Wenn der Feierabend immer länger wird

Ist der Nachwuchs erst einmal im Bett, haben Eltern endlich Zeit für sich – und gehen schliesslich oft später schlafen, als ihnen guttut. Auszeiten während des Tages helfen, dies zu verhindern.
Die meisten Eltern kennen das: Sind die Kinder nach einem langen Tag im Bett und ist die Wohnung aufgeräumt, hätte man endlich Zeit für sich oder den Partner beziehungsweise die Partnerin – wäre es nicht schon so spät und man selbst hundemüde. Das ist der Moment, in dem wieder einmal klar wird, dass der Tag viel zu wenig Stunden hat und man selbst später schlafen gehen wird, als einem eigentlich guttäte. Bedtime Procrastination, Aufschieben der Schlafenszeit, nennen dies Experten.
Hinter dem Aufschieben des Schlafens steht das Bedürfnis nach bewusster Erholung vom meist stressigen Tag.
Katharina Bernecker, Psychologin
Psychologinnen wie Katharina Bernecker führen verschiedene Gründe für das Aufschieben an. Sie forscht am Psychologischen Institut der Universität Zürich zu Themen wie der Selbstregulierung. «Einerseits handelt es sich um mangelnde Selbstkontrolle, andererseits steht hinter dem Aufschieben das Bedürfnis nach bewusster Erholung vom meist stressigen Tag», so Bernecker.
Denn obwohl Schlafen die optimale Erholung wäre, findet diese ja nicht bewusst statt und der Effekt zeigt sich erst am nächsten Tag. Mit anderen Worten: Die Belohnung für die frühere Schlafenszeit erfolgt zeitverzögert, während sie sich mit einer weiteren Folge der Lieblingsserie sofort einstellt.
Für die schnelle Befriedigung
«Eltern haben nur wenige Momente, in denen ihre eigenen Bedürfnisse im Vordergrund stehen dürfen. Deshalb fällt es ihnen besonders schwer, diese nun freie Zeit zu verkürzen, indem sie früh zu Bett gehen», sagt Psychologin Katharina Bernecker. So wird das Zu-Bett-Gehen mit Surfen im Netz, Zappen oder Serienschauen hinausgezögert. Hier zeitig aufzuhören, fällt besonders schwer. Denn bei digitalen Anwendungen wie Youtube, Social Media oder Computergames werden gezielt menschliche Bedürfnisse nach Erfolg oder Unterhaltung abgedeckt sowie Belohnungsmechanismen eingesetzt. Das Ziel: Die Anwender möglichst lange zu beschäftigen.
Ausserdem hält das blaue Licht von Smartphone und Tablet zusätzlich wach, da es das schlaffördernde Hormon Melatonin unterdrückt. Ein kurzfristiges Wohlgefühl stellt sich ein, da all diese Aktivitäten ablenken und die Zeit wie im Flug vergeht.
Und es scheint paradox – je grösser der Stress, desto länger der Abend. Denn laut Katharina Bernecker ist Stress ein weiterer entscheidender Faktor, der das Aufschieben des Schlafengehens begünstigt. «An stressigen Tagen wächst das Bedürfnis nach noch mehr bewusster Zeit für Erholung», so Bernecker.
Schlafmangel kann Eltern krank machen
Wird der benötigte Schlaf jedoch immer wieder hinausgezögert und damit verkürzt, hat dies Folgen: Die emotionale und körperliche Belastbarkeit sinkt, denn Immunsystem, Herz-Kreislauf-System und Stoffwechsel brauchen ausreichende Erholung, um gut arbeiten zu können. Wer müde ist, kann am Folgetag weniger gut seine Gefühle regulieren, sodass jegliche Stressoren belastender als ohnehin schon empfunden werden. Wir werden dünnhäutiger und sind schneller gereizt.
Wer übermüdet ist, schafft es weniger gut, vor dem Einschlafen etwas Entspanntes für sich zu tun.
Die Selbststeuerung ist geschwächt, was dazu führt, dass wir am nächsten Abend wieder später ins Bett gehen, als es eigentlich gut wäre. Schieben wir so ständig den Schlaf auf, kann dies zu einem Teufelskreis führen. Denn wer übermüdet ist, schafft es weniger gut, vor dem Einschlafen etwas Entspanntes für sich zu tun. Vielmehr lässt man sich hängen und verbringt beispielsweise noch mehr Zeit in den sozialen Medien.
Darüber hinaus beeinträchtige Stress das Gesundheitsverhalten, sagt Katharina Bernecker: «So essen beispielsweise Menschen unter Stress ungesünder, treiben weniger Sport und gehen später zu Bett.» Ausserdem wird niemand, dem abends die Augen zufallen, neue Gewohnheiten ausprobieren, die dem eigenen Befinden guttäten.
Alter der Kinder spielt keine Rolle
Psychologen raten aber auch, die eigene Abendroutine genauer unter die Lupe zu nehmen. Forscher aus den Niederlanden haben herausgefunden, dass diejenigen, die ihre allabendlich wiederkehrenden Handlungen nicht mögen – mit dem Hund rausgehen, den Frühstückstisch vorbereiten, Zahnseide nutzen –, dazu neigen, diese Erledigungen hinauszuzögern.
Deshalb wäre es ratsam, sich die immer gleichen abendlichen Abläufe einmal genauer anzuschauen und gegebenenfalls Anpassungen vorzunehmen: Geht man selbst mit dem Hund raus, kann vielleicht der Partner währenddessen den Frühstückstisch vorbereiten.

Anders als erwartet spielt das Alter der Kinder auf der Suche nach den Ursachen nur eine untergeordnete Rolle, betont Katharina Bernecker. «Wie gross der Stress und damit der Wunsch nach frei einteilbaren Abendstunden empfunden wird, ist individuell vom einzelnen Kind, der Familienkonstellation und Arbeitsteilung innerhalb der Familie abhängig», sagt die Psychologin.
Die Kunst der Selbstfürsorge
«Alleinerziehende mögen das anders empfinden als Haushalte mit mehreren Bezugspersonen.» Weiter zeigen Studien, dass Frauen noch immer den Grossteil des Familienmanagements übernehmen und damit am Tag zu weniger Zeit für sich selbst kommen als Männer.
Es stellt sich also die Frage, inwieweit es Eltern gelingt, Erwerbs-, Familien- und Hausarbeit so untereinander aufzuteilen, dass sich jeder auch tagsüber Pausen nehmen kann. Mit anderen Worten: Es geht nicht darum, tagsüber möglichst viel zu erledigen, um abends das Bedürfnis nach möglichst viel Zeit für sich befriedigen zu können, sondern seinen Tag so zu gestalten, dass dieses Bedürfnis am Abend gar nicht mehr so gross ist.
Man sollte die Tage nicht völlig durchtakten, sondern kleine Auszeiten haben und diese für sich nutzen.
Eva Kaul, Psychotherapeutin
Das ist leichter gesagt als getan, denn es ist nicht einfach, jenseits der beruflichen und familiären Herausforderungen gut für sich zu sorgen. Die Psychotherapeutin Eva Kaul aus Winterthur nennt dafür verschiedene Gründe, ein wichtiger: «Oft denkt man: Jetzt habe ich es gerade sehr streng, aber wenn das durch ist, dann beginne ich mit Sport, Meditation oder Yoga. Doch es gibt immer noch irgendetwas, das gerade dringend getan werden müsste, sei es bei der Arbeit, im Haushalt oder mit den Kindern. Der freie Raum für sich selbst ergibt sich also nicht von selbst.»
Kleine Ruhepausen für Eltern
Daher lohne sich mitunter eine Selbstbefragung: Backe ich den Kuchen, weil ich Freude daran habe oder weil ich denke, dass ich es machen muss? Ist es nötig, das Bad heute zu putzen, oder kann das warten? Gibt es vielleicht eine näher gelegene Musikschule, zu der mein Kind selbständig gelangen kann, damit ich es nicht jedes Mal eine halbe Stunde mit dem Auto hin- und zurückfahren muss?
Ein New Yorker Forscherteam wollte herausfinden, wie es gelingt, eher schlafen zu gehen.
Es hat dafür «Wenn-dann-Regeln» formuliert.
Die Wissenschaftler haben mit diesen Regeln 300 junge Frauen und Männer geschult – mit dem Ergebnis, dass diese im Schnitt bis zu 32 Minuten früher ins Bett gingen.
- Vorhaben formulieren: Wenn ich pünktlich zu Bett gehe, dann schlafe ich entspannter ein. Ich brauche dann kein schlechtes Gewissen zu haben, dass die Nacht zu kurz wird und ich zu wenig Schlaf bekomme.
- Visualisierung: Wenn ich mir das bestmögliche Ergebnis ausmale, wie ausgeruht ich mich am nächsten Morgen fühlen werde, dann freue ich mich auf den kommenden Tag, denn ausgeschlafen kann ich Belastungen besser meistern, als wenn ich müde bin.
- Innere Hürde aufspüren: Wenn ich die Gründe aufspüre, die mich davon abhalten, rechtzeitig schlafen zu gehen, kann ich versuchen, gegenzusteuern. Ist es zum Beispiel der innere Glaubenssatz: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen? Dann plane ich im Alltag konkret Zeit für Entspannung ein. Das kann eine bewusst genossene Teepause oder eine kurze Meditation sein.
- Regel aufstellen: Wenn ich um 23 Uhr ins Bett gehen möchte, höre ich eine Viertelstunde vorher auf mit dem, was ich gerade mache, und gehe schlafen. Zur Erinnerung stelle ich den Wecker auf 22.45 Uhr, damit ich diesen Zeitpunkt nicht verpasse, und dann geht es sofort ab ins Bett.
«Es geht darum, die Tage nicht völlig durchzutakten, sondern kleine Auszeiten zu haben und diese für sich zu nutzen», so Eva Kaul. Manche schwören darauf, den Wecker morgens ein paar Minuten früher klingeln zu lassen, um in Ruhe Zeitung lesen oder ein paar Yogaübungen machen zu können, bevor man den Rest der Familie weckt. Oder man liest beispielsweise auf dem Weg zur Arbeit im Zug ein Buch oder hört im Auto seinen Lieblingspodcast. Im Supermarkt vor der Kasse schaut man nicht verzweifelt, an welcher Schlange es schneller vorangeht, sondern bleibt einfach stehen und wartet entspannt. So finden sich im Alltag immer wieder Fenster für kleine Ruhepausen.
«Wer sich tagsüber Auszeiten gönnt und diese bewusst geniesst, fühlt sich selbstbestimmter», betont Eva Kaul. Die Psychotherapeutin rät, die Eigenfürsorge zu ritualisieren. Was einem genau guttut, ist dabei sehr individuell. Dem einen hilft etwas Aktives wie Sport, Spaziergänge oder Yoga, der anderen eher etwas Ruhiges wie Meditation, ein Buch lesen oder im Garten auf dem Liegestuhl liegen.
Wichtig ist die Regelmässigkeit. So ist es besser, täglich zehn Minuten zu meditieren als einmal pro Woche 60 Minuten. Eine Selbstfürsorgepraxis, die gut im Alltag etabliert ist, trägt laut der Expertin durch herausfordernde Zeiten.