Wenn die Sexualität erwacht
Erforschen Kinder die Welt, gehört der eigene Körper dazu. Doch viele Eltern wissen nicht, wie sie der erwachenden Sexualität ihrer Kinder begegnen sollen. Keinesfalls mit Schweigen, raten Experten. Ein entspannter Umgang mit Sex und eine frühe Aufklärung begünstigen die körperliche Entwicklung der Kinder.
Text: Claudia Marinka und Claudia Landolt
Bilder: Linnea Larsson, Sian Davey, Ruth Erdt
Beni und Max, beide fünf Jahre alt, haben sich zum Spielen in Max’ Zimmer zurückgezogen. Eine Weile lang sind die üblichen Geräusche zu hören – Dinge, die zu Boden fallen, Gekreisch und Geschimpfe. Irgendwann ist es plötzlich still. Zu still, findet die Mutter, und horcht an der Kinderzimmertür.
Sie hört ein Rascheln und viel, viel Kichern. Ein paar Minuten später kommen die beiden Freunde heraus, die T-Shirts vertauscht und die Köpfe hochrot. Am Abend fragt Mama ihren Sohn, was er denn mit seinem Freund so Lustiges gespielt habe. «Abzoge und glueget!», sagt Max strahlend.
Sexualaufklärung ist mehr als Biologie, sagen Fachleute. Das sehen Eltern nicht immer so.
Tim ist dreizehn Jahre alt. Auf seiner Oberlippe spriesst ein zarter Flaum, auf seiner Stirn machen sich Pickel breit. Er besitzt ein ausgeprägtes Schamgefühl. Umziehen will er sich nur noch hinter verschlossener Tür, nicht einmal sein ein Jahr jüngerer Bruder darf zuschauen.
Er verbringt viel Zeit mit seinen Kollegen, zusammen gucken sie Videos und Filme – darunter auch solche mit Sexszenen. Küssen ist in seiner Klasse ein Thema. Bei ihm noch nicht. «Richtig» geküsst hat Tim noch nie – «isch gruusig!».
Anders sein bester Freund Dan. Dieser hat einen vier Jahre älteren Bruder, der gerade sein erstes Mal hinter sich hat. Er ist es, der Dan in die Geheimnisse der Sexualität einweiht. Die beiden reden viel zusammen. Und Dan hat viele Fragen: «Ist es strafbar, wenn ich Pornos schaue? Wie lange muss ein Penis sein? Tut es weh beim ersten Mal?»
Eltern spielen eine wichtige Rolle
Fragen, die 12- bis 16-jährige Jugendliche bewegen. Es sind dieselben Fragen, die schon die Generation ihrer Eltern interessiert hat. «Kindern und Jugendlichen stehen heute viele Kanäle zur Verfügung, um sich zu informieren», sagt Beatrix Wagner Minder, Beraterin bei der Elternberatung von Pro Juventute. «Themen wie Liebe und Sexualität beschäftigen fast alle Teenager. Entsprechend viele Diskussionen und Informationen finden sich im Internet.»
Sexualaufklärung ist mehr als Biologie, sagen Fachleute. Das sehen Eltern nicht immer so. Für viele stehen Fragen rund um die erwachende Sexualität ihrer Kinder – Doktorspiele, Körperbewusstsein, Videos – im Vordergrund.
Wie geht Aufklärung? Eltern sollten auf ihr Kind zugehen und nicht warten, bis es selber Fragen stellt.
Die kindliche Sexualität selbst tritt in den Hintergrund. Wenn Mädchen lustvoll auf Stühlen und Treppengeländern rutschen, Jungs die Hand am Hosenschlitz haben oder plötzlich stundenlang duschen, sind Mama und Papa oft irritiert. Warum?
Weil die eigenen Bilder und Vorstellungen von Sex nicht zu Kindern passen oder passen dürfen. Kindliche Lust und Sexualität sind grosse Tabus. Wie ein gesunder Umgang damit aussieht, wissen Eltern oft nicht. Doch gerade Eltern kommt beim Aufblühen kindlicher Sexualität eine wichtige Funktion zu. Zu diesem Schluss kommt die neuste Studie «Wahrnehmung, Deutung und Praxis der Sexualaufklärung im informellen Umfeld» der «Schweizerischen Stiftung für sexuelle und reproduktive Gesundheit».
Sexualität beginnt im Mutterleib
Schon im Leib der Mutter haben männliche Föten gelegentlich Erektionen.
Und direkt nach der Geburt, in den ersten 24 Stunden, reagieren viele Babys auch körperlich auf physische Reize wie die Wärme der Mutter oder die Stimulation der Lippen beim Stillen: Ihr Penis oder ihre Klitoris schwillt an. Säuglinge im Alter von drei bis vier Monaten lächeln, gurren oder zeigen sich anders freudig erregt, wenn sie sich stimulieren.
Ab zwei bis drei Jahren, wenn der Gang zum Töpfchen angesagt ist, interessieren sie sich auch, woher denn «Pipi» und «Gaggi» kommen, und thematisieren dies. In diesem Alter stellen sie auch explizite Fragen zum Thema Sex. Zwischen zwei und drei Jahren stellen sie Geschlechterunterschiede fest, es folgen Zuordnung und Sprachentwicklung. Ab acht Jahren stehen Fragen zur Entstehung einer Schwangerschaft, Empfängnis und Verhütung im Vordergrund. Mit neun bis elf Jahren verfügen Jugendliche über ein recht umfangreiches Wissen rund um das Thema Sexualität.
Die Studie wurde bei 27 Eltern und 70 Jugendlichen in den drei Sprachregionen durchgeführt. Sie zeigt, dass Eltern ihre Kinder tendenziell so aufklären, wie sie selber aufgeklärt wurden. Die Themen sind dieselben wie damals: Verhütung, Fortpflanzung, Partnerschaft.
Augenfällig sei dabei das Problem des Aneinandervorbeiredens zwischen Eltern und Kindern im familiären Umfeld, sagen die Verfasserinnen Manuela Käppeli, Vanessa Fargnoli und Maryvonne Charmillot. «Eltern glauben, sie wüssten, welche Kenntnisse ihre Kinder besitzen. Die Teenager nehmen dies aber anders wahr und spüren einen Graben zwischen sich und den Eltern.»
Teenager haben viele Fragen zu Sex
Kinder und Jugendliche interessieren sich für Sex. Wie stark das Interesse an schulergänzenden Aufklärungsangeboten ist, zeigt sich in der neusten, noch unveröffentlichten Umfrage von «Lust und Frust», der Fachstelle für Sexualpädagogik Zürich.
Eltern klären ihre Kinder so auf, wie sie selber aufgeklärt wurden. Die Themen sind heute dieselben wie früher.
An der Umfrage haben über 1000 Schüler teilgenommen. Demnach sind 89 Prozent mit dem (die schulische Aufklärung) ergänzenden Angebot «zufrieden» bis «sehr zufrieden». Die Altersgruppe der 12- bis 14-Jährigen interessierte sich besonders für konkrete Fragen: «Ist das Kondom sicher genug oder muss ich auch die Pille nehmen? Warum werden aus Jungs Machos? Ist es normal, wenn ich blasen grusig finde?»
«Die Jugendlichen schätzen an unserem Angebot besonders, dass sie ihre Fragen anonym stellen können und diese dann in geschlechtergetrennten Runden thematisiert werden», sagt Lilo Gander, Fachperson sexuelle Gesundheit in Bildung und Beratung bei «Lust und Frust».
Knapp 80 Einsätze führt die Fachstelle jährlich durch. Für das laufende Schuljahr sei man längst ausgebucht. «Die Nachfrage ist viel höher als unser Angebot», sagt Gander. Von über 100 Anfragen konnte man bloss 78 berücksichtigen.
«Die Jugendlichen verifizieren ihre Informationen selber. Sie wollen prüfen, ob das richtig oder falsch ist, was sie gehört oder gelesen haben», sagt Lilo Gander. Beispiel Pornos: Wenn man Jungs danach frage, ob Sex genau so funktioniere, verneinen sie und sagen, vieles sei gespielt.
«Entgegen der Annahme von Erwachsenen können die Jugendlichen Fiktion und Wirklichkeit
gut abstrahieren», sagt Gander. Die Fachfrau ist überzeugt: «Die Jugendlichen von heute sind gut aufgeklärt.»
Die Schweiz weist europaweit eine der tiefsten Raten von Teenagerschwangerschaften aus, also ungewollte Schwangerschaften von unter 18-Jährigen. Gander: «Das hat auch damit zu tun, dass sich Jugendliche heute auf verschiedenen Kanälen über Sexualität informieren können. »
Aufklärung schon ab Geburt
Aufklärung kann nicht früh genug beginnen, sagen Fachleute. Sie plädieren für eine «Aufklärung ab Geburt». Nähe, Liebe, Körperkontakt – Bezugspersonen tragen entscheidend dazu bei, dass sich ein Kind im eigenen Körper wohlfühlt und entsprechend Grenzen setzt, wenn es etwas nicht mag.
Man darf kindliche Sexualität niemals durch die Brille der erwachsenen Sexualität sehen.
Ulrike Schmauch, Professorin für Sexualpädagogik
«Wer sich sicher fühlt, geht auch selbstsicher mit der eigenen Sexualität um», sagt Lilo Gander. Im Grundsatz gilt: Die sexuelle Entwicklung von Kindern wird von Erfahrungen und Erlebnissen geprägt, die nicht im engeren Sinn sexuell sind. So umschreibt es Bernadette Schnider-Oester, Sexualpädagogin bei der Fachstelle «Berner Gesundheit»: «Damit Aufklärung in der Familie gelingen kann, müssen Eltern auf ihr Kind zugehen und nicht warten, bis das Kind Fragen stellt.»
Es gelte, bewusst und nicht zu spät zu entscheiden, welche Aufgaben die Eltern selbst übernehmen möchten und welche sie mit gutem Gefühl der Schule, den Gleichaltrigen oder den Medien überlassen möchten.
Eltern tun gut daran, ihren Kindern zu vermitteln, dass Sexualität etwas Schönes ist. Und nicht in erster Linie etwas, das Sorgen bereitet.
«Man darf kindliche Sexualität niemals durch die Brille der erwachsenen Sexualität sehen», sagt Ulrike Schmauch, Professorin für Sexualpädagogik an der Frankfurt University of Applied Science in einem Interview mit der «ZEIT».
Während Erwachsene auf der Suche nach Lustgewinn stark auf den Orgasmus fixiert sind, unterscheiden Kinder – zumindest die jüngeren – nicht zwischen Zärtlichkeit, Sinnlichkeit und genitaler Sexualität. Sie nutzen einfach jede Gelegenheit, um mit allen Sinnen schöne Gefühle zu bekommen. Das Sexuelle ist dabei mehr auf sich bezogen, spontan und unabhängig von Liebe und anderen Vorstellungen, die Erwachsene oft damit verbinden.
Eltern müssen ihre Kinder nicht zu Doktorspielen anleiten. Aber Kinder brauchen Rückzugsorte, wo sie ihren Körper erkunden können.
Ulrike Schmauch, Professorin für Sexualpädagogik
Eltern kennen das: Wenn Kinder etwas interessiert, fragen sie nach. Egal, um was es dabei geht: Die Frage, warum Frauen kein «Zipfeli» haben, interessiert sie ebenso wie die Entstehung von Nebel oder ob es Gott sei, der in der Kirche wohnt. Sie fragen, scherzen und provozieren – um herauszufinden, was sie zu wem wie sagen können.
«Die sexuelle Neugier gehört zu einer gesunden Entwicklung», sagt Schmauch in der «ZEIT». Dabei müsse man Kinder nicht wie früher aktiv zu Doktorspielen anleiten, sondern «es ihnen einfach ermöglichen und entsprechende Rückzugsorte bieten».
Die Möglichkeit, einen solchen Ort zu haben, ist enorm wichtig für die gesunde sexuelle Entwicklung. «Kinder brauchen Erwachsene, die dem Thema Körperlichkeit und Lust neugierig und entspannt gegenüberstehen. Die in der Lage sind, die kindlichen Bedürfnisse gegenüber ihren eigenen Bedürfnissen zu abstrahieren », sagt Sexualpädagoge Bruno Wermuth.
Schutzalter: Das sagt das Gesetz
Sexuelle Handlungen von Erwachsenen (ab 16 Jahren) mit Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren sind verboten. Beträgt der Altersunterschied zwischen Jugendlichen jedoch weniger als 3 Jahre, ist die sexuelle Handlung nicht strafbar. So darf ein 17-Jähriger mit seiner 15 Jahre alten Freundin schlafen, nicht jedoch eine 18-Jährige mit ihrem 14-jährigen Freund.
Auch die Eltern tragen Verantwortung: Wenn sie von unerlaubten sexuellen Handlungen wissen, machen sie sich ebenfalls strafbar. Für Abhängigkeitsverhältnisse gilt ein Schutzalter von 18 Jahren. Das heisst, dass Lehrpersonen, Trainer/innen, Jugendarbeiter/innen oder auch Eltern keine Liebesbeziehung mit unter 18-Jährigen eingehen dürfen.
«Erwachsene sollen bestimmte Bereiche, Orte und Freiräume den Kindern überlassen, damit sie dort frei spielen können und sich nicht ständig beobachtet, bevormundet und kontrolliert fühlen.» Das bedingt, dass Erwachsene mit ihrer eigenen Geschlechtsidentität im Reinen sein müssen. Denn nur dann seien sie in der Lage, Geschehenes einzuordnen oder entsprechend zu reagieren, wenn sich Kinder anders verhielten als erwartet, so Wermuth.
Sexuell aufgeklärte Jugendliche haben, wie verschiedene Untersuchungen zeigen, später den ersten Geschlechtsverkehr (in der Regel mit 17 Jahren), experimentieren weniger und setzen sich weniger dem Risiko aus. Eltern tun also gut daran, ihrem Kind zu vermitteln, dass Sexualität etwas Schönes, Lustvolles ist und nicht in erster Linie etwas, das Sorge bereitet. So wie Max und Beni in ihrem unschuldigen nachmittäglichen Spiel.
Die Bilder zu diesem Dossier stammen von den Fotografinnen Sian Davey und Ruth Erdt. Die Britin Sian Davey führte während 15 Jahren eine Psychotherapiepraxis, seit 2014 arbeitet sie als Fotografin. Ruth Erdts bekannteste Fotoarbeiten sind «The Gang» und «Die Lügnerin». Für Fritz+Fränzi fotografierte die Zürcherin bereits das Dossier «Pubertät» (9/2015).
- Sexualaufklärung in der Schule: www.bag.admin.ch, Stichwort: Themen: HIV und Aids/Fachpersonen/ Sexualpädagogik
Claudia Marinka
ist Journalistin mit Schwerpunkt Gesellschaftsfragen. Die zweifache Mutter lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Zürich.
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