Wut, Angst und Trauer haben keinen Ausschaltknopf
Manchmal sind uns die Gefühle unserer Kinder unangenehm, da wir nichts an der Situation ändern können, die sie auslöst. Das ist aber auch nicht immer nötig. Oft hilft es schon zuzuhören und da zu sein.
Viele Erwachsene gehen zur Therapie, um wieder Zugang zu ihren Gefühlen zu finden. Sie müssen wieder lernen, wütend zu sein und für sich einzustehen, anstatt mit psychosomatischen Beschwerden zu reagieren. Trauer zuzulassen, anstatt sich leer und abgestumpft zu fühlen. Ängste wahrzunehmen, auszudrücken und sich ihnen zu stellen, anstatt in einem diffusen Gefühl permanenter Sorge alles zu vermeiden, was mit Unsicherheiten behaftet ist. Erwachsene, die als Kind gelernt haben, Gefühle zuzulassen, wahrzunehmen, zu benennen und einzuordnen, haben es im Leben deutlich leichter als Menschen, die gelernt haben, ihre Gefühle zu unterdrücken, sich permanent abzulenken, oder die sich dafür schämen.
Je häufiger wir einander signalisieren, dass bestimmte Gefühle keinen Platz haben, desto mehr entfremden wir uns voneinander.
Damit Kinder das lernen können, benötigen sie Erwachsene, die zur Empathie fähig sind. Wenn Sie diese Kolumne lesen, gehören Sie wahrscheinlich zu den Müttern und Vätern, die es selbstverständlich finden, sich auf Kinder einzulassen und sich darum zu bemühen, sie zu verstehen. Aber uns allen fällt es manchmal schwer, die Gefühle unserer Kinder anzuerkennen – manchmal genau dann, wenn sie es am meisten bräuchten.
Ich will, dass du glücklich bist!
Leider sprechen wir bei Wut, Angst und Trauer noch immer von negativen Gefühlen. Kein Wunder, dass wir sie den Menschen, die wir lieben, am liebsten ersparen möchten. Dabei verhalten wir uns teilweise taktlos: Jemand ist gestorben und die Hinterbliebenen sehen sich gezwungen, ihre Trauer runterzuschlucken und zu lächeln, wenn sie Sätze hören wie «Kopf hoch!», «Man muss sich auf das Positive konzentrieren» oder «Er hatte ja ein langes und schönes Leben».
Glücklich werden wir nicht, wenn wir einen Teil unserer Erlebniswelt ausblenden. Sätze wie «Deswegen brauchst du doch nicht traurig zu sein», «Du musst gar nicht wütend werden! Jetzt komm wieder runter!» oder «Das muss dir keine Angst machen» blockieren lediglich den Ausdruck eines Gefühls. Sie machen das, was ein Kind fühlt, nicht ungeschehen. Aber sie führen das Kind in die Einsamkeit.
Wer als Kind gelernt hat, mit Gefühlen umzugehen, statt sie zu unterdrücken, hat es im Leben deutlich leichter.
Je häufiger wir einander signalisieren, dass bestimmte Gefühle keinen Platz haben, desto mehr entfremden wir uns voneinander. Als Eltern können wir uns sagen, dass unsere Kinder ein Recht auf all ihre Gefühle haben – auch die unangenehmen.
Und wir dürfen uns bewusst machen, dass Glück vor allem daher rührt, dass wir in schwierigen Momenten Menschen an unserer Seite wissen, die sich auf uns einlassen und bei uns sind. Wenn Kinder erfahren, dass sie auch mit schwierigen Gefühlen willkommen sind und angenommen werden, gelingt es ihnen immer besser, mit Angst, Wut und Trauer umzugehen.
Ich will mich nicht schuldig fühlen
Auch Eltern, die sonst sehr einfühlsam reagieren, können Gefühle ihres Kindes zum Teil dann nicht aushalten, wenn diese bei ihnen Schuldgefühle erzeugen. Vielleicht war die Scheidung für die Eltern die richtige Entscheidung und sie haben viele gute Gründe für diesen Schritt.
Das Kind wird trotzdem darunter leiden. Wahrscheinlich ist es traurig, dass die Eltern nicht mehr zusammen sind, vielleicht hat es Angst, dass es auch verlassen wird, oder ist wütend, dass seine Eltern es nicht geschafft haben, ihre Konflikte zu lösen.
Oder die Eltern haben für sich gute Gründe gefunden, um mehr zu arbeiten und ihr Kind häufiger extern betreuen zu lassen. Das Kind kann trotzdem traurig sein, weil es die Eltern vermisst, wütend, weil es sich abgeschoben fühlt, müde und erschöpft, weil es am Mittagstisch und in der ausserschulischen Betreuung zu wenig Rückzugsmöglichkeiten findet.
Gerade in solchen Situationen empfinden Eltern die Gefühle ihrer Kinder oft als Kritik an ihrer Lebensführung. Um Schuldgefühle abzuwehren, begründen sie ihre Entscheidung dem Kind gegenüber: «Wir haben uns doch sowieso nur noch gestritten. So ist es besser für alle.» Oder: «Wir nehmen uns dafür am Wochenende Zeit und machen etwas Schönes.»
Doch damit signalisieren sie dem Kind: Deine Gefühle sind für uns eine Belastung. Sie sind nicht angemessen und wir erwarten von dir, dass du dich anders fühlst. Kinder reagieren teilweise sehr feinfühlig auf diese Signale. Sie hören auf, den Eltern ihre Gefühle anzuvertrauen. Vielleicht ziehen sie sich zurück, werden aggressiv oder suchen Trost und Verständnis bei Freunden oder anderen Erwachsenen.
Je häufiger wir einander signalisieren, dass bestimmte Gefühle keinen Platz haben, desto mehr entfremden wir uns voneinander.
In solchen Situationen ist es wichtig, dass wir als Eltern zwischen den Gefühlen des Kindes und unseren Begründungen für unser Handeln unterscheiden. Wir können uns beispielsweise selbst verdeutlichen: Es war richtig, sich zu trennen – und unser Kind darf sich deswegen traurig, verunsichert und zornig fühlen.
Wenn wir aufhören, die Gefühle des Kindes zu bekämpfen, und stattdessen annehmen, was es fühlt, entsteht wieder Nähe. Das löst nicht alle Probleme, aber es verhindert, dass sich das Kind mit seinen Sorgen alleine fühlt. Dazu reicht manchmal der einfache Satz: «Ich weiss, dass du es schwer hast.»
Manche Eltern sind ziemlich gute Problemlöser. Sie finden auf fast alles eine Antwort, für fast jedes Problem in ihrem Leben eine Lösung. Teilweise sind sie aber gerade deswegen ziemlich hilflos, wenn es für einmal einfach darum geht, gemeinsam etwas auszuhalten.
Ich weiss nicht, was ich tun soll
Rasch fallen dann Sätze wie «Es nützt ja nichts, darüber zu reden – wir können es eh nicht ändern» oder «Dafür weiss ich leider auch keine Lösung».
Es kann uns und unseren Kindern helfen, wenn wir den Druck von uns nehmen, für alles sofort eine Lösung finden zu müssen.
Manchmal hilft es uns bereits, wenn jemand sich mit uns zusammen hilflos fühlt oder uns sagt: Ich weiss gerade nicht, was ich für dich tun kann, aber ich bin da.