Höflichkeitsformen: «Wie heisst das Zauberwort?»
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«Wie heisst das Zauberwort?»

Lesedauer: 7 Minuten

Die meisten Eltern wünschen sich, dass ihr Kind höflich auf andere Menschen zugeht. Auf Kommando Bitte und Danke sagen müssten sie deswegen aber nicht, findet unsere Autorin und setzt auf ihre eigene Vorbildfunktion.

Text: Charlotte Theile
Bild: Stocksy

Ein gemütlicher Nachmittag im Erlebnisbad. Drei Kinder im Vorschulalter rennen von der Wasserrutsche zum Handtuchlager, jagen einander mit der Wasserpistole und bekommen irgendwann Hunger. Kaum liegen die mitgebrachten Nüssli, Maispops und Rüeblischnitze bereit, stürzen sich alle darauf. Allerdings nur für einen kurzen Moment. Dann fragt eine strenge Stimme: «Wie sagt man da?» Das Mädchen, an das sich die Frage richtet, erschrickt – und nimmt ihre Finger aus der fremden Tupperdose.

Die Stimmung, die gerade noch ausgelassen war, ist plötzlich angespannt. Mein Partner und ich rutschen peinlich berührt hin und her. Während es den anderen Eltern offensichtlich ein Anliegen ist, dass ihre kleine Tochter nur dann weiter isst, wenn sie vorher Bitte und nachher Danke gesagt hat, sind uns diese Formalitäten ziemlich egal. Mehr noch: Wir finden es viel schöner, wenn die Kinder selbstvergessen Maispops in sich hineinstopfen.

Weshalb sollen Kinder, sobald sie sprechen können, Wörter aufsagen, deren Bedeutung sie kaum verstehen?

Aber was sagt man da? «Uns ist das nicht so wichtig» oder «Lasst das Kind doch einfach essen»? Beides schwierig. Wir sagen also gar nichts – genau wie das Mädchen, das sich nach einem genuschelten «Danke» in einen Whirlpool verzogen hat.

In den nächsten Tagen sprechen wir immer wieder darüber. Warum sind diese Höflichkeitsregeln vielen Eltern so wichtig? Weshalb sollen Kinder, sobald sie sprechen können, Wörter aufsagen, deren Bedeutung sie kaum verstehen? Und ab welchem Alter ist es dann angebracht, einige grundlegende Regeln des Zusammenlebens zu befolgen?

Es gibt nur Entweder-oder

Im Internet finden sich unzählige Texte zum Thema. Es ist ein Dauerbrenner in der Erziehung – vom Spracherwerb bis weit ins Teenageralter hinein. Und nicht nur das: Es ist eines dieser Themen, die Eltern sofort in zwei Lager teilen. So tauschen die einen Tricks aus, wie man die Frage nach dem «Zauberwort» in der Öffentlichkeit stellen sollte, und vergleichen miteinander, ab welchem Alter sie die Wünsche ihrer Kinder ignorieren sollen, wenn diese ohne Höflichkeitsformel daherkommen. Die anderen lehnen den «Bitte-Danke-Zwang» grundsätzlich ab.

Die emeritierte Professorin und Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm beobachtet sogar, dass an dieser Frage regelrecht politische Kämpfe ausgetragen werden. Es gebe eine Fraktion, die versuche, aus ihren Kindern «perfekte Wesen» zu machen, die «fast wie Roboter» das Verhalten zeigen, das man von ihnen erwarte – und eine andere, die Höflichkeitsformen als «altmodisch» bis «rückwärtsgewandt» belächle.

Noch stärker als früher werden Eltern an ihrem Kind gemessen: Ist dieses frech, haben die Eltern versagt.

Doch obwohl das Thema so kontrovers ist, wünschen sich fast alle Eltern ein Kind, das Höflichkeitsformen beachtet. «Selbst die Eltern, die auf Freiwilligkeit setzen, denken natürlich darüber nach, wie sie es hinbekommen, dass ihr Kind auf der Strasse grüsst und Danke sagt», so die Erziehungsexpertin.

«Eltern werden daran gemessen, ob ihr Kind pflegeleicht und freundlich ist.» Anders gesagt: Ist das Kind frech, haben die Eltern versagt. Dieser Rückschluss sei heute noch viel stärker als vor zwanzig oder dreissig Jahren, wo Erziehung mehr nebenherlief, glaubt Margrit Stamm.

Liest man sich durch Artikel, Foren- oder Blogeinträge, fällt auf: Obwohl gerade Eltern, die bedürfnisorientiert erziehen, betonen, dass sie ihrem Kind kein «Bitte» oder «Danke» abverlangen, berichten sie oft, dass ihre Kleinen «ganz von allein» das gewünschte Verhalten zeigten. So schreibt eine Mutter: «Mittlerweile, mit knapp drei Jahren, ist er sowohl zu Hause wie auch unter Fremden das höflichste Kind der Welt, ohne dass wir es je von ihm gefordert hätten.» Ob das immer so stimmt, ist zumindest fraglich.

Schon Babys üben sich darin, Sprachmelodie, Tonfall und Rhythmus ihrer Eltern nachzuahmen.

Claudia Roebers, Entwicklungspsychologin

Eine Frage der Entwicklung

Entwicklungspsychologin Claudia Roebers betont, dass erst Schulkinder in der Lage seien, den Sinn komplexer Kommunikationsformen zu verstehen und anzuwenden. Kleinkinder bildeten dagegen oft Zwei-Wort-Sätze. Diese hören sich manchmal wie Befehle an: «Papa weg, Mama Brot.» – «So sind sie aber nicht gemeint», sagt Claudia Roebers, die als Professorin an der Universität Bern lehrt und forscht.

Dennoch fühlen sich einige Eltern unwohl dabei. Zumindest, wenn andere dabei sind. Denn sobald Kinder sprechen können, haben manche Erwachsene die Erwartung, dass sie das höflich und in ganzen Sätzen tun – eine Überforderung. «Die linguistische Kompetenz entwickelt sich über viele Jahre», sagt die Psychologin. Im Kleinkindalter gehe es zunächst darum, Bedürfnisse zu artikulieren und verstanden zu werden.

Doch bereits viel früher beginnt etwas, das als prosodische Kompetenz bezeichnet wird. «Schon Babys üben sich darin, Sprachmelodie, Ton und Rhythmus zu imitieren», sagt Claudia Roebers. «Sie ahmen den Tonfall ihrer Eltern nach» – und verstehen damit oft schon den wichtigsten Teil des gesprochenen Wortes.

Wir alle wissen: Nur weil ein «Bitte» darin vorkommt, muss ein Satz noch lange nicht freundlich sein. Kinder, die ein möglichst vielfältiges Sprachumfeld erlebten, würden auch schnell beginnen, mit Melodie zu experimentieren, beschreibt es Claudia Roebers – und: «Wenn ein Kind zum Beispiel ‹Papiiii … Schokolade?› sagt, dann ist ganz viel ‹Bitte› in diesem Satz drin – auch ohne dass es ausgesprochen wird.»

«Zu vermitteln, wie man sich in sozialen Situationen verhält, ist eine wichtige Aufgabe von Eltern», sagt Margrit Stamm, Erziehungswissenschaftlerin. (Bild: Getty Images)

Werte statt Floskeln

Bei Schulkindern und Teenagern geht es dann darum, Werte zu vermitteln. Annette Cina, die in Freiburg als Psychotherapeutin tätig ist, plädiert für offene Gespräche über Respekt und Höflichkeit. «Je besser das Kind den Sinn gewisser Höflichkeitsformen versteht, desto besser stehen die Chancen, dass es diese auch anwendet – und vielleicht sogar versteht, dass es einem gewissen Eigennutz dient, wenn andere es als höflich empfinden.» Für Cina ist es besonders der Blickkontakt, das Wahrnehmen anderer, bei dem Eltern Schulkinder motivieren können.

Wer sich wünscht, dass die eigenen Kinder höflich sind, muss zuerst einen ehrlichen Blick in den Spiegel werfen.

Auch Margrit Stamm findet: «Es ist eine wichtige Aufgabe von Vätern und Müttern, zu vermitteln, wie man sich in sozialen Situationen einordnet und verhält.» Sie persönlich störe sich sehr daran, wenn Kinder und Jugendliche im Quartier nicht grüssten, obwohl man sich natürlich kennt. «In die andere Richtung schauen und einfach vorbeilaufen, das finde ich unmöglich», sagt die Erziehungswissenschaftlerin.

Ein Grund dafür könnte auch eine gewisse Überbehütung sein, vermutet Stamm – konkret: «Viele Eltern fungieren in der Öffentlichkeit als Schutzschilder ihrer Kinder. Sie sagen dann für sie Danke und Bitte – oder setzen zu einer Entschuldigung an, nach dem Motto: Er ist halt noch ein wenig scheu.»

Um einen authentischen und respektvollen Umgang mit anderen zu lernen, brauchten Kinder Raum, um sich auszuprobieren, glaubt Stamm. Nur so könne man spüren, welche Reaktion ein bestimmtes Verhalten erzeugt. Doch dazu braucht es Eltern, die es aushalten, wenn es einmal nicht klappt und das Kind negativ auffällt.

«So wie die Eltern reden, so redet das Kind»

Letztlich ist es ohnehin fraglich, wie viel die gut gemeinten Ermahnungen bringen. Entwicklungspsychologen gehen nämlich davon aus, dass sich beim Spracherwerb – ganz ähnlich wie bei der motorischen Entwicklung – vieles von selbst ergibt. Doch auch das sogenannte Modell-Lernen kann für die Eltern zur Herausforderung werden. Entwicklungspsychologin Claudia Roebers bringt es auf die kurze Formel: «So wie die Eltern reden, so reden die Kinder.»

Wer sich also wünscht, dass die eigenen Kinder höflich sind, muss in erster Linie einen ehrlichen Blick in den Spiegel werfen – und sich fragen, welche Werte man selbst vorlebt. Begegnet man anderen Menschen mit Rücksicht? Erlebt das Kind, wie man Befehle ins Telefon bellt oder andere herumkommandiert? Spürt das Kind, dass manche Höflichkeitsformen nur aufgesetzt sind? Dass man hin und wieder Bitte und Danke sagt – und eigentlich etwas völlig anderes meint? Und überhaupt: In welchem Ton spricht man mit seinem Kind? Bittet man es, mitzukommen, oder heisst es einfach: «Wir gehen jetzt los»? Hört das Kind auch mal ein Dankeschön?

«Kinder in der Öffentlichkeit blosszustellen, ist keine gute Idee – sie schämen sich nur und werden scheu», sagt Annette Cina, Psychotherapeutin. (Bild: Getty Images)

Diese Fragen sind oft nicht besonders bequem. Höflichkeitsformen laut einzufordern, ist einfacher. Man signalisiert damit, dass man weiss, was sich gehört – und, natürlich, dass man die Erziehungsaufgabe ernst nimmt. Psychotherapeutin Annette Cina rät trotzdem davon ab.

«Kinder in der Öffentlichkeit blosszustellen, ist keine gute Idee – sie schämen sich nur und werden scheu.» Das Ergebnis sei oft das Gegenteil von dem, was man sich wünscht. So sehen das fast alle Expertinnen und Experten. Auch diejenigen, die praktische Tipps geben, wie man seine Kinder möglichst schnell dazu bringt, die begehrten Worte auszusprechen, raten zu Diskretion, zum Flüsterton.

Eigenständige Formen sind wichtig

Und doch gibt es wohl kaum Eltern, die noch nie das reflexhafte «Wie sagt man da?» ausgesprochen haben. Schliesslich haben die meisten diesen Satz in ihrer eigenen Kindheit hundertfach gehört.

Zu dieser Erinnerung gehört jedoch meist auch ein ziemlich beklemmendes Gefühl. Auf Kommando Bitte und Danke sagen, das hat sich nicht besonders gut angefühlt. Vielleicht auch, weil diese erwachsenen Formeln keinen Platz mehr für den eigenen Ausdruck von Freude oder Dankbarkeit gelassen haben. Denn auch die gibt es. Sei es das zerdrückte Blatt, das einem ein Zweijähriger als Gegengeschenk überreicht, oder das anerkennende «Du bist korrekt», das einem die Zwölfjährige beiläufig rüberschiebt.

Für Claudia Roebers sind gerade diese eigenständigen Formen von Dankbarkeit und Respekt wichtig: «Wir sollten uns von dem Gedanken lösen, dass man nur mit Worten Bitte oder Danke sagen kann.» Sie plädiert daher dafür, im Zweifel Ehrlichkeit und Authentizität höher zu werten.

Soweit also die Theorie. Denn auch Claudia Roebers kennt das Gefühl, dass sie sich von ihren Kindern nicht nur eine Umarmung, sondern auch ein Dankeschön gewünscht hätte. Es gehe mal besser, mal etwas harziger, je nach Situation. Sie versuche aber, sich in Geduld zu üben. «Bei meinem Grossen klappt es im Moment ganz gut, bei der Jüngeren ist es etwas schwieriger.» Wie alt ihre Kinder seien? Claudia Roebers lacht. «Sie sind 25 und 22 Jahre alt.»

Einen ähnlich entspannten Umgang wünschen wir uns auch. Aber wie verhalten wir uns in der Zwischenzeit, wenn wir wieder einmal in eine Erlebnisbad-Situation geraten? Wenn irgendwo die Stimmung kippt, weil es ohne Zauberwort nicht weitergeht? Wir haben uns vorgenommen, ehrlich zu sein – und zum Beispiel zu sagen, dass es an dieser Stelle für uns kein «Bitte» und «Danke» braucht. Wenn man es ganz, ganz höflich formuliert, dürfte einem doch eigentlich niemand böse sein.

Charlotte Theile
ist Autorin und schreibt über politische und gesellschaftliche Themen. Sie ist 36 Jahre alt, Mutter eines einjährigen Kindes und lebt mit ihrer Familie in Zürich.

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