Gewalt ausüben, machen das nicht, weil sie davon überzeugt sind, dass das richtig ist. Sie wissen, dass ihr Verhalten nicht gut ist für ihr Kind und somit falsch, aber es passiert ihnen trotzdem. Weil sie sich in Stresssituationen nicht anders zu helfen wissen, weil sie selbst Gewalt in ihrer Kindheit erfahren haben und so weiter. Wenn man es schafft, ohne Schuld und Scham mit diesen Eltern ins Gespräch zu kommen, kann man viel erreichen.
Jenny Baruch: Es gilt auch die Kinder dafür zu sensibilisieren: Gewalt ist nie eine gute Idee, aber niemand ist frei von Fehlern. Die Kinder haben ein Recht darauf, nicht geschlagen zu werden, aber das heisst nicht, dass sie per se schlechte Eltern haben, wenn diese gewalttätig werden, sondern dass diese einfach (hoffentlich noch) nicht die optimalen Kompetenzen besitzen – also in Kindersprache: noch keine richtig gute Ideen hatten.
Wir helfen ihnen zu erkennen, dass sie dieses Verhalten kritisch sehen und sich Hilfe holen dürfen. Meistens ist es so, dass die Kinder sehr wohl wissen, warum ihre Eltern sich so verhalten: «Ah ja, meine Eltern haben das zuhause auch gehabt als Kind» oder «Ja, das passiert, weil sie gerade im Stress sind».
Wie gehen Sie auf ein Kind zu, von dem Sie vermuten, dass es Gewalt erfährt?
Jenny Baruch: Kein Fall ist wie der andere und jeder erfordert individuelle Handlungsstrategien, das möchte ich an dieser Stelle betonen. Aber grundsätzlich suche ich das Gespräch und versuche einzuschätzen, wie weit die Gewalt geht und wie akut und gross die Gefährdung ist. Es ist immer relevant, wie sehr das Kind darunter leidet.
Die Variante, mit den Eltern zusammenzuarbeiten, ist immer die erste Wahl.
Jenny Baruch, Schulsozialarbeiterin
Ziel kann nur sein, die Situation für das Kind zu verbessern und die Eltern mit ins Boot zu holen und ihnen zu helfen, Kompetenzen zu entwickeln und damit Abhilfe zu schaffen. Dabei ist Transparenz dem Kind gegenüber sehr wichtig: «Schau, das ist nun auch für mich zu gross, ich möchte mit einer bestimmten Person darüber reden, darf ich deinen Namen nennen oder erst einmal nicht?» Oder tatsächlich die Information, dass jetzt eine Meldung unvermeidlich ist und der Rahmen der Freiwilligkeit verlassen wird.
In der UNO-Kinderrechtskonvention ist im Artikel 19 festgehalten, dass die Vertragsstaaten alle geeigneten Massnahmen treffen müssen, um Kinder vor körperlicher und geistiger Gewalt, Misshandlung, vor Vernachlässigung, schlechter Behandlung und sexuellem Missbrauch zu schützen.
Die Schweiz hat diesen Vertrag im Jahr 1997 unterschrieben und damit der Umsetzung des erwähnten Artikels 19 zugestimmt. Effektiv ist in Bezug auf den Schutz vor Gewalt lange nichts Entscheidendes passiert. Das Bundesgesetz verbietet zwar körperliche Übergriffe, ein gewisses Mass an körperlicher Züchtigung der Kinder ist in der Schweiz nach Gerichtspraxis jedoch gesetzlich erlaubt. Es gibt bisher kein Gesetz, welches Kindern und Jugendlichen das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung einräumt. Im Parlament wurde 1996, 2008, 2013 und 2017 – ohne Erfolg – versucht, diesen Zustand zu ändern.
Erst Ende 2022 ist der Ständerat der Empfehlung seiner Rechtskommission gefolgt und hat die Motion «Gewaltfreie Erziehung im ZGB verankern» angenommen. Der Bundesrat ist nun dazu verpflichtet, eine entsprechend zivilrechtliche Regelung zur gewaltfreien Erziehung auszuarbeiten.
Quellen: daheimnisse.ch / ebg.admin.ch
Und wie sprechen Sie mit den Eltern?
Jenny Baruch: Das ist natürlich von Fall zu Fall verschieden: Es kann Sinn machen, das Thema Gewalt in der Erziehung nicht sofort anzusprechen, Verständnis für die schwierige Erziehungssituation zu zeigen und zu versuchen, die Eltern an den Punkt zu führen, an dem sie die Gewalt selbst benennen. Wenn man es schafft, eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich Mütter und Väter nicht angeklagt oder schuldig fühlen, geht das meist besser. Dann habe ich die Möglichkeit, sie über die schädlichen Folgen von Gewalt und über die Möglichkeiten, sich Unterstützung zu holen, aufzuklären.
Und wenn Eltern nicht kooperieren wollen, weil sie beispielsweise Körperstrafen für ein legitimes Erziehungsmittel halten?
Jenny Baruch: Dann bin ich ab einem gewissen Punkt dazu verpflichtet, den Fall zu melden, was durchaus vorkommt. Aber die Variante, mit den Eltern zusammenzuarbeiten, ist immer die erste Wahl.
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Welche Folgen hat Gewalt in der Erziehung – körperliche wie seelische?
Jenny Baruch: Sie hat definitiv einen Einfluss auf die Beziehung zwischen Kind und Eltern. Das ist eine Entscheidung, die Eltern treffen: möchte ich eine vertrauensvolle, liebevolle und stärkende Beziehung oder eine schädliche Angstbeziehung haben zu meinem Kind? Die Erwachsenen haben die Verantwortung hierfür.
Viele Kinder, die körperliche Gewalt erleben, empfinden das als ihre eigene Schuld.
Jenny Baruch, Schulsozialarbeiterin
Madleina Brunner Thiam: Aus der Forschung weiss man, dass Gewalt in der Kindheit einen massiven Einfluss auf die Entwicklung einer Sucht im Jugend- oder Erwachsenenalter hat. Wenn ich in einem Klima aufwachse, in dem ich Angst habe und darüber nicht sprechen darf – was Eltern oft vom Kind verlangen – dann muss ich andere Strategien finden, um mit meinen negativen Gefühlen umzugehen. Kinder, die geschlagen werden, üben später selbst viel öfter Gewalt aus, als Personen, deren Kindheit weitestgehend gewaltfrei verlaufen ist. Und Gewalt zuhause hat einen Einfluss auf die schulische Leistung: Angst verursacht Stress und ein gestresstes Gehirn kann nicht gut lernen.
Jenny Baruch: Viele Kinder, die körperliche Gewalt erleben, empfinden das als ihre eigene Schuld. Das passiert, wenn ich etwas falsch mache, wenn ich einen Fehler mache. Ich stelle dann immer die Frage: Gibt’s denn Kinder beziehungsweise Menschen, die keine Fehler machen? Die Gefahr ist, dass Kinder verinnerlichen: Mein Verhalten ist verantwortlich für die Gewalt, die ich erfahre, und das hat unmittelbaren Einfluss auf den Selbstwert. Da haben wir auch wieder den Link zur Sucht.
Laut Statistik sind eher jüngere Kinder von häuslicher Gewalt betroffen, welche Risikofaktoren gibt es ausserdem?
Madleina Brunner Thiam: Oftmals sind Kinder gefährdet, deren Eltern unter grossem Stress leiden, ausgelöst durch Sucht, Arbeitslosigkeit, Geldsorgen, psychische Erkrankungen oder Paarkonflikte. Kinder von Müttern und Vätern, die als Kind vielleicht selbst Gewalt erfahren haben und nun das Erlebte weitergeben. Patriarchalische Strukturen spielen eine grosse Rolle und damit meine ich nicht nur Familien mit Migrationshintergrund sondern auch Schweizer Familien, die mit sehr strengen Wertvorstellungen leben, wie beispielsweise Freikirchler.
Gewalt zuhause hat einen Einfluss auf die schulische Leistung: Angst verursacht Stress und ein gestresstes Gehirn kann nicht gut lernen.
Madleina Brunner Thiam, Sozialarbeiterin
Jenny Baruch: Es sind auch eher Kinder gefährdet, die in ihrem Verhalten im Erziehungsalltag sehr herausfordernd sind, wie beispielsweise Kinder mit einem ADHS, einer oppositionellen Verhaltensstörung oder Lernstörungen, quasi alle psychischen Erkrankungen, bei denen sich Eltern oft als ohnmächtig oder nicht erziehungskompetent erleben. Auch Traumata können zu körperlicher Gewalt führen.
Am 1. April 2018 ist das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) für die Schweiz in Kraft getreten. Sie ist das umfassendste internationale Übereinkommen, welches sich die Bekämpfung dieser Art von Menschenrechtsverletzungen zum Ziel setzt. Die Eckpfeiler des Übereinkommens sind die Bereiche Gewaltprävention, Opferschutz, Strafverfolgung sowie ein umfassendes und koordiniertes Vorgehen (Integrated Policies).
Das Übereinkommen schützt Frauen und Mädchen aller Schichten, unabhängig von Alter, Rasse, Religion, sozialer Herkunft, sexueller Orientierung oder Aufenthaltsstatus. Der Konvention liegt die Annahme zugrunde, dass es bestimmte Gruppen von Frauen und Mädchen gibt, die einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, Gewalt zu erfahren.
Staaten müssen sicherstellen, dass die besonderen Bedürfnisse auch dieser Opfergruppen berücksichtigt werden. Darüber hinaus sind die Staaten ermutigt, dieses Übereinkommen auf alle anderen Opfer häuslicher Gewalt anzuwenden, nämlich Männer, Kinder und Senioren.
Quellen: daheimnisse.ch / ebg.admin.ch
Woran erkennt man ein Kind, das häusliche Gewalt erlebt?
Jenny Baruch: Das ist schwierig, denn Kinder reagieren sehr individuell auf diese Erlebnisse, die einen externalisierend, also beispielsweise mit Aggressionen und gewalttätigem Verhalten in der Schule, die anderen internalisierend, indem sie sich in sich selbst zurückziehen, sich für wertlos halten, die dritten reagieren für uns gar nicht erkennbar.
Hellhörig kann man dann werden, wenn ein Kind massiv auf Leistungsanforderungen oder ängstlich reagiert, wenn in Bezug auf Leistungen oder Fehlverhalten Kontakt mit den Eltern aufgenommen werden soll. Aber man muss da natürlich vorsichtig sein, es gibt Kinder, die reagieren auf schulische Leistungserwartungen schon allein wegen ihrer ängstlichen Persönlichkeit – ohne dass vonseiten der Eltern Druck ausgeübt wird.
Madleina Brunner Thiam: Wir erleben oft, dass Lehrpersonen recht erstaunt sind über Aussagen von gewissen Kindern, von denen sie nie gedacht hätten, dass diese Kinder Gewalt erleben.
Jenny Baruch: Wichtig ist einfach, dass wir Erwachsenen, seien es Eltern oder auch Fachpersonen, die mit Kindern arbeiten, auf dieses Thema sensibilisiert sind und somit auffälliges Verhalten besser erkennen und reagieren können.
Gesetzt den Fall, mein Kind erzählt mir von einer Kollegin oder einem Kollegen, der von seinen Eltern geschlagen wird. Aber gleichzeitig das Versprechen einfordert, niemandem etwas zu sagen. Wie verhalte ich mich als Mutter richtig?
Madleina Brunner Thiam: Wenn man sein Kind ermutigt, mit dem betroffenen Kind darüber im Gespräch zu bleiben, hat man schon viel getan. Wer die Mutter oder den Vater kennt, kann auf sie oder ihn zugehen und versuchen, ein Einstiegsthema zu finden: «Dieser Schulstress ist einfach mühsam, es gibt einfach viel zu viele Tests, findest du nicht auch?» Eine andere Möglichkeit wäre, die Schulsozialarbeit zu informieren, aber am besten wäre natürlich, wenn das eigene Kind das andere ermutigen kann, sich Hilfe zu holen.