Kampfzone Familienbett
Für die einen sind sie selbstverständlich, für die anderen ein grosses Übel: die Nächte, in denen ganze Karawanen von Kindern unterwegs sind, um unter die elterliche Decke zu kriechen. Dabei haben die nächtlichen Wanderungen ins Familienbett wenig mit verwöhnten Kindern zu tun.
Wer kennt es nicht: das Buch «Jedes Kind kann schlafen lernen» der Psychologin Annette Kast-Zahn. Es ist 2006 erschienen und der meistverkaufte deutsche Elternratgeber aller Zeiten – und wohl der umstrittenste. In den Amazon-Bewertungen beispielsweise dankt eine Gruppe Leser der Autorin aus tiefstem Herzen. Für andere wiederum ist das Buch das Feindbild schlechthin. Dazwischen gibt es wenig.
Während Säuglinge im Elternbett noch einen gewissen Toleranzwert geniessen, reagieren viele Eltern (und deren Umfeld) bei älteren Kindern, die – plötzlich oder immer wieder – nicht alleine nächtigen wollen, kritisch. Offen thematisiert wird die Karawanserei ab Mitternacht dementsprechend selten.
Es ist völlig normal, dass viele Kinder plötzlich nicht mehr allein schlafen wollen.
Entsprechend hoch ist die Dunkelziffer jener Zahl von Müttern und Vätern, die ihre Kinder immer wieder ins eigene Bett lassen, weil ihnen die Energie fehlt, minutenlang im abgedunkelten Kinderzimmer zu liegen, das schwitzige Händchen zu halten oder auf das Sandmännchen zu hoffen.
Experten für den kindlichen Schlaf geben nun Entwarnung. Es sei ein vollkommen natürlicher Zustand, dass Kinder ab dem zweiten Lebensjahr plötzlich nicht mehr allein schlafen wollen, heisst es aus dem Zürcher Kinderspital. Es sei das Alter, in welchem sie sich langsam von ihren Eltern ablösen, ihre Autonomie entwickeln und sich als eigene Person wahrnehmen. Dabei kommt es nachts manchmal zu Verlassenheitsgefühlen. «Zwischen zwei und vier Jahren tritt unter anderem das magische Denken ein», sagt Dr. Peter Hunkeler, Oberarzt Entwicklungspädiatrie des Kinderspitals Zürich. «Eine sehr bildhafte, reale Fantasie kann dazu führen, dass sich ein Kind einsam fühlt.»
Schlaf ist eine kulturelle Angelegenheit
Anhänger des Familienbettes stützen sich in ihrer Argumentation gerne auf die Kulturgeschichte des Schlafes. Es sei keineswegs Zufall, wie wir schlafen, mit wem wir den Schlafplatz teilen und wo wir schlafen würden. «Während des grössten Teils der Menschheitsgeschichte schliefen Babys und Kinder bei ihren Müttern oder bei beiden Eltern», sagt die US-Anthropologin Meredith F. Small, eine berühmte Verfechterin des Familienbetts.
Noch heute ist in afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern der gemeinsame Schlafplatz üblich. Aber auch in asiatischen Ländern wie Japan ist es selbstverständlich, dass das kleine Kind nicht allein schläft. Und so schlafen dort 60 Prozent der Kinder bei den Eltern. Im Familienbett lernt es, so die Philosophie, sich in eine Gemeinschaft einzufügen. In Indonesien wiederum gilt die Praxis, ein Kind in einem eigenen Zimmer in seinem eigenen Bett allein schlafen zu lassen, als eine Form der Kindesvernachlässigung.
In den westlichen Industrienationen dominiert ein anderes Schlafkonzept. In Ländern wie der Schweiz, Deutschland oder auch Frankreich wurde eine frühe Selbständigkeit und Unabhängigkeit, auch nächtens, als Tugend angesehen. Ein Blick auf Zahlen illustriert dies. In den USA schlafen 66 Prozent der kleineren Kinder nicht im Elternbett, in Grossbritannien sind es 46 Prozent. Je älter das Kind wird, desto grösser wird dieser Anteil.
Familienbett als Entwicklungsvorteil?
Ein ähnliches Bild zeigt sich in der Schweiz. Nur etwa 5 Prozent der Einjährigen verbringen die Nacht bei den Eltern, bei den Vierjährigen sind es immerhin schon 13 Prozent. Danach flacht das Familienbett wieder etwas ab. Nur 2 Prozent aller Zehnjährigen tapsen nächtens regelmässig zum Bett von Mama und Papa – sagt die offizielle Statistik. Die Zahl jener Kinder, die in unregelmässigen Abständen die Nähe zu den Eltern suchen, ist jedoch viel höher, wie eine Langzeitstudie des Kinderspitals Zürich zeigt.
Kinder, die gemeinsam mit ihren Eltern schlafen, sind glücklicher, ausgeglichener und weniger ängstlich.
Ein anderes, oft platziertes Argument für das Familienbett ist die Kindesentwicklung. Zahlreiche Verfechter des Co-Sleepings weisen darauf hin, wie positiv sich der gemeinsame Schlaf auf die emotionale und psychologische Entwicklung des Kindes auswirke.
Der bekannte US-Kinderarzt James McKenna gehört dazu. Sein Fazit verschiedener Untersuchungen lautet: Kinder, die gemeinsam mit ihren Eltern schlafen, sind glücklicher, ausgeglichener und weniger ängstlich und hatten als Erwachsene ein höheres Mass an Selbstbewusstsein und waren beziehungsfähiger als Menschen, die als Kind durchwegs allein schliefen.
Tote Hose im Familienbett?
Argumente, die es vielen Eltern schwermachen, das Elternschicksal von zerstückelten Nächten im gemeinsamen Bett grundsätzlich in Frage zustellen. Die Frage, wo Familie anfängt und wo sie aufhört, beschäftigt früher oder später jedoch alle Mütter und Väter. Im Fokus steht dabei oft die Sexualität. Nicht wenige sind der Ansicht, der Familienschlaf beeinflusse die ohnehin durch Kinder bereits strapazierte Sexualität der Eltern noch mehr. Ganz nach dem Motto: Das Kind in der Besucherritze verunmögliche die Erotik. Eltern seien deshalb gut beraten, offen und ehrlich darüber zu sprechen, ob ein Familienbett für beide akzeptabel sein könnte – und das auch noch nach einigen Wochen Praxis.
«Ein Elternpaar muss sich klar darüber werden, wie und wo es seinen intimen Raum bewahren möchte, in dem persönliche Entspannung, aber auch Sexualität Platz hat», erklärt Catherine Bernhart, Fachpsychologin FSP für Kinder- und Jugendpsychologie und Psychotherapie.