Kommunikation: «Kein Mensch kann immer empathisch sein»
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«Kein Mensch kann von morgens bis abends empathisch sein»

Lesedauer: 4 Minuten

Ein Anliegen der Kinder- und Jugendpsychologin Claudia Brantschen ist es, Eltern in ihrem anspruchsvollen Familienalltag zu unterstützen. Wie es gelingt, beziehungsstärkend zu kommunizieren, erklärt sie im Gespräch.

Interview: Susanna Valentin
Bild: Sophie Stieger / 13 Photo

Frau Brantschen, wie stark sind Kommunikation und Beziehung miteinander verknüpft?

Überaus stark! Sie stehen in einer Wechselwirkung zueinander. Die Art der Kommunikation ist gelebte Beziehung, sie ist viel mehr als nur das Übermitteln von Sachinformationen. Sie liefert immer auch Zusatzinfos, wie das Gegenüber sich fühlt und was es denkt.

Im Umkehrschluss heisst das auch, dass die bestehende Beziehung darauf einwirkt, wie etwas verstanden oder eingeordnet wird. Sage ich meinem Kind zum Beispiel: «Dein Zimmer ist ein bisschen unordentlich», dann kann das verschieden aufgefasst werden. Ist es nun Kritik, Aufforderung oder ein Hilfsangebot, ihm beim Aufräumen zu helfen? Der gleiche Satz kann Unterschiedliches auslösen.

Was hilft dabei, sich besser zu verstehen?

Im Alltagsstress hören wir oft nicht richtig zu, gerade wenn wir das Gegenüber gut kennen. Es gilt immer wieder genau hinzuhören und als Eltern keine vorgefestigte Meinung vom eigenen Kind zu haben. Aufmerksames Zuhören sendet die Botschaft: «Du bist wichtig.» Dies macht das Gegenüber offen für gelingende Kommunikation.

Claudia Brantschen verfolgt in ihrer Arbeit als Kinder- und Jugendpsychologin und -psychotherapeutin in ihrer Praxis in Naters VS einen systemischen und beziehungsorientierten Ansatz. Sie ist Mutter von zwei Kindern. (Bild: zVg)

Können Sie ein Beispiel nennen?

Viele Eltern klagen darüber, dass ihr Kind morgens trödelt, wenn es sich für die Schule bereit machen muss. Dabei ist es wichtig, sich zu fragen: Was sagt mir das über mein Kind und seine Bedürfnisse, wenn es sich am Morgen beim Anziehen einfach nicht beeilen kann? Vielleicht gibt es in der Schule etwas, das es belastet, vielleicht wünscht es sich aber auch einfach einen langsameren Start in den Tag und es hilft, etwas früher aufzustehen, um mehr «Anlaufzeit» zu haben. Ein kurzes Innehalten ist an dieser Stelle oft hilfreich, gerade in Situationen, die Konflikte heraufbeschwören können. Wenn die Kommunikation auf Empathie gründet, ist sie oft viel zielführender für beide Seiten.

Sollten Eltern also auch öfter auf die Wünsche der Kinder eingehen?

Achtung! Gute Kommunikation bedeutet nicht, dass man einen Tyrannen heranzieht, der befiehlt. Dahingehend wird das Modell der bedürfnisorientierten Erziehung oft falsch dargestellt beziehungsweise verstanden. Es geht vielmehr darum, Wertschätzung für die Gefühle und Gedanken des anderen aufzubringen. Diese Wertschätzung wiederum ist wichtig für die Bildung des Selbst und kommt der Beziehung zugute. Ob die Wünsche erfüllbar sind, ist eine ganz andere Frage.

Kinder lernen sehr viel dabei, wenn Eltern Fehler machen und darüber sprechen.

Das klingt alles sehr gut, leider bleibt dafür im hektischen Alltag jedoch nicht immer die Zeit.

Natürlich geht das nicht immer. Aber: Kommunikation ist nicht einfach eine Technik, die es umzusetzen gilt. Kein Mensch ist eine Maschine, die von morgens bis abends Empathie zeigen kann. Vielmehr ist es wichtig, dass das Kind merkt: Die Bezugsperson ist ehrlich an meinem Wohlbefinden interessiert und nimmt meine Bedürfnisse wahr, ohne sie gleich zu werten. Ganz im Gegensatz zum «Hierarchie-Bonus», der zwar kurzfristig wirkt, aber der Beziehung nicht zuträglich ist. Das vermeintliche Gefühl, «die Kinder im Griff zu haben», bewirkt, dass sich diese oft nicht ernst genommen fühlen. Übrigens ein Punkt, der dann im Jugendalter während der Autonomiebildung auf die Eltern zurückfällt.

Die elterliche Haltung, das Kind als eigenständige Person ernst zu nehmen und zu respektieren, ist also ausschlaggebend für eine gute Beziehung und eine gelingende Kommunikation. Das beinhaltet auch ein gelegentliches Scheitern, oder?

Kinder lernen sehr viel dabei, wenn Eltern Fehler machen und darüber sprechen können. Das gilt auch für die Kommunikation. «Jetzt bin ich laut geworden, tut mir leid, ich habe letzte Nacht schlecht geschlafen und bin jetzt etwas dünnhäutig.» Mit solchen Erklärungen können Kinder – natürlich altersentsprechend – verstehen, warum der Elternteil auf diese Weise kommuniziert hat.

Was bewirken solche verbalen Erklärungen ausserdem?

Kinder können das Verhalten ihrer Bezugspersonen einordnen und müssen es nicht persönlich nehmen. Das wirkt sich positiv auf die Beziehung aus und fördert nebenbei ihre eigene Empathiefähigkeit. Das Benennen der eigenen Stimmung relativiert oft auch Unstimmiges und wendet es ins Positive. Gleichzeitig erhalten Kinder die Botschaft, dass das Leben nicht immer einfach ist und Fehler passieren. Und dass man aus diesen lernen kann.

Ein Glaubenssatz, der stark auf das weitere Leben einwirken kann. Sollten Kinder auch öfters ermutigt werden?

Das Ermutigen an sich kann natürlich hilfreich sein. Allerdings gibt es Momente, in denen das bewusste Ermuntern, eine Affirmation, überhaupt nicht sinnvoll ist. Wenn ich einem Kind mit ADS immer wieder sage: «Du schaffst das!», wenn es vor einem Blatt Rechnungen sitzt und es einfach nicht klappt, ist das nicht gewinnbringend. Das ist aber auch kein positiver Glaubenssatz.

Es gibt kein absolut Richtig und kein absolut Falsch, solange die Wertschätzung füreinander vorhanden ist.

Inwiefern wirken die elterlichen Werte und Haltungen ausserdem auf die Beziehungen in einer Familie ein?

Sie ziehen sich durch die verschiedenen Entwicklungsschritte der Kinder durch und werden in der Kommunikation entsprechend angepasst. Kommunikation und Beziehung sind immer dynamisch und werden von Haltung und Werten getragen. Je nach Entwicklungsphase wird unterschiedlich akzentuiert. Im Kindesalter stehen andere Bedürfnisse im Vordergrund als im Jugendalter, damit verändert sich auch die Art der Kommunikation.

Die Kommunikation in der Familie sollte also laufend angepasst werden, damit die Beziehung positiv bleibt?

Natürlich sollte man mit einem Teenager anders kommunizieren als mit einem Erstklässler, aber zentral ist: Es gibt kein absolut Richtig und kein absolut Falsch, solange die Wertschätzung füreinander vorhanden ist. Kein Podcast und kein Elternratgeber helfen, wenn diese fehlt.

Zudem hat eine gute Kommunikation auch verschiedene Ebenen in den Paar-Eltern-Kind-Beziehungen. Der Zusammenhalt und die Beziehung, die durch gute Kommunikation gepflegt werden können, bringen einen enorm unterstützenden Aspekt mit sich.

Wie wirkt sich dieser auf die Familie aus?

Die Familie ist mehr als die Summe der einzelnen Mitglieder. Ein Wir-Gefühl innerhalb der Familie kann sehr identitätsstiftend sein, wirkt sich auf das «Immunsystem» der Familie aus und macht resistenter in Krisen. Gute Überzeugungen und Glaubenssätze, die Fähigkeit zur Empathie, etwas in eine positive Dynamik zu lenken, wird über Generationen hinweg weitergegeben. Was das für eine Wirkung auf die Gesellschaft hat, muss man sich mal vorstellen!

Susanna Valentin
schätzt das durchlässige Schweizer Bildungssystem und hat es gleich selbst genutzt. Vor vier Jahren liess sich die diplomierte Heil- und Sozialpädagogin zur Fachjournalistin ausbilden.

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