Wut, Angst und Trauer haben keinen Ausschaltknopf
Merken
Drucken

Wut, Angst und Trauer haben keinen Ausschaltknopf

Lesedauer: 4 Minuten

Manchmal sind uns die Gefühle unserer Kinder unangenehm, da wir nichts an der Situation ändern können, die sie auslöst. Das ist aber auch nicht immer nötig. Oft hilft es schon zuzuhören und da zu sein.

Text: Fabian Grolimund
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Viele Erwachsene gehen zur Therapie, um wieder Zugang zu ihren Gefühlen zu finden. Sie müssen wieder lernen, wütend zu sein und für sich einzustehen, anstatt mit psychosomatischen Beschwerden zu reagieren. Trauer zuzulassen, anstatt sich leer und abgestumpft zu fühlen. Ängste wahrzunehmen, auszudrücken und sich ihnen zu stellen, anstatt in einem diffusen Gefühl permanenter Sorge alles zu vermeiden, was mit Unsicherheiten behaftet ist.

Erwachsene, die als Kind gelernt haben, Gefühle zuzulassen, wahrzunehmen, zu benennen und einzuordnen, haben es im Leben deutlich leichter als Menschen, die gelernt haben, ihre Gefühle zu unterdrücken, sich permanent abzulenken, oder die sich dafür schämen.

Je häufiger wir einander signalisieren, dass bestimmte Gefühle keinen Platz haben, desto mehr entfremden wir uns voneinander.

Damit Kinder das lernen können, benötigen sie Erwachsene, die zur Empathie fähig sind. Wenn Sie diese Kolumne lesen, gehören Sie wahrscheinlich zu den Müttern und Vätern, die es selbstverständlich finden, sich auf Kinder einzulassen und sich darum zu bemühen, sie zu verstehen. Aber uns allen fällt es manchmal schwer, die Gefühle unserer Kinder anzuerkennen – manchmal genau dann, wenn sie es am meisten bräuchten.

Ich will, dass du glücklich bist!

Leider sprechen wir bei Wut, Angst und Trauer noch immer von negativen Gefühlen. Kein Wunder, dass wir sie den Menschen, die wir lieben, am liebsten ersparen möchten. Dabei verhalten wir uns teilweise taktlos: Jemand ist gestorben und die Hinterbliebenen sehen sich gezwungen, ihre Trauer runterzuschlucken und zu lächeln, wenn sie Sätze hören wie «Kopf hoch!», «Man muss sich auf das Positive konzentrieren» oder «Er hatte ja ein langes und schönes Leben».

Glücklich werden wir nicht, wenn wir einen Teil unserer Erlebniswelt ausblenden. Sätze wie «Deswegen brauchst du doch nicht traurig zu sein», «Du musst gar nicht wütend werden! Jetzt komm wieder runter!» oder «Das muss dir keine Angst machen» blockieren lediglich den Ausdruck eines Gefühls. Sie machen das, was ein Kind fühlt, nicht ungeschehen. Aber sie führen das Kind in die Einsamkeit.

Wer als Kind gelernt hat, mit Gefühlen umzugehen, statt sie zu unterdrücken, hat es im Leben deutlich leichter.

Je häufiger wir einander signalisieren, dass bestimmte Gefühle keinen Platz haben, desto mehr entfremden wir uns voneinander. Als Eltern können wir uns sagen, dass unsere Kinder ein Recht auf all ihre Gefühle haben – auch die unangenehmen.

Und wir dürfen uns bewusst machen, dass Glück vor allem daher rührt, dass wir in schwierigen Momenten Menschen an unserer Seite wissen, die sich auf uns einlassen und bei uns sind. Wenn Kinder erfahren, dass sie auch mit schwierigen Gefühlen willkommen sind und angenommen werden, gelingt es ihnen immer besser, mit Angst, Wut und Trauer umzugehen.

Ich will mich nicht schuldig fühlen

Auch Eltern, die sonst sehr einfühlsam reagieren, können Gefühle ihres Kindes zum Teil dann nicht aushalten, wenn diese bei ihnen Schuld­gefühle erzeugen. Vielleicht war die Scheidung für die Eltern die richtige Entscheidung und sie haben viele gute Gründe für diesen Schritt.

Das Kind wird trotzdem darunter leiden. Wahrscheinlich ist es traurig, dass die Eltern nicht mehr zusammen sind, vielleicht hat es Angst, dass es auch verlassen wird, oder ist wütend, dass seine Eltern es nicht geschafft haben, ihre Konflikte zu lösen.

Oder die Eltern haben für sich gute Gründe gefunden, um mehr zu arbeiten und ihr Kind häufiger extern betreuen zu lassen. Das Kind kann trotzdem traurig sein, weil es die Eltern vermisst, wütend, weil es sich abgeschoben fühlt, müde und erschöpft, weil es am Mittagstisch und in der ausserschulischen Betreuung zu wenig Rückzugsmöglichkeiten findet.

Gerade in solchen Situationen empfinden Eltern die Gefühle ihrer Kinder oft als Kritik an ihrer Lebensführung. Um Schuldgefühle abzuwehren, begründen sie ihre Entscheidung dem Kind gegenüber: «Wir haben uns doch sowieso nur noch gestritten. So ist es besser für alle.» Oder: «Wir nehmen uns dafür am Wochenende Zeit und machen etwas Schönes.»

Zwischen eigenen und anderen Gefühlen unterscheiden

Doch damit signalisieren sie dem Kind: Deine Gefühle sind für uns eine Belastung. Sie sind nicht angemessen und wir erwarten von dir, dass du dich anders fühlst. Kinder reagieren teilweise sehr feinfühlig auf diese Signale. Sie hören auf, den Eltern ihre Gefühle anzuvertrauen. Vielleicht ziehen sie sich zurück, werden aggressiv oder suchen Trost und Verständnis bei Freunden oder anderen Erwachsenen.

Je häufiger wir einander signalisieren, dass bestimmte Gefühle keinen Platz haben, desto mehr entfremden wir uns voneinander.

In solchen Situationen ist es wichtig, dass wir als Eltern zwischen den Gefühlen des Kindes und unseren Begründungen für unser Handeln unterscheiden. Wir können uns beispielsweise selbst verdeutlichen: Es war richtig, sich zu trennen – und unser Kind darf sich deswegen traurig, verunsichert und zornig fühlen. 

Wenn wir aufhören, die Gefühle des Kindes zu bekämpfen, und stattdessen annehmen, was es fühlt, entsteht wieder Nähe. Das löst nicht alle Probleme, aber es verhindert, dass sich das Kind mit seinen Sorgen alleine fühlt. Dazu reicht manchmal der einfache Satz: «Ich weiss, dass du es schwer hast.»

Manche Eltern sind ziemlich gute Problemlöser. Sie finden auf fast alles eine Antwort, für fast jedes Problem in ihrem Leben eine Lösung. Teilweise sind sie aber gerade deswegen ziemlich hilflos, wenn es für einmal einfach darum geht, gemeinsam etwas auszuhalten.

Ich weiss nicht, was ich tun soll

Rasch fallen dann Sätze wie «Es nützt ja nichts, darüber zu reden – wir können es eh nicht ändern» oder «Dafür weiss ich leider auch keine Lösung».

Es kann uns und unseren Kindern helfen, wenn wir den Druck von uns nehmen, für alles sofort eine Lösung finden zu müssen. Manchmal hilft es uns bereits, wenn jemand sich mit uns zusammen hilflos fühlt oder uns sagt: Ich weiss gerade nicht, was ich für dich tun kann, aber ich bin da.

Fabian Grolimund
ist Psychologe und Buchautor. Gemeinsam mit ­Stefanie Rietzler leitet er die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Er ist verheiratet, Vater eines Sohnes und einer Tochter und lebt mit seiner Familie in Fribourg.

Alle Artikel von Fabian Grolimund

Mehr zum Thema Gefühle

Autorin Sandra Konrad über die Beziehung zu den Eltern
Familienleben
«Ablösung ist ein Prozess, der ein ganzes Leben dauern kann»
Wer eine gesunde Beziehung zu seinen Eltern haben will, muss sich erst von ihnen lösen, sagt die Psychologin und Buchautorin Sandra Konrad.
Kindervelos von woom
Advertorial
Mehr Komfort, mehr Schutz, mehr Abenteuer mit woom
woom setzt mit dem woom GO Kindervelo und dem READY Helm neue Massstäbe in Sachen Sicherheit und Fahrspass. Passend dazu erscheint der Kindervelokorb POP in neuer Farbe.
Gefühl: Monatsinterview mit Claus Koch
Erziehung
«Unglücklich zu sein, ist ein kostbares Gefühl»
Psychologe Claus Koch erklärt, weshalb Unglücklichsein wichtig für die kindliche Entwicklung ist und wie Eltern darauf reagieren können.
Emotionen kochen hoch
Erziehung
Was tun, wenn die Emotionen hochkochen?
Manchmal kommen Eltern an ihre Grenzen. Ihr Kind macht sie so wütend, dass sie es am liebsten anschreien oder sogar ohrfeigen würden.
Wenn die Emotionen hochkochen: Mutter sitzt mit Tochter auf dem Sofa
Elternbildung
«Ich freue mich so auf sie, doch meine Tochter ist nur traurig»
Eine Mutter sucht Rat: Ihre sechsjährige Tochter hat bei den ­Übergaben vom Vater zu ihr auch ein Jahr nach der Trennung noch grosse Mühe.
Liam wünscht sich einen Autismusbgeleithund
Entwicklung
Ein Autismusbegleithund für Liam
Liam ist Autist, hat ADHS, eine Ernährungsstörung und eine Entwicklungsverzögerung. Sein grösster Wunsch ist es, einen Hund zu bekommen.
Wie geht ein Kleinkind mit Emotionen um?
Entwicklung
«Kleinkinder sind im Konflikt zwischen Nähe und Autonomie»
Wie können Eltern ihr Kind im Trotzalter dabei unterstützen, mit seinen starken Emotionen umzugehen? Braucht es Grenzen oder mehr Freiheit?
Nina, hochsensibel, neben ihrer Mutter.
Entwicklung
«In der Schule war es oft schwierig für Nina»
Nina, 12, ist hochsensibel und reagiert stark auf Reize und soziale Interaktionen. Der Umgang damit war für die ganze Familie ein Prozess.
Hochsensible Tochter umarmt ihre hochsensible Mutter
Entwicklung
«Wir nehmen Dinge anders wahr»
Erst als ihre Tochter Anabelle in den Kindergarten kommt, versteht Stephanie Hoppeler ihre eigene Hochsensibilität.
Hochsensibilität: Ein Kind zieht weissen, gehäkelten Pullover aus.
Entwicklung
Hochsensibilität: So empfindsam und so stark!
Bieten Eltern ihrem feinfühligen Kind das passende Umfeld, kann es sich gut entwickeln und seine Hochsensibilität als Stärke nutzen.
Lehrstelle finden: Lea Schefer
Berufswahl
Berufswahl: Wer ist wofür zuständig?
Viele Jugendliche haben Mühe, sich auf die Berufswahl einzulassen. Auch für Lea Schefer war es ein hürdenreicher Weg bis zur Lehrstelle.
Verzeihen: Vater fährt Sohn beim Wandern durchs Haar
Gesellschaft
Verzeihen ist mehr, als den Groll zu überwinden
Niemand kann uns so nachhaltig verletzen wie die eigenen Eltern. Wie können wir ihnen verzeihen? Und muss es überhaupt sein?
Ein Junge schaut missmutig auf seinen Vater, der seinem Sohn eine Moralpredigt hält.
Elternbildung
«Mein Sohn ist weinend aus dem Haus gerannt»
Ein Vater wird bei einem Konflikt mit seinem elfjährigen Sohn handgreiflich. Er fühlt sich hilflos und bittet den Elternnotruf um Rat.
Zweites Kindergartenjahr: Fast schon gross
Gesellschaft
Was ändert sich im zweiten Kindergartenjahr?
Nun gehört Ihr Kind bereits zu den Grossen im Kindergarten. Was das bedeutet und wie sich Kinder im zweiten Kindergartenjahr entwickeln.
Gespräch übers Gamen
Familienleben
Gamen nervt Sie nur? 7 Aha-Erlebnisse einer Mutter
Wissen Sie, für welches Game Ihr Kind gerade brennt und was es so interessant macht? Unsere Redaktorin fragte endlich nach und lernte viel.
24-04-gefühle-umgang-kindergarten-kiga-elternmagazin-stefanie-rietzler-fabian-grolimund-hk.png hg
Entwicklung
So lernt Ihr Kind, seine Gefühle zu regulieren
Erstes Kindergartenjahr: Wie Eltern ihr Kind dabei unterstützen können, Emotionen wie Wut, Freude oder Angst zu regulieren.
«Jedes Kind reagiert auf den Eintritt anders»
Entwicklung
Kindergarten: «Jedes Kind reagiert anders auf den Eintritt»
Der Übergang in den Kindergarten ist ein grosser Schritt. Diesen bewältigt jedes Kind in seinem Tempo und durchläuft verschiedene Phasen.
Psychologin Giulietta von Salis über den Umgang mit Gefühlen.
Erziehung
«Eltern trauen Kindern oft zu wenig zu»
Psychologin Giulietta von Salis plädiert dafür, Kinder alle Emotionen erfahren zu lassen und sich als Eltern den eigenen Gefühlen zu stellen.
Stefanie Rietzler
Blog
Wie Sie Ihr Kind durch seinen Gefühlssturm begleiten
Die eigenen Gefühle aushalten und regulieren zu können, müssen Kinder erst lernen. Eltern werden dabei häufig von drei Irrtümern blockiert.
Elternblog
Misox – oder die Geschichte von der entfesselten Drachenkönigin
Redaktorin Maria Ryser verarbeitet das Unwetter im Misox und nimmt uns mit auf eine innere Reise, die sie auch als Mutter wachsen liess.
Wenn Grosseltern sterben
Familienleben
Wenn Grossmami nicht mehr mag
Oft erleben Kinder bei den Grosseltern zum ersten Mal, dass ein Leben zu Ende geht. Wie sollen Eltern ihren Nachwuchs darauf vorbereiten?
Illustration von Lukas Linder, er ist Vater eines Sohnes und schreibt eine Kolumne für Fritz+Fränzi.
Elternblog
Warum tanzt er denn nicht?
Ausgerechnet am Tag seines grossen Theaterauftritts hat der Sohn unseres Kolumnisten Lukas Linder einen Ausschlag.
Werte an Schulen vermitteln
Lernen
Auf die Werte kommt es an
Eltern finden es wichtig, dass ihr Kind im Unterricht Werte wie Respekt, Toleranz oder Teamgeist lernt. Wie kann die Schule dies vermitteln?
Essstörungen: Mit diesen Tipps können Eltern vorbeugen
Ernährung
9 Tipps, um Essstörungen bei Kindern vorzubeugen
Zu einem gesunden Körperbild und einem entspannten Essverhalten können Eltern viel beitragen: 9 Tipps, um Essstörungen vorzubeugen.
Erziehung ohne Gewalt
Erziehung
«Wir müssen zu Krisenmanagern unseres Familienalltags werden»
Mütter und Väter seien heute hohen Anforderungen ausgesetzt, sagt Elternkursleiterin Stéphanie Bürgi-Dollet. So gelingt gewaltfreie Erziehung.