Gute Geheimnisse, schlechte Geheimnisse
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Gute Geheimnisse, schlechte Geheimnisse

Lesedauer: 5 Minuten

Was macht ein gutes und was ein schlechtes Geheimnis aus? Wie Eltern ihr Kind dabei unterstützen können, die beiden Arten zu unterscheiden.

Text: Debora Silfverberg
Bild: Adobe Stock

Geheimnisse sind Teil des Kindseins und meist aufregend und lustig. Sie helfen dabei, sich von Eltern abzugrenzen, sich mit Freunden zu verbünden und einen Sinn für die eigene Identität zu entwickeln. Deshalb sollten sie auch respektiert werden. Gleichzeitig brauchen Kinder und Jugendliche die Gewissheit, dass ein bedrückendes oder beängstigendes Geheimnis immer erzählt werden darf. 

Die Erziehungswissenschaftlerin Renate Valtin hat sich ausführlich damit befasst, was Kinder über Geheimnisse, Petzen und Strafen denken und ihre Forschungsergebnisse zusammengefasst. Wir wissen zum Beispiel, dass Kinder mit zirka fünf Jahren die Grenze zwischen sich selbst und anderen bewusst entdecken. Ab diesem Alter begreifen sie, dass sie über eine eigene innere Welt verfügen, die anderen verborgen ist. Erst dann können Kinder auch verstehen, dass sie bewusst etwas geheim halten können.

Über gute Geheimnisse

Kinder müssen erst lernen, was ein Geheimnis überhaupt ist. Ein Klassiker wäre die Geburtstagsüberraschung für Mama oder Papa. Diese ist so aufregend, schön und kribbelig, dass schnell aus Versehen etwas verraten wird. Für kleine Kinder sind Geheimnisse vorwiegend positiv, so Valtin.

Primarschulkinder lernen, dass es für eine Freundschaft wichtig sein kann, ein Geheimnis zu behalten. Sieben- bis Achtjährige erwarten von einem guten Freund oder einer guten Freundin, dass persönliche Dinge offenbart werden können im Vertrauen, dass diese nicht weitererzählt werden. Sei es ein heimlicher Schwarm in der Klasse oder wenn sich jemand vor lauter Lachen in die Hose gepinkelt hat. 

Andere positive Geheimnisse manifestieren sich unter Kindern in Geheimsprachen, -schriften und -orten, die durch Erwachsene und Aussenseiter nicht entschlüsselt oder entdeckt werden sollen. Geheimnisse von anderen bewahren zu können, ist eine wichtige Kompetenz und verwandt mit sozialem Lügen.

Auch Jugendliche haben gute Geheimnisse untereinander. Sei es, sich über erste sexuelle Erfahrungen auszutauschen oder eine Schulstunde zu schwänzen, um stattdessen Eis essen zu gehen. Solche Heimlichkeiten salzen das Leben und stärken jugendliche Beziehungen.

Über schlechte Geheimnisse

Was aber, wenn das Geheimnis einer Freundin oder eines Freundes nicht lustig ist, sondern belastend? Was wenn das Kind selbst einen Übergriff oder eine Machtausübung erfahren hat, durch eine körperlich oder emotional überlegene Person? Was wenn ein Kind Mitwisser einer kriminellen Handlung ist, die nicht als Kleinigkeit abgetan werden kann?

Verschwiegene Geheimnisse können zu depressiven Stimmungen, Angstzuständen oder schlechtem Selbstwertgefühl führen.

Bei einem schlechten Geheimnis denken viele sofort an sexuellen Missbrauch. Es gibt auch andere Geheimnisse, die Kinder oder Jugendliche im Alltag belasten können. Das kann ein älteres Kind sein, das Geld oder etwas anderes verlangt und mit Schlimmem droht, falls es den Eltern davon erzählt oder nicht spurt. Es kann auch eine Freundin sein, die regelmässig Ladendiebstahl begeht, oder ein Freund, der Drogen oder illegale Pornografie konsumiert. Vielleicht ist es ein Elternteil, das an Suchtproblemen oder einer psychischen Erkrankung leidet.

Kurz gesagt, schlechte Geheimnisse sind ungesund. Eine Studie der Universität Utrecht fand heraus, dass Geheimnisse das Wohlbefinden von Jugendlichen negativ beeinflussen können. Verschwiegene Geheimnisse können zu depressiven Stimmungen, Angstzuständen, schlechtem Selbstwertgefühl, Einsamkeit und Beziehungsproblemen führen.

Gute und schlechte Geheimnisse
Kindergerecht erklärt:
  • Gute Geheimnisse fühlen sich schön, lustig und gut an. Sie sind meist von kurzer Dauer (Beispiel Geburtstagsüberraschung).
  • Schlechte Geheimnisse sind bedrückend, machen dich schwer und fühlen sich schlecht an. Sie dauern oft über längere Zeit an.
  • Ein schlechtes Geheimnis zu erzählen macht dich leichter. Es zu verraten ist niemals «Petzen».
  • «Wenn es gut ist, bleibts bei mir, wenn es schlecht ist, sag ich’s dir!» aus dem Geheimnis-Song für «Psst! Gute und schlechte Geheimnisse», Harper Colins

Petzen und Strafen

«Petzen» ist ein negativ gefärbtes Wort, das mit «Verrat» verwandt ist. Was Kinder darunter verstehen, ändert sich mit dem Alter.

Für ihre Studie hat Renate Valtin Kinder zu einem fiktiven Fall befragt: Ein Junge erzählt seinem Freund, dass er Geld aus dem Portemonnaie seiner Mutter gestohlen hat, um Eis zu kaufen. Die Befragung ergab, dass fünf- bis sechsjährige Kinder sich eher für Offenheit gegenüber den Eltern aussprechen. Sie sehen diese als moralische Autorität. Bei Zehn- bis Zwölfjährigen überwiegt die Geheimhaltung. Sie begründen dies mit der Furcht vor Bestrafung des Freundes.

Die meisten älteren Kinder geben in ihren Antworten auch zu verstehen, dass sie den Fehltritt missbilligen. Die Loyalität hat in der Freundschaft jedoch Vorrang. Es ist daher nicht immer einfach einzuschätzen, ob ein Geheimnis zu erzählen Petzen ist oder nicht.

Kinder und Jugendliche wenden sich oft an Gleichaltrige, wenn es um Tabus, gesetzwidrige Handlungen oder unangenehme Erfahrungen geht. Scham, Angst vor negativen Folgen und Loyalitätskonflikte halten sie davon ab, mit erwachsenen Bezugspersonen zu sprechen. Es geht darum, vermeintliche unangenehme Konsequenzen zu umgehen oder jemanden davor zu schützen. 

Umfragen unter Kindern von Renate Valtin unterstützen die Vermutung, dass es eine Verbindung gibt zwischen der Art, wie sie bestraft werden, und ihrer Offenheit, Fehler zuzugeben. Kinder, die explizit von strengen verbalen und auch körperlichen Strafen sprachen wie «Ausmeckern», «Kloppe», «Dresche» oder «Hintern vollkriegen», wollten häufiger ihre Ausrutscher vor den Eltern verheimlichen. Kinder, die von «Ärger kriegen» oder undifferenzierten Strafen sprachen, sowie die jüngeren Kinder plädierten häufiger für Offenheit gegenüber Eltern.

Das Teilen von Geheimnissen

Kürzlich erzählte ein befreundeter Jugendlicher meinen Töchtern mehrmals, dass er darüber nachdenke, sich das Leben zu nehmen. Mit seinen Eltern oder anderen Erwachsenen wolle er aber auf gar keinen Fall darüber reden. 

Sie wussten zwar, dass der Junge oft mit Geschichten Aufmerksamkeit auf sich zieht, trotzdem waren sie besorgt und verunsichert und erzählten uns davon. Gemeinsam dachten wir darüber nach, wie sie sich von dieser Bürde befreien könnten.

Sie teilten ihrem Freund mit, dass es ihnen Sorgen bereitet, wenn er über Suizid redet. Falls er dies weiterhin tue und sich keine Hilfe hole, würden sich die Mädchen an eine erwachsene Person wenden. Seither ist das Thema vom Tisch. 

Wenn sich ein Kind oder Jugendlicher mit einem Geheimnis an eine erwachsene Bezugsperson wendet, heisst das nicht immer, dass diese etwas tun muss. Darüber zu sprechen, kann bereits reichen, eine Lösung zu finden oder sich nicht mehr überfordert zu fühlen. Für das Wohlbefinden macht es einen grossen Unterschied, ob es sich um ein «privates» Geheimnis handelt, das man alleine für sich trägt, oder um ein geteiltes unter mehreren Personen.

Studien unter niederländischen Jugendlichen haben gezeigt, dass das Teilen eines Geheimnisses zu einer höheren Qualität in der Beziehung zur Vertrauensperson führt. Das können Eltern, aber auch gute Freunde sein. Jugendliche, die Geheimisse mit ihren Eltern teilten, wurden weniger oft straffällig. Das Teilen von Geheimnissen mit einem besten Freund konnte mit weniger Einsamkeit und grösserer zwischenmenschlicher Kompetenz in Verbindung gebracht werden.

5 Tipps, wie man mit schlechten Geheimnissen umgehen kann

Es gibt einiges, das Eltern tun können, um Kindern und auch sich selbst im Umgang mit schlechten Geheimnissen zu helfen:

1. Loben anstatt schimpfen

Wenn ein Kind etwas beichtet, das es ausgefressen hat – ein paarmal tief ein- und ausatmen und nicht gleich schimpfen. Loben sie es, dass es ehrlich gewesen ist. Kinder, die lernen, dass es besser ist, einen Fehler oder ein Missgeschick zuzugeben, als es zu verheimlichen, haben es leichter, sich von schlechten Geheimnissen zu befreien.

2. Nicht vorschnell handeln

Wenn ihr Kind ein unangenehmes Geheimnis von einem anderen Kind oder Jugendlichen verrät, handeln Sie nicht vorschnell. Überlegen Sie sich, ob das Kind selber eine Lösung finden kann oder ob Sie jemanden informieren wollen. Zum Beispiel die Eltern, die Schule, die Polizei oder die KESB. Besprechen Sie auf jeden Fall mit Ihrem Kind, wie sie vorgehen, damit es nicht in einen unnötigen Loyalitätskonflikt gerät oder eine unerwartete Gegenreaktion zu spüren bekommt.

3. Mit dem Kind reden

Sprechen Sie mit Ihrem Kind über gute und schlechte Geheimnisse. Sie können gemeinsam überlegen, welche Geheimnisse geheim bleiben dürfen und welche erzählt werden sollten. Die österreichische Kinderschutzorganisation «Die Möwe»  stellt dafür hilfreiche Beispiele zur Verfügung.

4. Hilfe holen

Auch Eltern und Fachpersonen dürfen sich Hilfe holen, um zu überlegen, wie mit einem schlechten Geheimnis umgegangen werden soll. Gerade wenn verwandte oder befreundete Personen involviert sind, kann eine Aussenperspektive helfen. 

5. Einen Fall melden

Es gibt Geheimnisse, die den Kinderschutz betreffen. Auch Eltern dürfen eine Gefährdungsmeldung bei der KESB aufgeben, wenn sie sich Sorgen um ein Kind oder eine Familie machen. «Jede Person kann der Kindesschutzbehörde Meldung erstatten, wenn die körperliche, psychische oder sexuelle Integrität eines Kindes gefährdet erscheint» (Art. 314c Abs. 1 ZGB).

Debora Silfverberg
hat viele Jahre als Fach- und Leitungsperson in der Familien- und Sozialpsychiatrie gearbeitet. Seit 2020 ist sie mit ihrem Mann und den beiden Töchtern in verschiedenen Ländern Europas unterwegs und schreibt als freie Journalistin und Autorin über gesellschaftliche Themen.

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