Gehen immer mehr Kinder mit Windeln in den Kindergarten?
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Gehen immer mehr Kinder mit Windeln in den Kindergarten?

Lesedauer: 5 Minuten

Beziffern lässt sich dies nicht. Die Meinungen dazu driften auseinander. Klar ist: Wenn Kinder spät trocken werden, ist das für alle Beteiligten unangenehm.

Text: Sibille Moor
Bilder: Carla Kogelman

Fabian* spielte, bastelte, hörte Geschichten, sass im Kreis und ass Znüni. Genau wie seine Gspänli im Kindergarten. Doch eins machte er nicht: das WC benutzen. Er trug zwar Unterhosen und keine Windeln, doch hielt er sein Pipi zurück, bis er zu Hause war. Dort zog er jeweils schnell eine Windel an und erledigte sein Geschäft.

Mittlerweile ist Fabian in der zweiten Klasse und geht seit geraumer Zeit auf die Toilette. «Doch es war ein langer Weg», sagt seine Mutter, die anonym bleiben möchte. Denn dass ein Kind beim Eintritt in den Kindergarten noch nicht trocken ist, wird weiterhin ­tabuisiert. Der Druck auf die Eltern ist gross, dass ihr Nachwuchs die Windeln vor dem Chindsgi-Start loswird, gilt doch der selbständige Toilettenbesuch als ein Kriterium für die Kindergartenreife.

Das Kind unter Druck zu ­setzen, dass es trocken wird, ist für alle belastend und ­bewirkt oft das Gegenteil.

Hannah Gräber, Entwicklungspädiaterin

Fabian hat mit rund drei Jahren begonnen, aufs Töpfchen zu gehen, und wollte ohne Windel sein. Eines Tages gingen Urin und Stuhl jedoch in die Hose. «Er ist so erschrocken, dass er danach nicht mehr ohne Windel sein wollte», erzählt seine Mutter. Trug er keine Windel, hielt er alles zurück.

«Wir haben deshalb viel Zeit auf dem WC verbracht, Spiele gespielt, später auch Vereinbarungen mit Fabian getroffen», erinnert sich seine Mutter. Sie habe den WC-Ring mit einem Frottiertuch abgedeckt, weil Fabian sich davor ekelte oder diesen als zu kalt empfand. Geholfen habe schliesslich eine Cranio-Sacral-Therapie – eine sanfte alternativmedizinische Körpertherapie – und vermutlich einfach die Zeit.

Sensible Phase nicht verpassen

Denn die aktuelle Lehrmeinung besagt: Rund 90 Prozent der Kinder sind tagsüber mit vier Jahren trocken. Das heisst, 10 Prozent sind es eben nicht. Diese Zahlen gehen auf die Zürcher Longitudinalstudien des Kinderarztes Remo Largo zurück. Er hat dabei zwei Generationen von Kindern verglichen. Die erste aus den 1950er-Jahren, welche zu einem Grossteil schon im ersten Lebensjahr einem Töpfchentraining unterzogen wurde.

Die andere aus den 70er- und 80er-Jahren, als die Sauberkeitserziehung mit dem Aufkommen der Wegwerfwindel in den Hintergrund getreten war. Es zeigte sich, dass «ein früher Beginn und eine hohe Intensität der Sauberkeitserziehung die Entwicklung der Blasen- und Darmkontrolle nicht beschleunigt».

Das Trocken- und Sauberwerden ist ein komplexer Reifeprozess, der auf verschiedenen Ebenen abläuft.

Hannah Gräber, Entwicklungspädiaterin

Dies sagt auch die Entwicklungs­pädiaterin Hannah Gräber, welche die Co-Leitung der Kinderarztpraxis «Praxis Kind im Zentrum» in Zürich innehat. «Es gibt eine sensible Phase, in der das Kind signalisiert, dass es bereit ist, aufs Töpfchen oder aufs WC zu gehen», erklärt sie. Diese zu erkennen und das Kind dabei zu unterstützen, sei wichtig.

Essenziell sei zudem, keinen Druck aufzubauen: «Das ist für alle belastend und bewirkt oft das Gegenteil.» Das Trocken- und Sauberwerden sei ein komplexer Reifeprozess, der auf verschiedenen Ebenen ablaufe. Bei den einen Kindern gehe dieser früher vonstatten, bei den anderen später. «Diese Unterschiedlichkeit gehört zu den Grundgesetzen der Entwicklung», so die Medizinerin.

Lehrpersonen stellen Zunahme fest

Neuere und ebenso umfassende Zahlen zur Blasen- und Darmkon­trolle in der Schweiz als jene von Remo Largo gibt es nicht. In manchen Zeitungsartikeln waren jüngst Klagen von Schulleitenden und Lehrpersonen zu lesen, dass immer mehr Kinder mit Windeln im Kindergarten und in der Schule sitzen. Bei den befragten Personen gehen die Meinungen auseinander. Hannah Gräber sieht in ihrer Praxis keine Zunahme von älteren Windelkindern.

Barbara Huwiler, Kindergartenlehrperson im aargauischen Fislisbach, hat in ihrer rund 36-jährigen Karriere hingegen eine Zunahme festgestellt. Windelkinder seien in ihrem Chindsgi-Alltag jedoch noch immer Einzelfälle. Ein Grund für die Zunahme sei das frühere Eintrittsalter, das heute in den meisten Kantonen bei vier Jahren liegt.

Eine weitere Ursache sieht sie in den ­gesellschaftlichen Veränderungen und in den Familienstrukturen: «Eltern haben heute nicht mehr so viel Zeit, die Kinder einfach mal ohne Windeln rumlaufen zu lassen und dann bei einem Unglück eben einmal mehr zu waschen.» Würde das denn etwas bewirken? «Ja», sagt Hannah Gräber, «wenn das Kind bereits spürt, wenn es muss, dann kann das Nichttragen einer Windel die Wahrnehmung verstärken.»

Wir konditionieren unsere Kinder auf die Windel. Doch Neugeborene zeigen durch Weinen oder Unruhe an, wenn sie ausscheiden müssen.

Rita Messmer, Therapeutin und Buchautorin

Die zu komfortablen Windeln

Ein ganz anderes Bild zeichnet Rita Messmer. Die Buchautorin und Cranio-Sacral-Therapeutin aus ­Faoug VD befasst sich seit 40 Jahren mit dem Thema und coacht Eltern, deren Kinder lange Windeln tragen. Sie sieht in ihrer Praxis viele verzweifelte Eltern, deren Kinder sich weigern, das WC aufzusuchen, und ihr Geschäft nur in eine Windel machen können – oder wollen. Sie glaubt, dass die Dunkelziffer an inkontinenten Kindergarten- und Schulkindern hoch sei. «Das zeigt ein Blick ins Supermarktregal und ins Internet: Dort gibt es mittlerweile Windeln und Unterhosen mit Einlagen für Zwölfjährige», so Rita Messmer.

Sie ortet zwei Ursachen für die zunehmende Windelabhängigkeit. Zum einen die supersaugstarken Windeln, in denen die Kinder nicht mehr spüren, dass sie nass sind. Zum anderen die gängige Lehrmeinung, dass die Kinder von selbst trocken werden, wenn sie reif dafür sind.

«Wir konditionieren unsere Kinder auf die Windel. Doch Neugeborene zeigen durch Weinen oder Unruhe an, wenn sie ausscheiden müssen», erklärt die Therapeutin. Langfristig sei es daher viel ziel­führender, die Babys zu bestimmten Zeitpunkten, zum Beispiel nach dem Schlafen oder dem Stillen oder wenn sie es anzeigen, zum Ausscheiden über ein Gefäss zu halten. Dieser Reflex gehe rund drei Monate nach der Geburt verloren, wenn die Eltern nicht darauf rea­gieren würden.

Was stimmt nun also? Keine nennenswerte Zunahme, vermehrt Windelkinder, aber noch immer Einzelfälle, oder Riesenproblem mit hoher Dunkelziffer? Die Meinungen der befragten Personen gehen diametral auseinander. Das Problem: Beziffern lässt sich nichts. Verlässliche, aktuelle Studien aus der Schweiz gibt es dazu keine. «Longitudinalstudien sind aufwendig, teuer und dauern lange», begründet Hannah Gräber. 

Windeln sind kein Rückstellungsgrund

Doch was können Eltern nun tun, wenn der Kindergartenbeginn näher rückt und das Kind noch Windeln trägt? «Unbedingt das Gespräch mit der Lehrperson suchen», sagt Barbara Huwiler. In der Regel hätten die Kindergartenlehrpersonen Verständnis und Ideen, wie die Windel noch vor dem Kindergarten verabschiedet werden kann. Es könne auch vorkommen, dass nach dem Start des Kindergartens ein Kind, das vorher trocken war, plötzlich wieder vermehrt einnässe. Manchmal gehe der WC-Gang vor lauter Spielen und Neuem auch einfach vergessen. «Das ist kein Drama», meint Barbara Huwiler, «wir schützen das Kind auch davor, ausgelacht zu werden. Das ist schliesslich allen schon einmal passiert.»

Unser Sohn, der bis in die 5. Klasse einnässte, hat darunter gelitten und Übernachtungen im Kindergarten oder in der Schule gemieden.

Betroffene Mutter

Eine Rückstellung vom Kindergarten erachten sowohl Hannah Gräber als auch Barbara Huwiler nur dann als sinnvoll, wenn das Kind auch in anderen Bereichen in der Entwicklung hinterherhinkt. Klar ist allerdings: Kindergartenlehrpersonen wickeln nicht. Geht das grosse Geschäft in die Windeln, müssen die Eltern antraben. Diese Erfahrung hat auch die Mutter von Simon* gemacht. Genau wie Fabian wollte auch Simon mit etwa drei Jahren keine Windeln mehr, und zwar in den Sommerferien.

«Zu Hause klappte das dann aber plötzlich nicht mehr und er hat ständig in die Hose gemacht», erzählt seine Mutter, die ebenfalls anonym bleiben möchte. Als er auch im zweiten Kindergarten noch regelmässig einnässte, suchten sie den Kinderarzt auf. Abklärungen hätten dann ergeben, dass bei Simon unter anderem die neuronale Verbindung zum Gehirn für die Blasenkontrolle noch nicht ausgereift war.

«Eltern sind nicht schuld»

Bis Simon schliesslich komplett trocken war, dauerte es bis in die fünfte Klasse. Immer mal wieder passierte ein Unglück, wenn er nicht sofort die Möglichkeit hatte, das WC aufzusuchen. Aus diesem Grund trug er Unterhosen mit saugfähigen Einlagen. «Er hat darunter gelitten und Anlässe wie das Übernachten im Kindergarten oder in der Schule gemieden», so seine Mutter.

Solche Situationen sind nicht nur für das Kind belastend, sondern auch für die betroffenen Eltern. Viele fragen sich, ob sie etwas falsch gemacht haben, oder streiten, weil sie sich im Vorgehen uneinig sind. Auch das Umfeld reagiert vielleicht mit Unverständnis. Doch alle befragten Expertinnen entlasten die Eltern. «Diese sind nicht schuld», betonen sowohl Rita Messmer als auch Hannah Gräber. Und Barbara Huwiler fügt an: «Das Wichtigste ist, gelassen und zuversichtlich zu bleiben.»

* Namen der Redaktion bekannt

Sibille Moor
ist freie Journalistin, Mutter von zwei Kindern und wohnt mit ihrer Familie in der Nähe von Zürich.

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