Fern von Pornos: Reden wir über Sex - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Merken
Drucken

Fern von Pornos: Reden wir über Sex

Lesedauer: 4 Minuten

Mit seinen Kindern über Sexualität zu reden, ist so wichtig wie eh und je. Das Internet ist hier kaum eine Hilfe, im Gegenteil. Aber: Versuchen Sie es doch einmal mit der Netflix-Serie «Sex Education»!

«Sex Education» heisst eine britische Serie des Streamingdienstes Netflix. Allein der Titel dürfte manchen Eltern einen Schrecken einjagen. Er klingt nach einer modernen Aufklärungsdoku mit expliziten Darstellungen. Tatsächlich ist «Sex Education» eine ganz normale Unterhaltungsserie mit Protagonisten im Teenageralter.

Die Handlung der insgesamt acht Folgen verläuft etwa so:

Im Mittelpunkt steht der 16-jährige Otis, Sohn einer Sexualtherapeutin, die offen promiskuitiv lebt. In der Schule fühlt sich Otis von Maeve angezogen, dem Mädchen mit den rosa Haaren und dem schlechten Ruf.

Durch Zufall entdecken beide, dass Otis seinen Klassenkameraden erstaunlich gute Sextipps geben kann. Die chronisch klamme Maeve macht daraus ein cleveres Business: Sie besorgt aus der Schülerschaft die zahlungskräftigen «Klienten», und Otis erteilt ihnen in seiner empathischen Art Ratschläge – obwohl er selbst extrem gehemmt ist und gar keine eigenen sexuellen Erfahrungen hat. Noch nicht einmal in Sachen Masturbation.

Weil die ersten beiden Folgen sehr klamaukig und übertrieben fröhlich daherkommen, schalten Erwachsene vermutlich schon nach wenigen Minuten ab. Frei nach dem Motto: Bitte nicht noch eine alberne Teenager-Serie! Doch dranbleiben lohnt sich unbedingt. Bereits in der dritten Folge ändert sich die Tonalität – es wird ernst, traurig und sehr berührend.

Wann haben Sie das letzte Mal mit ihren Kindern über Sex gesprochen?

Die Serie ist ein guter Anlass, mal darüber nachzudenken, wann wir das letzte Mal mit unseren Kindern über Sex gesprochen haben.

Internetpornos wirken verstörend 

Solange Kinder klein sind, fällt es vielen Eltern leichter, sie aufzuklären, flankiert vom sachlichen Biologieunterricht, der auch Fortpflanzung und Verhütung behandelt. Doch Sexualität ist weitaus komplexer. Wenn Sex immer noch eines der grossen Tabuthemen in der Erziehung ist, liegt das nicht allein an uns Eltern. Vielmehr ist es deshalb so schwierig, mit Teenagern offen über Sexualität zu sprechen, weil es ihnen besonders unangenehm und peinlich ist, mit den Eltern darüber zu reden.

Jetzt könnten wir Erwachsene auf die verwegene Idee kommen, dass die Entdeckung der eigenen Sexualität in Zeiten des Internets viel einfacher sein müsste als bei uns seinerzeit. Durch das Web kommen Kinder spielend leicht an pornografische Inhalte heran. Das Netz ist heute der einfachste und anonymste Weg, um die eigene Neugier zu befriedigen. Falls Sie das nicht glauben, können Sie ja mal den Begriff Porno in der Bildersuche von Google eingeben und staunen, was da erscheint.

Hinzu kommen eindeutige Websites wie YouPorn, denen kaum ein Jugendlicher in einem unbeobachteten Moment zu widerstehen vermag. Dieser digitale Zugang mag zwar vieles vereinfachen, allerdings können deren Inhalte das Bild der Jugendlichen von Sexualität auch in negativer Weise beeinflussen. Sie beschädigen es sogar, wenn bestimmte Videoaufnahmen bei Mädchen und Jungen den Eindruck vermitteln, dass Sex ein Leistungssport mit mechanischen Bewegungen sei. Von allerhand abnormen Varianten mal ganz abgesehen.

Kein Wunder also, wenn Jugendliche aus solchen Angeboten eher verstörter als aufgeklärter hervorgehen. Einige von ihnen machen durch diese falschen Vorbilder körperlich schmerzhafte Erfahrungen und finden vielleicht darum keinen Gefallen mehr am Sex.

In solchen Zeiten übernimmt die Serie «Sex Education» eine ganz besondere Funktion, die über gute Unterhaltung weit hinausgeht.

Die Medien setzen Teenager massiv unter Druck

Die Entdeckung der eigenen Sexualität ist eben trotz Internet nicht leichter geworden. Wenn in der Serie ein Junge keinen Spass mehr am Sex mit seiner Freundin hat, ein anderer sich mit den Problemen als Homosexueller herumschlagen muss und ein Dritter vor dem ersten Sex gar eine Panikattacke erleidet, ist das für den jugendlichen Zuschauer zwar unterhaltsam und witzig, aber ebenso tröstend und ungeheuer entlastend. Die Rat- und Hilflosigkeit der unterschiedlichen Protagonisten nimmt jungen Zuschauern die eigene Angst und zeigt, dass es ihnen nicht alleine so ergeht.

Schliesslich ist in der Pubertät die Sexualität wesentlicher Bestandteil der Ich-Findung. Nur schaffen die Medien eine Öffentlichkeit, die Kinder und Jugendliche massiv unter  Druck setzt. Im Netz und beim Zappen werden sie mit unterschiedlichsten Sexpraktiken konfrontiert. Da findet ein starker Bruch statt: auf der einen Seite die plakativen sexuellen Darstellungen – fast ohne Tabus; auf der anderen Seite der noch voll mit sich und der eigenen Entwicklung beschäftigte Teenager, was ein hohes Mass an eigener Intimität und Zurückgezogenheit benötigen würde. 

Zudem wollen Jugendliche meist nicht sofort mit aktiven Sexhandlungen und einem Partner beginnen, sondern zuerst sich, den eigenen Körper und die eigenen Bedürfnisse entdecken. 

Wenn in der Serie ein Junge keinen Spass mehr an Sex hat und ein anderer Panikattacken davor erleidet, kann das für Jugendliche tröstlich sein.

Bis es dann zum ersten gemeinsamen Entdecken und Ausprobieren mit einem Partner kommt, hilft neben «Sex Education» auch eindeutige Aufklärungsliteratur, die auch kommentarlos irgendwo in der Wohnung herumliegen kann. Bücher haben den Vorteil, dass sich die Jugendlichen damit zurückziehen können, um sich im eigenen Tempo mit dem Thema auseinanderzusetzen. Gleichzeitig bieten sie aber auch die Möglichkeit, sich mit vertrauten Menschen, etwa der allerbesten Freundin, über Sexualität auszutauschen.

Auch wir Eltern sollten dennoch als Ansprechpartner zur Verfügung stehen, ohne uns aufzudrängen. Eltern können – fern von Sexbomben und Pornostars – eine gesunde und stabile Normalität vermitteln. Denn auch nach dem ersten Sex der Mädchen und Jungen gibt es immer noch sehr viele Fragen, die auch die beste Serie der Welt nicht beantworten kann. Wir Eltern aber schon.


Tipps zum Umgang mit dem Thema Sex: 

  • Sex ist zunächst mal etwas Schönes
  • Verhütung ist wichtig, darüber muss gesprochen werden
  • Bitte keine anzüglichen Reden und Zoten
  • Keine Witze über den Körper des Kindes
  • Rückzugsmöglichkeiten anbieten
  • Aufklärungsliteratur nicht aufdrängen, sondern herumliegen lassen
  • Ansprechpartner bei Fragen bleiben
  • Keine Verhöre zum Thema Sexualität und Freunde
  • Privatsphäre des Kindes akzeptieren; auch wenn kleine Kinder kein Problem mit der eigenen Nacktheit haben, wächst bei Kindern und Jugendlichen die Scham
  • Schauen Sie sich «Sex Education» an und machen Sie sich ein eigenes Bild

Thomas Feibel
ist einer der führenden ­Journalisten zum Thema «Kinder und neue Medien» im deutschsprachigen Raum. Der Medienexperte leitet das Büro für Kindermedien in Berlin, hält Lesungen und Vorträge, veranstaltet Workshops und Seminare. Zuletzt erschien sein Elternratgeber «Jetzt pack doch mal das Handy weg» im Ullstein-Verlag. Feibel ist verheiratet und Vater von vier Kindern.

Alle Artikel von Thomas Feibel