Denk an die Kondome!
Das Kind ist zum ersten Mal verliebt. Wie fühlt sich das für Mutter und Vater an? Wie sollten sich Eltern idealerweise verhalten? Und was tunlichst unterlassen? Zwei Expertinnen geben Tipps.
Plötzlich steht da dieser junge Mann in der Tür. «Mama, Papa, das ist Luca, darf er heute bei mir schlafen?», fragt die 15-jährige Tochter. Dann zieht sie den verlegen grinsenden Jungen, ohne die Antwort abzuwarten, ins Kinderzimmer. Dort, wo das Kind gefühlt erst gestern noch Playmobilwelten aufgebaut hat. Die Eltern blicken sich ratlos an. «Und jetzt?», fragt der Vater. «Ich habe keine Ahnung», sagt die Mutter. «Aber offensichtlich ist sie verliebt.»
Verlieben kann man sich in jedem Alter. Bereits Kindergartenkinder entwickeln manchmal eine grosse Zuneigung füreinander, empfinden den Wunsch nach Nähe und möchten mit dem ausgewählten Kind, das sie sehr toll finden, viel gemeinsame Zeit verbringen. «Mit der Pubertät setzt dann die Hormonumstellung im Körper ein und das Liebesobjekt wird zunehmend auch sexuell interessanter», sagt Yvette Plambeck, Frauenärztin und Sexualtherapeutin am Zentrum für Interdisziplinäre Sexologie und Medizin Zismed in Zürich.
Etwa 16 Jahre alt sind Jugendliche in der Schweiz bei ihren ersten sexuellen Kontakten. Ihr echtes erstes Mal erleben sie etwa ein Jahr später. Dies ergab die Online-Befragung «Sexual health and behavior of young people in Switzerland» der Universitätsspitäler Zürich und Lausanne im Jahr 2017.
Ist der Nachwuchs ernsthaft verliebt, fällt das meistens auf: Wenn Hobbys beispielsweise plötzlich nicht mehr so wichtig sind, dafür die eigene Körperpflege. Wenn die Kommunikation mit einer bestimmten Person immens zunimmt und der Nachwuchs nur noch am Chatten und Telefonieren ist. Oder wenn Sohn oder Tochter vielleicht dünnhäutiger und reizbarer sind – weil sie diese ganzen neuen Gefühle nur schwer einordnen können.
Mutter und Vater werden entthront
Doch auch bei den Eltern kann die erste Liebe des Nachwuchses starke Gefühle auslösen. Schliesslich müssen sie genau dann loslassen, wenn es das Kind auch tut. Waren sie bis eben noch das Liebesobjekt des Sohnes beziehungsweise der Tochter, werden sie plötzlich entthront. «Das kann verunsichern», sagt Andrea Kramer, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin sowie Dozentin am Institut für Angewandte Psychologie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).
Denn es verdeutlicht auch einen anstehenden Generationenwechsel: «Mit einem Mal fühlte ich mich 20 Jahre älter», erzählt die Mutter einer 17-Jährigen. «Meine Tochter war doch gerade erst geboren – schwups, da stand der erste potenzielle Schwiegersohn in der Wohnung. Und ich durfte bloss keine Fragen stellen, musste cool sein, den Auserwählten als Familienmitglied in die Sippe aufnehmen. Und so tun, als wäre die ewige Liebe besiegelt und ich total entspannt.»
Fakt ist: Vor schmerzlichen Liebeserfahrungen können wir unseren Nachwuchs nicht schützen.
Wie Mutter oder Vater das erste Verliebtsein ihres Kindes erleben, hängt sehr davon ab, welche Assoziationen sie selbst damit verbinden. «Hat man gute Erinnerungen an seine erste Liebe, schwingt oft Freude und Stolz mit, weil es ein weiterer Entwicklungsschritt ist, den das Kind da zurücklegt», so Kramer. Hat man hingegen selbst eher schwierige Erinnerungen an diese Zeit, löst es vordergründig eher Sorgen aus. «Wichtig ist, seine eigenen Gefühle nicht auf das Kind zu projizieren und sich klar zu werden: Haben diese Gefühle mit mir zu tun oder mit meinem Kind?»
Keine Verbote aussprechen
Fakt ist: Vor schmerzlichen Liebeserfahrungen können wir unseren Nachwuchs nicht schützen, auch wenn das elterliche Bedürfnis gross ist, die eigenen Erfahrungen weiterzugeben. «Bis zu einem gewissen Grad ist das zwar okay – wenn die oder der Jugendliche das möchte», findet Kramer. «Aber gerade bei der ersten Liebe gilt es auch die Privatsphäre des Kindes zu respektieren – und ihm zuzutrauen, seine eigenen Erfahrungen zu machen.» Denn auch das gehört zum Ablöseprozess.
Schwierig findet es die Psychologin, wenn Eltern aus dem Reflex «Ich will mein Kind schützen» Verbote aussprechen. «Diese bewirken in der Regel nur das Gegenteil: Die Jugendlichen treffen sich dann heimlich und Eltern haben gar keinen Einblick mehr.»
Mit Kindern über Sexualität zu sprechen, ist dabei zentral, findet Frauenärztin Plambeck. Und zwar nicht erst, wenn der Nachwuchs zum ersten Mal Schmetterlinge im Bauch hat und Eltern nicht mehr die wichtigste Vertrauensperson sind – sondern viel, viel früher. «Wer sich von klein auf bei diesem Thema gesprächsbereit zeigt und schon immer signalisiert: ‹Du kannst auch mit Fragen über Sex und Liebe zu mir kommen!›, hat es mit pubertierendem Nachwuchs leichter.» Gleichzeitig müssen Mutter und Vater aber auch respektieren, wenn Sohn oder Tochter sie bei diesem Thema nicht (mehr) als Gesprächspartner wollen.
Wie aber reagieren Eltern am besten, wenn das junge Paar gemeinsam bei einem von beiden übernachten möchte? «Gelassen bleiben», findet Andrea Kramer. «Zusammen übernachten ist nicht unbedingt mit Sex verbunden, sondern eher mit Nähe. Wir sollten aufpassen, da nicht unsere eigenen Vorstellungen dem Nachwuchs überzustülpen.»
Vor allem Töchtern gilt es zu vermitteln, dass sie für ihre sexuelle Gesundheit selbst Verantwortung übernehmen müssen.
Gleichzeitig sei es wichtig, das Gespräch zu suchen und gewisse Abmachungen zu treffen, damit die Familiendynamik in der Balance bleibt. «Ich möchte zum Beispiel wissen, wer bei uns übernachtet, wem ich am Morgen begegne oder ob meine Töchter nach Hause kommen», sagt die Psychologin, die Mutter von einer 19- und einer 17-jährigen Tochter ist.
«Schleicht da jemand einfach durch die Wohnung und stellt sich nicht vor, geht das für mich gar nicht», findet Sexualtherapeutin Plambeck, die zwei erwachsene Kinder hat. Auch Dinge wie «Wer benutzt wann das Bad?» oder «Wie bekleidet läuft man rum?» lohnt es sich, vorher gemeinsam zu klären.
Über Verhütung sprechen
Unbedingt ansprechen sollten Eltern ausserdem das Thema Verhütung. Vor allem Töchtern gelte es zu vermitteln, dass sie für ihre sexuelle Gesundheit selbst Verantwortung übernehmen müssen. In ihrer beruflichen Praxis stellt Plambeck immer wieder fest: Die Führung wird nach wie vor oft den Jungen übertragen, auch von Mädchen. «Diese denken meist: Der Junge wird schon Kondome dabeihaben».
Was hilft? Eine unverkrampfte Einstellung von Elternseite – auch, um zu verhindern, dass sich Jugendliche Verhütungsmittel heimlich kaufen müssen. Am besten übernehmen dies sowieso Mutter und Vater, schlägt die Sexualtherapeutin vor, begleitet von der Ansage: «Hier liegen übrigens Kondome, gleich neben den Taschentüchern, ihr könnt euch bei Bedarf bedienen!»
Plambeck empfiehlt in ihrer Sprechstunde den jugendlichen Frauen, grundsätzlich Kondome bei sich zu haben, vor allem wenn sie ausgehen. Damit diese im entscheidenden Moment zur Hand sind.
Wie intensiv und total absorbierend die erste Liebe sein kann, ist nicht zu unterschätzen. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind vor lauter Verliebtheit alles andere vernachlässigt, ist gross. «Am besten erinnern sich Eltern an ihren eigenen ersten grossen Schwarm zurück», lacht Andrea Kramer. Dann wird einem auch klar: Das reguliert sich von selbst wieder.
Gleichzeitig schadet es nicht, ein paar Grundregeln auszuhandeln – wie etwa «Übernachten nur am Wochenende» oder «Chatten nur bis 23 Uhr». Eventuell kann man auch mit den Eltern des Freundes oder der Freundin Kontakt aufnehmen – falls das für beide Jugendliche passt – und gemeinsam Abmachungen treffen.
Eltern sollten auf keinen Fall versuchen, dem Kind den Freund oder die Freundin auszureden.
Deutlich verzwickter ist es hingegen, wenn Eltern mit dem Partner oder der Partnerin des Nachwuchses Mühe haben. Sollen sie das offen ansprechen? Oder lieber nicht? «Diese Frage stellt sich nicht», findet Yvette Plambeck, «Kinder merken das ohnehin recht schnell.» Im Klaren sollte man sich als Mutter oder Vater allerdings sein: Habe ich keine Lust darauf, dass diese Person dauernd bei mir zu Hause ist, bedeutet dies im Umkehrschluss, dass mein Kind vielleicht ständig bei der anderen Familie übernachtet – will ich das?
Ihr Tipp: «Authentisch bleiben und darüber sprechen.» Und bloss nicht dem Kind Freund oder Freundin auszureden versuchen. «Das ist nicht unsere Aufgabe und führt uns nur vom Nachwuchs weg», so Plambeck. «Die Person muss schliesslich für mein Kind passen – und nicht für mich.» Meistens helfe es, dem Nachwuchs zu vertrauen und dessen Freund oder Freundin erst einmal besser kennenzulernen. Schliesslich muss diese Person ja irgendetwas haben, was Tochter oder Sohn anzieht.
Dos: Wie idealerweise reagieren?
- Anteil nehmen, sich für den Nachwuchs mitfreuen, signalisieren «Ich unterstütze dich und bin für dich da».
- Wissen, wo man sich als Eltern zurückhält (nicht seine eigenen Erfahrungen überstülpen).
- Mitdenken («Wie sieht es mit Verhütung aus?»), den Schutz eigener Grenzen ansprechen («Kannst du Nein sagen, wenn die andere Person mehr will?»). Möchte das Kind darüber nicht reden, dies akzeptieren. Fällt Eltern das Gespräch schwer: An Fachpersonen delegieren (siehe Tipps Anlaufstellen).
- Selbst wenn Jugendliche es nicht mehr so deutlich signalisieren: Eltern sind immer noch ein wichtiger Teil in ihrem Leben, tragen Verantwortung und haben eine Vorbildfunktion.
Don’ts: Was tunlichst unterlassen?
- Verniedlichen, sich lustig machen – auch wenn es liebevoll gemeint ist –, vor anderen blossstellen («Hast du gehört, sie hat jetzt einen Freund!») oder schwarzmalen («Das hält sowieso nicht ewig!»).
- Aus Angst, das Kind schützen zu müssen, vieles verbieten – der Nachwuchs wird sich ohnehin nicht daran halten. Gerade was Sexualität angeht: Lieber einen geschützten Rahmen zu Hause bieten als in eine ungeschützte Umgebung treiben.
Mit Luca war dann schneller Schluss als erwartet. «Hat halt nicht gepasst», verkündete die Tochter mit müden Augen – und versank im tiefsten Liebeskummer. Was in solchen Fällen hilft? Da sein, trösten und sich Sprüche wie «Ich habs dir ja gesagt» tunlichst verkneifen.
«Für Eltern ist es natürlich immer schrecklich, wenn das eigene Kind leidet», sagt Plambeck, «aber das muss man aushalten.» Und situativ schauen, was der Nachwuchs gerade braucht: Zusammen einen Film schauen? Oder lieber allein im Zimmer sitzen und weinen? Die Bedürfnisse können sich dabei von einer Minute auf die andere ändern – was Eltern pubertierender Jugendlicher aber ohnehin gewohnt sein dürften. Wichtig ist, die Grundhaltung «Ich bin für dich da – egal ob du oben oder unten bist» zu vermitteln. Ansonsten gilt: Geduld haben und warten, bis es vorbei ist.
- Lilli ist ein Online-Portal, bei dem sich auch Fragen einreichen lassen – zu Liebe, Sexualität und vielem mehr: www.lilli.ch
- Lust und Frust ist die Website der Fachstelle für Sexualpädagogik und Beratung der Stadt Zürich: www.lustundfrust.ch
- Auch im Online-Portal feel-ok.ch finden sich viele Informationen zu Liebe und Sexualität: www.feel-ok.ch
- Sexuelle Gesundheit Schweiz bietet auf seinem Webportal viele Informationen und Broschüren zum Gratis-Download als PDF. Unter anderem «Hey you» zur Sexualaufklärung für Jugendliche ab 12 Jahren oder «Deine Sexualität – Deine Rechte» zu sexuellen Rechten. www.sexuelle-gesundheit.ch