«Mein Sohn ist weinend aus dem Haus gerannt»
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«Mein Sohn ist weinend aus dem Haus gerannt»

Lesedauer: 4 Minuten

Ein Vater wird bei einem Konflikt mit seinem elfjährigen Sohn handgreiflich. Er fühlt sich hilflos und bittet den Elternnotruf um Rat.

Aufgezeichnet von Rita Girzone
Bild: Adobe Stock

Vater: Es gab heute Morgen mit meinem Sohn eine grosse Eskalation, bei der ich handgreiflich geworden bin. Haben Sie Zeit für mich?

Beraterin: Ich nehme mir gerne Zeit.

Vater: Also, die Ferien haben gerade begonnen, und wir wollten heute früh nach Italien fahren. Wir hatten uns auf eine entspannte Zeit am Meer gefreut. In letzter Zeit hatten wir nämlich viel Stress, unsere drei Kinder in der Schule und wir im Geschäft.

Beraterin: Ja, für viele Familien ist die Zeit vor den Sommerferien sehr intensiv.

Vater: Meine Frau ist diejenige, die sonst die meiste Zeit mit den Kindern verbringt, aber für die Ferienorganisation bin ich zuständig. Ich wollte meine Frau entlasten und habe ein tolles Ferienhaus gemietet und alles tipptopp organisiert.

Beraterin: Es klingt, als ob Sie beste Absichten hatten und auch hohe Erwartungen an sich selbst gestellt haben.

Vater: Ich wollte es mit der Familie einfach gut haben. Wir sollten jetzt schon vergnügt am Strand sein. Stattdessen sind wir alle sauer und noch zu Hause, und ich telefoniere mit dem Elternnotruf. Super.

Beraterin: Manchmal kommt es anders, als wir es planen.

Ich habe ihn am Arm gepackt, er hat ihn weggezogen und ist hingefallen.

Vater

Vater: Heute früh, kurz bevor wir losfahren wollten, war mein Sohn aufgebracht, weil er seine Badehose in der Schule vergessen hatte. Meine Frau hat dann die Badehose vom letzten Jahr gefunden. Er aber ist komplett ausgerastet, weil sie ein Bild von Sponge Bob darauf hat. Er hat uns befohlen, dass wir vor der Abfahrt eine neue Badehose kaufen, was so früh am Morgen nicht möglich war und für mich ohnehin nicht in Frage kam. Ich lasse mich doch nicht von einem Elfjährigen herumkommandieren! Ich wurde ungeduldig und fand, dass niemand ihn am Ferienort kennt und dass die Hose letztes Jahr auch kein Problem war. Er sagte daraufhin, dass er nicht in die Ferien kommen wolle, und wir sind beide laut geworden. Ich habe ihn am Arm gepackt, er hat ihn weggezogen und ist hingefallen. Er hat sich nicht verletzt, aber er ist weinend aus dem Haus gerannt und seit er zurück ist, kommt er nicht aus dem Zimmer. Wie kann es sein, dass es wegen Badehosen derart eskaliert ist?

Beraterin: Es klingt für mich, als ob es für beide um viel mehr als um eine Badehose ging. Ich gehe generell davon aus, dass hinter «hartem» Verhalten wie der Verweigerung Ihres Sohnes oder Ihrer Handgreiflichkeit «weiche» Gefühle und unerfüllte Bedürfnisse stecken. Oft kommen wir erst weiter, wenn wir das Darunterliegende besser verstehen.

Vater: Ach, das braucht aber so viel Zeit.

Beraterin: Das stimmt. Aber manchmal dauert es noch länger, wenn wir versuchen, ein Verhalten zu ändern, ohne zu verstehen, woher es kommt.

Vater: Also, ich habe jetzt Zeit. Meine Frau und ich haben entschieden, die Abfahrt auf morgen zu verschieben.

Beraterin: Wollen wir gemeinsam erkunden, um was es möglicherweise bei Ihnen und Ihrem Sohn am Morgen gegangen ist?

Vater: Gerne. Beginnen wir bei ihm.

Im Alter Ihres Sohnes wird das Aussehen immer wichtiger. Man will dazugehören und ja nicht negativ auffallen.

Beraterin

Beraterin: Okay. Wie ich Sie verstanden habe, zeigte er sich äusserlich als befehlerisch und stur: «Wir kaufen jetzt eine neue Badehose oder ich komme nicht mit in die Ferien!» Der Ton und das Befehlen waren unangemessen. Wenn wir die weitherzigste mögliche Interpretation anwenden, welche Gefühle oder Bedürfnisse können Sie sich darunter vorstellen?

Vater: Scham. Es ist ihm peinlich gewesen, etwas Kindliches tragen zu müssen.

Beraterin: Das vermute ich auch. In dem Alter wird das Aussehen immer wichtiger. Man will dazugehören und ja nicht negativ auffallen.

Vater: Das kann ich verstehen. Mit elf ist Sponge Bob wirklich nicht mehr cool. Aber dass das so wichtig war, dass er lieber gar nicht in die Ferien kommt?

Beraterin: Ich vermute, dass die Auseinandersetzung mit Ihnen weitere Gefühle ausgelöst hat. Was ging wohl in ihm vor, als Sie ihm sagten, dass die Badehose nicht so schlimm sei und dass ihn dort niemand kennen würde?

Vater: Wahrscheinlich fühlte er sich unverstanden.

Beraterin: Genau. Vielleicht kennen Sie das selbst. Wenn man sich nicht verstanden fühlt, kann das eine innere Not, eine Art Kampfreaktion auslösen oder verstärken.

Vater: Ja, das kenne ich. Ich sehe, wie sinnlos es war, mich auf einen Machtkampf einzulassen und ihn zwingen zu wollen. Ich war aber so unter Druck und konnte mir in dem Moment die Zeit nicht nehmen, innezuhalten.

Beraterin: Ja, Sie haben sich für das Gelingen der Familienferien verantwortlich gefühlt und standen unter grossem Stress. Sie wollten bei Ihrem Plan, Ihre Familie möglichst bald in das Ferienglück zu bringen, wegen Sponge Bob nicht aufgehalten werden.

Vater: Und deshalb mussten wir die Ferien um einen Tag verschieben.

Beraterin: Verzögerungen müssen nicht nur schlecht sein. Wissen Sie, was Sie als Nächstes machen werden? Vater: Ja. Ich werde meinen Sohn um Entschuldigung bitten, dass ich ihn angeschrien und gepackt habe. Ich werde aber auch erwähnen, dass er extrem frech war.

Beraterin: Ich finde es wichtig, dass Sie ausdrücklich die Verantwortung für Ihr Verhalten übernehmen, ohne ihm «die halbe Schuld» dafür zu geben. Es gibt später genügend Möglichkeiten, ihn dabei zu unterstützen, mit seinen Emotionen besser umzugehen.

Vater: Okay. Ich erzähle ihm, dass ich zukünftig meine Reaktionen besser kontrollieren möchte. Und vielleicht auch, dass ich verstehe, dass ihm die Hose peinlich ist. Vielleicht gehen wir eine neue kaufen und am Abend alle zusammen Pizza essen.

Wenn wir die Grösse haben, Fehler zuzugeben und wiedergutzumachen, stärkt das die Beziehung.

Beraterin

Beraterin: Das klingt sehr gut. Es sind nämlich nicht die Ereignisse selbst, die für ein Kind und die Be-ziehung entscheidend sind, sondern wie wir nachher damit umgehen. Konflikte und Fehler gehören zum Leben. Wenn wir die Grösse haben, Fehler zuzugeben und wiedergutzumachen, kann das die Beziehung sogar stärken. Und wenn wir Verantwortung für unsere Fehler übernehmen, lernen Kinder allmählich, das auch zu tun.

Vater: Ich hoffe es. Danke für den Austausch. Er war sehr hilfreich. Darf ich vielleicht nach den Ferien wieder anrufen, um darüber zu sprechen, wie ich mich in solchen Situationen besser beherrschen und dennoch Grenzen setzen kann?

Beraterin: Sehr gerne. Ich wünsche Ihnen ein gutes Gespräch und schöne Ferien.

Elternnotruf

Bei Themen rund um den Familien- und Erziehungsalltag ist der Verein Elternnotruf seit 40 Jahren für Eltern, Angehörige und Fachpersonen eine wichtige Anlaufstelle – sieben Tage die Woche, rund um die Uhr. Die Beratungen finden telefonisch, per Mail oder vor Ort statt. www.elternnotruf.ch 

An dieser Stelle berichten die Berater aus ihrem Arbeitsalltag.

Rita Girzone
ist Beraterin im Elternnotruf und in privater Praxis sowie Lehrerin von Kursen in Mindful Self-Compassion und Mindful Parenting. Sie ist Grossmami von zwei kleinen Kindern.

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