Die Suche nach einer stressfreien Pünktlichkeit
Unsere Kolumnistin fragt sich, wie sich Pünktlichkeit und trödelnde Kinder kombinieren lassen, ohne laut zu werden.
Einer meiner häufigsten Sätze ist: «Jetz muesch aber vorwärts mache!», dicht gefolgt von «Chömmed etz!» und «S’esch Ziit!». Denn klar, ich habe Kinder. Und Kindsein bedeutet eine Abwesenheit jeglichen Zeitgefühls. Oder was Erwachsene darunter verstehen.
Das zeigt sich bei uns in steter Regelmässigkeit, vor allem morgens. Schon der Ältesten erklärte ich Tag für Tag, wie wenig Zeit ihr bleibt, bis sie zur Schule muss. Und Tag für Tag sass sie auch zehn Minuten später noch im Pyjama am Tisch und zählte ihre Cornflakes durch. Meine Ansagen fruchteten so lange nicht, bis ich, weitere zehn Minuten später, mit der geballten Autorität des vorgerückten Stundenzeigers im Rücken verkünden musste, das Unvermeidliche sei eingetroffen: Es sei jetzt acht und sie noch im Unterhemd.
Mehrere Kinder beim Aufwachsen zu begleiten, ist ein wenig, als ob man einen Kanon dirigierte.
Könnte man mit besonders hektischem Anziehen von Kleidern die Zeit zurückdrehen, es wäre ihr jetzt geglückt. Und dann raste sie die Treppe hinunter. So aufgelöst, dass ich ihr nachrief, so schlimm sei das doch auch wieder nicht, einmal zu spät zu kommen. Nichts geht über konsistente Botschaften. Nur blieb ich ungehört und sie verzweifelt.
Schon morgen würde es ihr eine Lehre sein. Das schien klar – und war natürlich nicht der Fall. Es brauchte, wie so vieles, weniger einen Lernprozess als … einfach Zeit. Noch heute hetzt sie oft in letzter Minute los. Doch benötigt sie weder meine Ansagen, noch wirkt sie dabei verzweifelt. Und am Ende trifft sie pünktlich ein, glaube ich.
Den Bass runterschrauben
Was nicht heisst, dass sich an meiner Statistik der häufigsten Sätze viel geändert hätte. Mehrere Kinder beim Aufwachsen zu begleiten, ist ja ein wenig, als ob man einen Kanon dirigierte. Alle singen das eine Lied, nur zeitversetzt. Aktuell gerät vor allem der Jüngste bei «Hörst du nicht die Glocken?» aus dem Takt.
Allerdings macht mir inzwischen jede Wiederholung dieses «gleichen Liedes» mehr zu schaffen. Denn jedes Mal sabotiert man damit auch die schöne Werkseinstellung aller unter Zehnjährigen: im Flow zu leben. (Jahre später werden sie sich Meditations-Apps herunterladen für den mühsamen «Reset»-Versuch.)
Vielleicht liesse sich Pünktlichkeit lockerer vermitteln. Auf eine andere Art. Noch habe ich sie nicht gefunden.
Trotzdem exerziere ich ihnen laufend vor, wie sakrosankt es ist, pünktlich zu sein. Zu behaupten, mir schiesse ab dreissig Sekunden Verspätung der Puls auf 200, wäre übertrieben. Doch ab einer Minute verkrampft sich mein Kiefer, egal wie banal der Termin ist.
Und wenn es das Gehetztsein gar nicht bräuchte? Ich will nicht das Zuspätkommen schönreden. Auch meine ich nicht: «Mer muess si halt mal drilaufe la.» Aber sie werden die Uhr sowieso früher oder später intus haben. Vielleicht liesse sich Pünktlichkeit lockerer vermitteln, bis es so weit ist.
Auf eine Art, die das Ungezwungene am kindlichen Umgang mit Zeit sachter angeht, es nicht so absolut beseitigt. Noch habe ich sie nicht gefunden, diese Art. Doch seit ich sie suche, klingen meine «S’esch Ziit»-Sätze öfters, als hätte jemand den Bass heruntergeschraubt. Das macht uns zwar nicht pünktlicher. Interessanterweise aber auch nicht unpünktlicher. Und für den Kiefer ist es besser.