Eine bewusste Erziehung muss man sich erst leisten können
Gute Eltern schimpfen nie, gönnen sich Auszeiten und begleiten ihr Kind bindungsorientiert. Solche Überzeugungen sind nicht nur arrogant, sie grenzen auch viele aus, schreibt Autorin Nora Imlau.
Vorurteile haben wir alle, und der meisten sind wir uns nicht bewusst. In den letzten Jahren ist zum Glück Bewegung in die Sache gekommen: Immer mehr Menschen machen sich gegen Rassismus oder Sexismus stark, auch bei der Kindererziehung. Antirassistische Kinderbücher füllen die Regale von immer mehr Kitas, und immer mehr kleine Mädchen lernen früh, dass sie alles sein dürfen, nicht nur Prinzessinnen.
Eine Diskriminierungsform haben ausgerechnet wir modernen, aufgeklärten, sehr bewusst viele Dinge anders machenden Eltern nicht auf dem Schirm: Klassismus, also die Abwertung von Menschen, die tatsächlich oder in der eigenen Wahrnehmung einer niedrigeren sozialen Schicht angehören.
Beispiel gefällig? Wenn auf einem Spielplatz zwei Kinder spielen und eins hat blonde Wuschellocken und ein gelbes Merinojäckchen an, und eins hat einen Undercut mit einrasierten Blitzen an den Seiten und trägt eine Paw-Patrol-Jacke – welches Kind ordnen wir ganz selbstverständlich welchem sozialen Milieu zu? Und welches Kind würden wir lieber zu uns nach Hause zum Spielen einladen?
Ein neues Set sozialer Codes
So gern wir uns auch einreden, wir machten zwischen Kindern keinen Unterschied: Die soziale Herkunft am Aussehen und Verhalten von Menschen ablesen zu wollen, hat in unserer Gesellschaft eine lange Tradition. Schon in den 1960er-Jahren schrieb der Soziologe Pierre Bourdieu darüber, dass wir alle darum bemüht seien, unseren Status durch das Beherrschen bestimmter sozialer Codes zu markieren, die immer auch eine Abgrenzung nach unten bedeuteten. Heisst konkret: Wer sich als etwas Besseres fühlen will, braucht Menschen, von denen er sich abheben kann – weil sie ärmer sind oder weniger gebildet, weil sie weniger Geschmack oder weniger Privilegien haben.
Bindungsorientierte Eltern erheben sich gerne über die, die das nicht so gut hinkriegen. Mit der Erziehung. Der Ernährung. Dem Holzspielzeug.
In den vergangenen Jahren hat dabei ausgerechnet die sogenannte bindungsorientierte Elternschaft, die auf liebevolles Begleiten auf Augenhöhe und eine Erziehung ohne Strafen setzt, ein neues Set sozialer Codes mit sich gebracht, die heute häufig bewusst oder unbewusst zur sozialen Abgrenzung nach unten genutzt werden. Ohne Schimpfen zu erziehen, ist eben nicht nur eine Frage der pädagogischen Haltung, sondern auch ein Distinktionsmerkmal, mit dem ich mich als Mutter oder Vater über andere erheben kann, die das nicht so hinkriegen. Mit der Erziehung. Der Ernährung. Dem pädagogisch wertvollen Holzspielzeug.
Bildungsorientierte Eltern bleiben in ihrer Blase
Nicht falsch verstehen: Ich bin eine grosse Befürworterin des bindungsorientierten Begleitens von Kindern. Für mich gibt es nichts Wichtigeres, als Menschen jeden Lebensalters mit Wertschätzung und Respekt zu begegnen. Doch gerade weil es mir so wichtig ist, gut mit Kindern umzugehen, sehe ich mit grosser Sorge, dass ein bindungsorientiertes Miteinander heute oft als Abgrenzungsstrategie gut betuchter Oberschicht-Eltern genutzt wird, die sich damit gegenseitig signalisieren: Wir sind anders als die breite Masse, und wir sind besser als sie.
Das Geduldhaben fällt leichter, wenn ich mir zur Entlastung eine Haushaltshilfe gönnen kann.
Ich streite die guten Absichten dahinter gar nicht ab. Klar wollen Eltern, die ihre Kinder achtsam begleiten, ebendiesen Kindern etwas Gutes tun. Was ich kritisiere, ist, dass gerade bindungsorientierte Eltern dabei gerne unter sich bleiben, in ihren privilegierten Blasen, in denen sie sich dann gemeinsam darüber empören können, dass nicht alle so achtsam mit ihren Kindern umgehen wie sie. Die Mutter neulich im Tram zum Beispiel: Wie die ihr Kind angemeckert hat! Das hätte man auch friedlicher lösen können!
Hätte man, klar. Aber das Geduldhaben fällt eben leichter, wenn ich mir zur Entlastung eine Haushaltshilfe gönnen kann, als wenn, sagen wir mal, ich selbst die Haushaltshilfe einer anderen Familie bin. Heisst konkret: Was vielen guten, liebevollen, zugewandten Eltern heute ganz massiv fehlt, ist ein Bewusstsein dafür, wie stark ihre eigenen Privilegien dazu beitragen, sich anderen in Sachen liebevolle Erziehung überlegen fühlen zu können – und ein ehrlicher Umgang damit, wie sehr Geld und Bildung dabei helfen, das bindungsorientierte Zugehörigkeits-Game mitspielen zu können.
Mit Geld lässt sich so manches Problem lösen
Liebevolle Elternschaft ist längst keine reine Haltungssache mehr, sie ist mittlerweile auch fest verknüpft mit bestimmten Konsumentscheidungen. Für gesunde Barfussschuhe und einen besonders sicheren rückwärtsgerichteten Kindersitz. Ein gewebtes Tragetuch und ein Beistellbettchen. Für handgefertigte Puppen aus Stoff, Wolle-Seide-Hemdchen und gefilztes Obst für den Kaufladen aus Holz. Für den teuren Privatkindergarten mit dem besonderen pädagogischen Konzept und natürlich auch für die Privatschule, an der es keine Noten gibt.
Ein achtsames Familienleben ist immer auch die Folge von sehr viel Glück, dem richtigen Bildungshintergrund und einem gut gefüllten Geldbeutel.
An dieser Stelle ist es vielleicht wichtig, zu erwähnen, dass mich der Klassismus unter Familien auch deshalb so wütend macht, weil ich selbst zu diesem privilegierten Kreis gehöre, der seinen Kindern alles so viel leichter machen kann. Wir leben in einem grossen Haus mit Garten und einem Zimmer für jedes Kind, und ich selbst mache mir mein Mutterleben ständig mit Abkürzungen leichter, die man sich erst mal leisten können muss: Wir lassen uns regelmässig Lebensmittel liefern, haben eine Haushaltshilfe und eine Babysitterin. Und nachdem eins unserer Kinder Lernschwierigkeiten in der öffentlichen Schule hatte, geht es mittlerweile auf eine teure private Montessori-Schule, wo es in seinem Tempo lernen kann.
Die Merino-Wolljäckchen-Welt
So ist das mit Privilegien: Man kann sich damit aus so manchem Problem schlicht herauskaufen. Und sich das Leben damit so viel leichter machen. Und gerade weil ich das selbst in meinem Alltag immer wieder merke, kann ich es nicht mehr ertragen, mit welcher Selbstgerechtigkeit unter Eltern oft über andere Eltern gesprochen wird. Als wäre ein achtsames, entschleunigtes, zugewandtes Familienleben einfach nur eine Frage der richtigen Haltung. Und nicht immer auch die Folge von sehr viel Glück, unter besonders günstigen Rahmenbedingungen Kinder begleiten zu können. Mit dem richtigen Bildungshintergrund und einem gut gefüllten Geldbeutel für all die hübschen Dinge, die uns als Teil der Community markieren.
Was all diese gut sichtbaren Merkmale, welcher sozialen Gruppe man sich zugehörig macht, für einen immensen Unterschied erzeugen, zeigt das Beispiel meiner Freundin Sarah sehr schön. Sie ist eine typische Mutter aus dem sozial-ökologischen Milieu, gut gebildet und finanziell gut aufgestellt, mit dem für ihre soziale Blase typischen Lastenrad, in dem sie gerne ihre dreijährigen Zwillinge transportiert, natürlich stilecht gekleidet in Wolljäckchen und Mützen in Naturfarben.
Schon öfter wurde sie beim Einkaufen oder auf dem Spielplatz von anderen Müttern angesprochen, die ähnlich aussahen wie sie: Ob ihre Kinder auch den Montessori-Kindergarten besuchen würden? Ob sie mit zum Waldorf-Basar kommen wolle am Wochenende? Ob man mal gemeinsam einen Nachmittag auf dem Abenteuerspielplatz verbringen möchte?
Neue Kontakte dank Discounter-Matschhose
Dann war vor einigen Wochen ihr Lastenrad kaputt, das Wetter schlecht und die Laune auch. Also packte Sarah ihre Zwillinge kurzerhand in geerbte Matschhosen aus dem Discounter und ging jeden Tag zu Fuss mit ihnen raus, Pfützen hüpfen. Und kam auf einmal in Kontakt mit völlig anderen Eltern, deren Kinder auch billige Matschhosen trugen und die sie nicht in der Montessori-Waldorf-Welt verorteten, sondern sie fragten, ob sie nicht mal zusammen zum Indoor-Spielplatz gehen wollten.
Viele der Eltern sprachen gebrochen Deutsch, manche trugen ein Kopftuch, doch die Eltern gingen nicht weniger liebevoll mit ihren Kindern um. Nur anders. Sarah hatte das Gefühl, in ihrer eigenen Stadt plötzlich in einer ganz anderen Welt gelandet zu sein – und das nur, weil sie und ihre Kinder ein bisschen anders aussahen als sonst.
Ein Extrembeispiel? Mag sein. Doch was es zeigt, ist, dass wir uns alle keinen Gefallen damit tun, wenn wir klassistische Codes aufrechterhalten – etwa, indem wir unseren Kindern verbieten, Shirts mit Disney-Aufdrucken zu tragen, weil die für uns «irgendwie nach Ghetto» aussehen. Denn was bedeutet diese Zuschreibung? Doch im Grunde nichts anderes, als dass wir bestimmte Kleidungsstücke, Frisuren, Spielzeuge und Hobbys mit armen, oft zusätzlich auch noch migrantischen Milieus verbinden. Von denen wir uns augenscheinlich abgrenzen wollen. Aber warum eigentlich?
Wir müssen unsere Vorurteile überwinden
Wem es ernst ist mit der diskriminierungssensiblen, zugewandten Elternschaft, der sollte sich doch nicht gegen ein ominöses «Unten» abgrenzen wollen – auch nicht aus jener obskuren Abstiegsangst heraus, die gerade Eltern aus der Mittelschicht so oft befällt. Denn Kindern vorzuleben, weltoffene Menschen zu sein, geht nicht mit einer Abwertung augenscheinlich niedrigerer sozialer Schichten zusammen.
Wir sollten unsere Kinder nicht mehr als Werkzeuge unserer Selbstüberhöhung benutzen, indem sie so aussehen und spielen sollen, wie es unserem Selbstbild als Eltern entspricht.
Stattdessen wünsche ich mir, dass wir die so guten, richtigen und wichtigen bindungsorientierten Ideen wie die Hinwendung zum Kind, das aktive Zuhören, das Verstehen und Beantworten von Bedürfnissen und den Verzicht auf Strafen herauslösen aus dem elitären Selbstverständnis, wonach nur Menschen mit der richtigen Kleidung, den richtigen Spielsachen und der richtigen Ernährung Teil des Clubs sein dürfen, und unsere Elternschaft ganz bewusst öffnen für ganz unterschiedliche soziale Codes.
Schritte gegen den Klassismus
Ein erster Schritt dahin kann sein, unsere Kinder nicht mehr als Werkzeuge unserer Selbstüberhöhung zu benutzen, indem wir darauf bestehen, dass sie so aussehen, so spielen und so auftreten, wie es unserem Selbstbild als Eltern entspricht. Sondern dass wir unseren Kindern zugestehen, Prinzessin-Elsa-Kleider und blinkende Plastikspielzeuge genauso zu lieben wie Kurzhaarfrisuren mit einrasierten Sternen und Paw-Patrol-Anorak. Denn ein bindungsstark gross werdendes Kind erkennt man nicht an seinem Wolljäckchen. Sondern daran, dass seine Eltern es seinen eigenen Geschmack finden lassen, jenseits aller klassistischen Zuschreibungen.
Der zweite Schritt, um Klassismus zu bekämpfen, ist jedoch ein politischer: Es muss schlicht mehr Geld her für Familien, und zwar gerade für die nicht so gut betuchten. Es braucht Sozialleistungen für Familien, die in Armut leben, und zwar nicht in Form von Gutscheinen, sondern von Geld auf dem Konto. Das ist es, was Eltern Entlastung bringt und ihnen ermöglicht, tatsächlich weicher mit ihren Kindern umzugehen. Denn dass arme Eltern ihr Geld lieber für Flachbildfernseher und Zigaretten ausgeben würden, als es ihren Kindern zugutekommen zu lassen, ist ein weiteres klassistisches Klischee, das wir dringend überwinden müssen.
Liebevoll mit Kindern umgehen zu wollen, ist keine Frage des sozialen Hintergrunds. Es zu können, manchmal schon.