Wie gehen Eltern mit ihren Gefühlen um?
Der Alltag von Eltern gleicht einem Wechselbad der Gefühle. Freude, Angst, Wut, Stolz und Rührung folgen dicht aufeinander. Mit negativen Emotionen können Mütter und Väter oft schlecht umgehen. Dabei sind sie genauso wichtig wie die grossen Glücksmomente. Warum ist das so?
Beinahe hätte ich geweint. Vor Rührung, vor Stolz, auch aus Sorge. Da stand meine zehnjährige Tochter auf dem Bahnhofsvorplatz, auf dem Rücken trug sie meinen alten Backpacker-Rucksack mitsamt Iso-Matte und Schlafsack. Sie umarmte ihre Freundin, begrüsste die Leiter ihrer Ferienfreizeit, sprach andere Kinder aus der Gruppe an. Währenddessen wartete ich mit anderen Eltern am Rande, beobachtete die Szene.
Vorbei die Zeit, in der meine Tochter in ähnlichen Situationen nicht von meiner Seite gewichen war. In der sie ein wenig ängstlich meine Hand gegriffen und ich ein «Du schaffst das» geflüstert hatte. Wie gross, souverän und selbständig dieses Mädchen war! Und ich, ich war das Gegenteil einer lässigen Mutter, so viel war sicher. «Gar nicht cool, Mama», hätte meine Tochter wohl gesagt, wenn sie mich denn beachtet hätte.
Da ist dieser irrsinnige Drang, die Kinder zu beschützen. Die Sorge, ihnen könnte etwas zustossen. Und die Angst, als Eltern nicht zu genügen.
14 Tage würde meine Grosse weg sein. Keine ewig lange Zeit, aber ein Novum für uns. Es würde keine Anrufe zwischendurch geben, nur eine Nachricht, nachdem die Gruppe gut angekommen war. In meinem Bauch grummelte es, meine Augen wurden feucht.
«Schon hart», sagte plötzlich die Mutter neben mir. «Ich freue mich eigentlich für meinen Sohn, aber so lange waren wir noch nie getrennt.» Sie schniefte. Ihr Mann drückte den Sohn an sich, vielleicht einen Hauch zu lang. «Lass mal, Papa», motzte der. Wir Eltern lächelten uns an. Für einen kurzen Moment waren wir eine Art emotionale Solidargemeinschaft. Und es war einfach ein gutes Gefühl, mit diesem Gefühlswirrwarr nicht allein zu sein.
Wechselbad der Gefühle
So ist das halt mit den Kindern und diesen riesigen Gefühlen, die auf uns einstürzen mit dem Tag der Geburt. Die Bandbreite ist gross, oftmals grösser und auch anders, als man es erwartet hat. Der Ausdruck «Wechselbad der Gefühle» bekommt mit Kindern regelrecht eine neue Bedeutungsdimension.
Da ist dieser irrsinnige Drang, sie zu beschützen. Die Sorgen, ihnen könnte etwas zustossen. Und die Angst, als Eltern nicht zu genügen. Es gibt die pure Freude daran, sie heranwachsen zu sehen. Manchmal die Einsamkeit und den Frust, weil man keine Zeit mehr für ein Sozialleben hat. Auch das Befremden über manche Verhaltensweisen. Und natürlich ist da auch die Wut, wenn mal wieder nichts geht. Oder man zum gefühlt tausendsten Mal eine Frage, Bitte, Ermahnung geäussert hat.
«Nichts bringt mich so schnell auf die Palme wie meine Kinder. Nicht mal mein Mann», sagte neulich meine Nachbarin. Sie stand auf der Strasse neben mir, sichtbar erschöpft vom Wutanfall, mit dem sie gerade ihren Sohn empfangen hatte. Die Schule war um 13 Uhr zu Ende gewesen, der Schulweg ist keine zehn Minuten lang. Als ich meine Nachbarin auf dem Trottoir getroffen hatte, war es bereits 14 Uhr und der Drittklässler noch nicht aufgetaucht.
Erst hatte meine Nachbarin in der Wohnung gewartet, wo ihr jüngerer Sohn gerade schlief. Irgendwann war sie auf die Strasse gegangen, um Ausschau zu halten. Ja, der Bub trödelte gerne etwas. Aber so lange? «Die Ampeln funktionieren auf dem Weg doch alle. Nein, da sind keine schlecht einsehbaren Baustellen. Der kommt gleich, wirst sehen», versuchte ich sie zu beruhigen.
Als der Neunjährige eine Viertelstunde später fröhlich pfeifend um die Ecke bog, verwandelte sich die Mutter-Angst von einer Sekunde auf die andere in ein Mutter-Wut-Inferno und entlud sich gewaltig über dem verdutzten Jungen.
Nein, meine Nachbarin hat ihren Sohn nicht geohrfeigt, natürlich nicht, das käme ihr nicht in den Sinn. Aber man konnte ihr ansehen, dass sie gern gegen etwas geschlagen oder getreten hätte, um den inneren Druck loszuwerden.
Manchmal hilft nur Brüllen
Die Autorin Rike Drust beschreibt in ihrem Buch «Muttergefühle» ganz wunderbar die Dimensionen, die diese Aggression annehmen kann: «Eine Wand im Kinderzimmer hat einen Riss, den wir ‹Das Mahnmal› nennen. Ich hatte mich von meinem Kind so wütend machen lassen, dass ich nicht anders konnte, als mit voller Wucht dagegenzutreten. Vorher hatte ich alle anderen Tipps gegen elterliche Wut ausprobiert. Ich habe Kissen verprügelt und ihnen alle Milben aus der Füllung gebrüllt. Ich bin ins Nebenzimmer gegangen und habe bis zehn gezählt. Ich habe laut gesungen.»
Wenn all das nicht helfe, schreibt Drust, brülle sie ihren Nachwuchs an. So wie meine Nachbarin ihren Sohn. Glücklich sind beide darüber nicht. «Ich bin nicht immer so», sagte meine Nachbarin erschöpft, als ihre Wut ein wenig verraucht war. Aber ihr Sohn komme dauernd zu spät, alle Ermahnungen würden nicht helfen. «Wir sind alle manchmal so», erwiderte ich. Die Nachbarin seufzte. «Danke, das entspannt mich.» Dann ging sie nach Hause, um zu erklären, warum sie so ausgeflippt war.
Eltern empfinden sich als zu ungeduldig
Das Berliner Meinungsforschungsinstitut forsa hat Anfang des Jahres untersucht, welche Gefühle bei Eltern überwiegen, sobald das Kind auf der Welt ist. Fast 70 Prozent gaben an, sich in ihrer Rolle manchmal überfordert zu fühlen. 75 Prozent der Mütter zweifelten dabei an sich selbst und wussten nicht, ob sie den an sie gestellten Erwartungen entsprechen. 63 Prozent der Väter teilten dieses Gefühl.
Sie alle fühlten sich zu ungeduldig, zu wenig zugewandt, zu ängstlich, zu unorganisiert. Eine vergleichbare Studie der internationalen Babysitter-Plattform Sitly hat ergeben, dass sich 44 Prozent der Väter und Mütter in der Schweiz permanent gestresst fühlen.
Die meisten Eltern wissen, dass ihre Erwartungen an sich selbst unrealistisch sind. Trotzdem fühlen sich viele in ihrer Rolle überfordert.
Das Paradoxe an diesen Zweifeln ist, dass die meisten Eltern eigentlich wissen, dass ihre Erwartungen an sich selbst unrealistisch sind. Wird darüber vielleicht nicht offen genug kommuniziert? Rike Drust hat ihrem Buch auch deshalb den Untertitel «Gesamtausgabe» gegeben, weil sie dort über die gesammelten Gefühle redet, die Elternschaft ausmachen.
Natürlich ist Elternalltag gefüllt mit Liebeseuphorie-Momenten. Ein milchzahnloses Lächeln, ein feuchter Kuss oder auch der Anblick der schlafenden Kinder können vorher unbekannte Glücksgefühle auslösen. Darüber tauschen sich alle Mütter und Väter gerne aus.
Dass Elterngefühle oft widersprüchlich sind und auf grosses Glück ganz schnell Frustration folgen kann, gestehen sich viele nicht zu. Unzählige Gespräche in meinem Freundeskreis spiegeln das: Sie beginnen damit, dass ein Elternteil von einem Konflikt erzählt. Von Übermüdung zum Beispiel, weil ein Schulanfänger plötzlich nicht mehr allein schlafen will. Von der Gereiztheit, weil bestimmte Alltagsabläufe nie reibungslos funktionieren. Oder auch von der grossen Langeweile, weil man jeden Nachmittag auf dem Spielplatz verbringt.
Kinder sind in ihrem Verhalten unmittelbar und intensiv. Sie sind geballte Gefühlspakete, die in unser Leben knallen.
Immer folgt in diesen Gesprächen nach kurzer Zeit die Entschuldigung für die vermeintlich unangebrachten Gefühle. «Ich weiss, ich sollte nicht klagen», heisst es. «Das Kind ist gesund. Es ist nur eine Phase, das gehört dazu.»
Kinder kitzeln Gefühle wach
Eine Erklärung dafür hat Vivian Dittmar, Autorin und Gründerin der Stiftung Be the Change. «Wir haben in einem langjährigen Prozess, den man gemeinhin Erziehung oder Sozialisation nennt, gelernt, unsere Gefühle in Schach zu halten, zu zensieren und auch zu unterdrücken», schreibt sie in ihrem Buch «Kleine Gefühlskunde für Eltern». Kinder lassen dieses Kontrollsystem zusammenbrechen, weil sie in ihrem Verhalten selbst so unmittelbar und intensiv sind.
Sie sind geballte Gefühlspakete, die in unser Leben knallen. «All das, was wir über Jahre verdrängt und zugedeckt haben, manchmal schon seit der ganz frühen Kindheit, wird nun wachgekitzelt und drängt mit grosser Wucht an die Oberfläche.» In vielen Familien beginnt damit ein Kampf, je nachdem, wie laut und emotional ein Kind seine Gefühle auslebt, und je nachdem, wie heftig Vater und Mutter darauf reagieren.
Negative Emotionen werden von Eltern oft möglichst schnell unterbunden, ignoriert oder verleugnet. Dabei verraten sie einiges über einen selbst.
«Eltern ist es oft einfach unangenehm, schwierige Emotionen zu erfahren, sei es bei ihren Kindern oder bei sich selbst», lautet die Einschätzung von Irina Kammerer. Die Psychologin leitet den Bereich Beratung und Therapie für Kinder, Jugendliche und Familien am Psychotherapeutischen Zentrum des Psychologischen Instituts der Universität Zürich. «Mütter und Väter können dann dazu tendieren, dass sie diese negativen Emotionen möglichst schnell unterbinden, ignorieren oder verleugnen wollen.»
Genaueres Hinsehen lohnt sich allerdings. Denn die ungeliebten Gefühle verraten einiges über die Eltern selbst – auch wenn sie die Ausbrüche im Alltag oft den Kindern anlasten. Zu Caroline Märki kommen Familien, die, wie sie sagt, «am Anschlag sind und nicht weiterwissen». Die Eltern- und Erwachsenenbildnerin leitet seit zehn Jahren die Schweizer Zentrale der Familienberatungsstelle Familylab.
Die Gespräche, die sie dort führt, beginnen häufig mit der Annahme, dass mit dem Kind etwas nicht stimme, dass es vielleicht emotionale Regulationsprobleme habe oder falsch erzogen werde. Es sei so aggressiv, heisst es oft. «Ich lenke dann das Thema zunächst auf die Eltern und frage sie, was bestimmte Situationen bei ihnen auslösen. Wie geht es ihnen damit? Und warum?»
Viele Eltern seien mit dem Blick zu sehr beim Kind, zu wenig bei den eigenen Emotionen. Sie achteten gar nicht darauf, was für Prozesse sich in ihrem Inneren abspielten. Die Familienberaterin schlüsselt dann mit ihnen auf, warum sie sich irgendwann von den eigenen Gefühlen derart übermannt fühlen. Das ist der erste Schritt zu einer Entspannung der emotionalen Lage.
«Ich habe grosse Angst», habe ich vor Kurzem zu unserer Erzieherin gesagt, als wir ein Entwicklungsgespräch über meinen fünfjährigen Sohn hatten. Der Satz fiel mir nicht ganz leicht, weil er meinem eigenen Selbstbild nicht entsprach. Eine ängstliche Mutter ist eine, die ihre Kinder bremst. Die ihren Kindern mitgibt, dass man sich vor dem Leben fürchten muss. Wer will das schon?
Ich hatte meinen Sohn zum dritten Mal vom Schwimmbad-Ausflug abgemeldet: mal wegen einer Erkältung, mal wegen Müdigkeit, dann hatte ich die Badesachen vergessen. Die Pädagogin fragte: «Möchtest du vielleicht nicht, dass dein Sohn mitkommt?» Ich erzählte von dem Schwimmunfall, den meine Grosse mit sieben Jahren gehabt hatte. Ich hatte ihr erlaubt, mit einer befreundeten Familie an einen See zu fahren.
Am Ende des Tages kam sie nur deshalb wohlbehalten zu mir zurück, weil ein Rettungsschwimmer sie noch rechtzeitig aus dem Wasser gezogen hatte. Die Angst sass tief. Aber schon in dem Moment, in dem ich sie ansprach, hatte sie von ihrer Macht verloren.
Eltern sollen ihren Gefühlen Platz machen
Die Erzieherin versprach mir, meinen Sohn nicht aus den Augen zu lassen. «Du kannst mir vertrauen», sagte sie. Und das tat ich dann.
«Es ist wichtig, dass Eltern ihren Gefühlen Platz machen und auch den Kindern erklären, was ihnen Angst macht oder weshalb sie wütend sind», sagt Psychologin Irina Kammerer. Eltern sollen authentisch sein. Sich selbst zuliebe, aber auch damit ihr kindliches Gegenüber begreift, was Mutter und Vater bewegt.
«Authentisch zu sein, bedeutet aber nicht, alle Emotionen zu 100 Prozent ungefiltert herauszulassen.» Statt «Das macht mich wahnsinnig wütend» oder «Deshalb bin ich traurig», zu sagen, werde häufig das Kind als Person abgewertet, manchmal auch beschimpft. «Sei nicht so blöd», «Du bist rücksichtslos», «Nie bekommst du es hin, dich normal zu benehmen» sind Beispiele für die verbalen Angriffe.
Irina Kammerer ist selbst Mutter von vier Kindern. Sie weiss, dass es Kraft und viel Reflexionsvermögen kosten kann, sich in manchen Situationen zurückzunehmen und mehr zu erklären als zu meckern. «Man kann so ein Gespräch auch verschieben und beispielsweise sagen: ‹Da geraten wir immer wieder aneinander, das müssen wir mal in Ruhe besprechen.›»
Experten raten: Eltern sollten authentisch sein. Sich selbst, aber auch ihren Kindern zuliebe.
Rike Drust beschreibt in «Muttergefühle», dass ihr das nicht immer gelingt und sie ab und an rumbrüllt. «Danach entschuldige ich mich und erkläre, warum ich so sauer war. Meine letzte Frage ist: Sind wir wieder Freunde? Danach drücken wir uns und fangen wieder von vorne an.»
Dass Eltern ihre Gefühle verbalisieren, ist auch deshalb sinnvoll, weil Kinder dadurch Zugang zu ihren eigenen Gemütszuständen bekommen. Caroline Märki vom Familylab kommt selbst aus einer Familie, in der kaum über Emotionen gesprochen wurde. Ihre drei Kinder sind inzwischen schon beinahe erwachsen.
Aber die 48-Jährige erinnert sich noch gut an eine Spielplatzszene, in der ihr als junger Mutter dieser Mangel aufgefallen war. Sie beobachtete ein anderes Kind, das sich wehgetan hatte und daraufhin ganz genau erklären konnte, warum es traurig und auch wütend war.
«Ich war so überrascht, wie gut dieses Mädchen seine Gefühle benennen konnte. Ich bin in einen Buchladen gerannt und habe einen Ratgeber gekauft, der meiner Tochter das auch beibringen sollte. Aber das hat natürlich so nicht funktioniert. Weil ich selbst nicht bei meinen Gefühlen war. Ich musste erst lernen, das vorzuleben.»
Eltern sollten ihre Gefühle verbalisieren. Menschen, die mit ihren Gefühlen konstruktiv umgehen, haben es leichter im Alltag.
Heute bringt Caroline Märki anderen bei: Erwachsene, die mit ihren Gefühlen konstruktiv umgehen können, haben es leichter im Alltag. Sie müssen sich nicht permanent dem inneren Druck beugen, einem bestimmten Bild zu entsprechen. Kindern, die in einem emotional offenen Familienklima aufwachsen, fällt es leichter, sich selbst in allen Facetten zu mögen und anderen mit grösserer Offenheit zu begegnen.
Tränen in der Öffentlichkeit sind mir persönlich trotzdem unangenehm. Als ich mich von meiner Tochter auf dem Bahnsteig verabschiedete und ihr eine gute Ferienzeit wünschte, lächelte ich. Weil das die Tränen zurückdrückte. Meine Tochter sollte doch nicht merken, dass mir ein wenig bang ums Herz war. Sie sollte fühlen, dass ich ihr das zutraute! Meine Grosse blickte mich prüfend an, umarmte mich, sagte «Du schaffst das schon, Mama». Und weg war sie. Ich habe dann doch kurz geschnieft. Aber nicht aus Angst. Nur vor Rührung.