Auf die Werte kommt es an
Eltern finden es wichtig, dass ihr Kind im Unterricht Werte wie Respekt, Toleranz oder Teamgeist lernt. Doch auf welche Weise kann die Schule dieser Anforderung gerecht werden?
In riesigen Buchstaben steht an der Wand: «Ich trage Sorge zu mir. Ich trage Sorge zu dir. Ich trage Sorge zur Umgebung. Wir sind miteinander unterwegs … und packen Herausforderungen gemeinsam an.» Es ist dies der Kodex der Primarschule Wetzikon-Robenhausen im Kanton Zürich, der die bisherige Schulhausordnung ersetzt.
«Wir lassen viele Regeln und damit verbundene Sanktionen weg und setzen auf Werte wie Achtsamkeit, Miteinander, Beziehung oder Wertschätzung, die uns als Schulgemeinschaft wichtig sind», sagt Primarlehrerin Bettina Abt. Im Alltag bedeute das beispielsweise, dass Kinder einen Konflikt im Gespräch möglichst selbständig lösen, statt bestraft zu werden.
Dass Kinder in der Schule Werte lernen, ist Eltern hierzulande sehr wichtig, denn diese beeinflussen soziale Beziehungen, das tägliche Handeln, unser Wohlbefinden und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Werte Toleranz und Respekt stehen auf der Wunschliste der Eltern dabei an erster Stelle – und werden sogar als noch bedeutsamer gesehen als das Erlernen der Grundfertigkeiten Lesen, Schreiben und Rechnen. Das zumindest gab die Mehrheit von 7700 Befragten an, die an der Studie «Welche Schule will die Schweiz?» der Stiftung Mercator Schweiz teilnahmen.
Die zehn menschlichen Grundwerte
Thomas Oeschger überrascht dieses Ergebnis nicht. «Bis zum Eintritt in die Primarschule ist vor allem das familiäre Umfeld prägend für die Werteerziehung. Mit der Einschulung kommt der Schule vermehrt der Auftrag zu, Werte zu vermitteln, welche in der Gesellschaft als wichtig erachtet werden – und das sehen offensichtlich auch die Erziehungsberechtigten so.» Oeschger arbeitet am Institut für Bildungswissenschaften der Universität Basel an einer Langzeitstudie zum Thema Werteentwicklung und Wertebildung in Schulen. Es gehe darum, herauszufinden, welche Schlüsselfaktoren die Wertebildung im schulischen Umfeld über die Zeit beeinflussen und wie sich die Werte der Kinder dabei entwickeln.
Für die Kinder gewinnen in der Schule diejenigen Werte an Bedeutung, die das Zusammenleben prägen.
Thomas Oeschger, Bildungsforscher
Den rund 1200 befragten Primarschulkindern wurden dabei in einem ersten Schritt verschiedene Bildkärtchen vorgelegt. Zu sehen ist darauf beispielsweise ein König auf seinem Thron, der den Wert «Macht» symbolisiert. Oder ein Kind, das einen Unfall mit dem Velo hatte und dem ein anderes Kind hilft, wieder aufzustehen – was für den Wert «Wohlwollen» steht.
«Wir haben diese Situationen aus einem Wertemodell abgeleitet, das weltweite Gültigkeit hat», sagt Thomas Oeschger. Er spricht damit das Modell des israelischen Werteforschers Shalom H. Schwartz an, das die folgenden zehn menschlichen Grundwerte enthält: Universalismus (Verständnis, Toleranz), Wohlwollen, Tradition, Konformität, Sicherheit, Macht, Leistung, Hedonismus, Stimulation und Selbstbestimmung.
Welche Werte haben Kinder?
Die Kinder im Alter von fünf bis sieben Jahren entschieden sich mehrheitlich für Wohlwollen als für sie wichtigsten Wert, also dafür, dass es Menschen, die ihnen nahestehen, gut gehen soll. «Ausserdem war ihnen wichtig, dass sie sich in ihrem Umfeld sicher fühlen», sagt Thomas Oeschger. Auch die befragten Lehrpersonen gaben an, dass Wohlwollen an der Spitze ihrer persönlichen, wertebezogenen Erziehungsziele steht. Und der Lehrplan für Schweizer Schulen – und damit auch das, was die Gesellschaft erwartet – deckt sich Oeschger zufolge auch weitgehend mit den Umfrageergebnissen der Kinder und Lehrpersonen.
«Diese Übereinstimmungen führen dazu, dass die Werte, welche die Kinder aus den Familien heraus mitbringen, in der Schule weiter gefestigt werden», sagt Thomas Oeschger. Nach einem Schuljahr befragte das Forschungsteam aus Basel die Primarschulkinder erneut. Dabei zeigte sich, dass Werte wie Wohlwollen und Sicherheit an Bedeutung gewannen, während Werte wie Macht oder Leistung, die sich schon bei der ersten Wertepriorisierung ganz unten befunden hatten, weiter an Bedeutung verloren. «In der Schule kommen Kinder aller sozioökonomischer Schichten zusammen, darunter auch Einzelkinder. Für sie alle werden somit Werte bedeutsamer, die das Zusammenleben prägen», sagt Oeschger.
Vorleben und Vorbild sein
Bleibt die Frage, wie Schulen konkret vorgehen, wenn sie Werte vermitteln. In der Primarschule Wetzikon-Robenhausen war es das Kollegium der Lehrkräfte, das die wichtigsten Werte für die Schule bestimmte. Darauf gab es einen Elternabend, um die Erziehungsberechtigten zu informieren, und zwei Schultage, an welchen den Kindern gezeigt wurde, was die Werte bedeuten.
«Wir haben das sehr spielerisch gemacht. Bei der Wertschätzung beispielsweise haben sich die Kinder gegenseitig Dinge aufgeschrieben, die sie am anderen schätzen, und dann damit Schnipp-Schnapp gespielt», sagt Bettina Abt. Künftig werde in jedem Schuljahr der Schwerpunkt auf einen Wert gesetzt, der dann in verschiedenen Fächern aufgegriffen wird.
Kinder müssen zuerst lernen, ihre Gefühle wahrzunehmen, damit sie Werte überhaupt umsetzen können.
Matthias Rüst, pädagogischer Leiter Momento Swiss
«Neben dieser expliziten Vermittlung im Unterricht übermitteln Lehrpersonen Werte vor allem auch durch ihre implizite Haltung, also durch Vorleben und Vorbildsein», sagt Thomas Oeschger. Dieses Vorleben ist vor allem darum wichtig, weil «Werte» ein sehr theoretischer und vieldeutiger Begriff ist.
«Ich habe einige Jahre in Kolumbien gelebt, da gab es zum Beispiel einen Tag der Toleranz. Schüler haben dann Plakate gemalt und Gedichte geschrieben. Ich bezweifle aber, dass sie dadurch toleranter geworden sind», sagt Matthias Rüst. Er ist Geschäftsführer und pädagogischer Leiter von Momento Swiss. Die gemeinnützige Organisation bietet Achtsamkeitsprogramme für sozio-emotionales Lernen und Beziehungsgestaltung für Lehrpersonen und Schulkinder an.
Emotionen besser wahrnehmen und ausdrücken
«Es geht darum, Schlüsselkompetenzen wie Selbstwahrnehmung, Selbststeuerung, Beziehungskompetenz und verantwortungsbewusstes Entscheiden zu stärken», sagt Matthias Rüst. Er ist überzeugt davon: Nur wenn Schülerinnen solche Lebenskompetenzen besitzen, sind sie überhaupt in der Lage, Werte auch umzusetzen.
«In der Theorie kennen die Schulkinder die geltenden Werte und die Umgangsregeln an der Schule genau. Sie wissen, dass man im Unterricht beispielsweise nicht stören soll. Die Frage aber ist doch, warum sie es trotzdem tun», sagt Matthias Rüst. Das Momento-Programm will Schüler dazu befähigen, ihre eigenen Emotionen besser wahrnehmen und ausdrücken zu können. Lehrpersonen wiederum kommt Rüst zufolge dann die Aufgabe zu, diese Emotionen ernst zu nehmen und Wege aufzuzeigen, um sie auszuleben.
Hierzu nennt er folgendes Beispiel: «Wenn ein Kind nach zwei Stunden Mathe anfängt, seine Mitschüler zu ärgern, dann hat das nicht unbedingt mit Respektlosigkeit zu tun. Das Kind mag wahrscheinlich einfach nicht mehr stillsitzen. Ist seine Selbstwahrnehmung geschult, kann es diesen Bewegungsdrang vielleicht selbst erkennen und dann auch anders kommunizieren als durch Stören. Und im Idealfall stehen dann vereinbarte Strategien wie Bewegungspausen oder kurze Spiele zur Verfügung. Der respektvolle Umgang bleibt so gewahrt.»
Die Stiftung Mercator Schweiz hat gemeinsam mit dem Forschungsinstitut Sotomo Ende 2022 landesweit rund 7700 Erwachsene – ein Drittel davon Eltern von schulpflichtigen Kindern – gefragt, wie deren ideale Schule aussieht. Am wichtigsten ist den Befragten demnach, dass die Kinder gern zur Schule gehen, Freude am Lernen haben und in ihrem eigenen Tempo sowie individuell gefördert lernen können. Diesen Wunschvorstellungen stehen Dinge wie Prüfungen und Hausaufgaben als wichtigste Belastungsfaktoren gegenüber.
Mercator ist eine private, unabhängige Stiftung, die Handlungsalternativen in der Gesellschaft aufzeigen möchte, unter anderem im Bereich Bildung und Chancengleichheit.