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Jetzt beeil dich doch mal!

Lesedauer: 6 Minuten

In Familien gibt es oft Konflikte rund um das Thema Zeit. Jüngere Kinder können mit vielen Zeitbegriffen noch gar nichts anfangen, ältere wollen sich bewusst davon abgrenzen.

Text: Sandra Markert
Bilder: iStockphoto & Sabine Bunger/Plainpicture

Gemütlich ausschlafen bis mittags, dann ausgiebig frühstücken. Und danach? Erst mal chillen auf der Couch mit dem Smartphone. Eltern von Teenagern schütteln manchmal ungläubig den Kopf, wenn sie sehen, wie scheinbar sinnlos der Nachwuchs seine Zeit vertrödelt. Vielleicht aber schwingt da auch ein bisschen Neid mit. Denn wann schaffen es berufstätige Eltern schon, ausgiebig nichts zu tun? Da könnten die Kinder doch wenigstens mal bei der Hausarbeit helfen! Und schon ist der Streit im Gange.

Zeit ist eines der häufigsten Konfliktthemen in Familien. Warum trödelt der Primarschüler morgens so herum, statt sich fertig zu machen? Wieso fängt die Party zum 18. Geburtstag erst um 23 Uhr an? Warum nimmt sich nicht mal jemand anderer die Zeit, die Spülmaschine auszuräumen? Und wieso hatte der Partner zwar Zeit für Überstunden, aber keine, um den Wocheneinkauf zu erledigen?

Warum Familien so häufig über Zeit, Pünktlichkeit und Termine streiten, hat vor allem eine Ursache: «Es gibt drei Arten von Zeit, die kennt man aber noch nicht in jedem Lebensalter und deshalb erleben auch nicht alle Familienmitglieder diese Zeitkonflikte gleichermassen», sagt Ivo Muri, Zeitforscher und Gründer des Forschungsinstitutes «Nomos der Zeit» in Sursee.

Bis ins Primarschulalter hinein sind Kinder vor allem im Hier und Jetzt zu Hause. Sie haben noch keine grosse Vergangenheit, auf die sie zurückblicken können, und kaum eine Vorstellung davon, dass es eine Zukunft gibt. Sie schlafen, wenn sie müde sind, essen, wenn sie hungrig sind, und dazwischen ist ihre wichtigste Aufgabe das Spielen. Und damit können sie auch nicht so einfach aufhören, nur weil ein Erwachsener in zehn Minuten losmuss.

Wer unter Zeit nur versteht, im Hier und Jetzt zu leben, kennt keinen Stress – und das ist gesund und wichtig für Kinder.

«Mit solchen Zeitbegriffen können kleine Kinder ohnehin noch gar nichts anfangen. Und dass die Zeit etwas Knappes ist, diese Erfahrung kennen sie auch noch nicht. Warum also sollten sie sich beeilen?», fragt Tilmann Wahne, Erziehungswissenschaftler mit dem Schwerpunkt Zeitgestaltung in Familien an der Universität Lüneburg.

Wer Zeit nur als eines versteht, nämlich im Hier und Jetzt zu leben, kennt keinen Stress – und das ist gesund und wichtig für die Entwicklung von Kindern. Diese fast magische Zeitlosigkeit ist etwas, das die Kindheit ausmacht – oder zumindest ausmachen sollte. Denn inzwischen sagen viele Kinder, dass sie gestresst sind. Wovon? «An erster Stelle nennen sie die Schule, danach die Familie», sagt Tilmann Wahne. «Und wenn man sie fragt, was genau den Stress auslöst, dann vermissen sie mehr selbstbestimmte Zeit im Alltag.»

Denn spätestens mit Beginn der Primarschule ist die Zeit nicht mehr nur das, was man gerade erlebt. Die Zeit bekommt Struktur in Form eines Stundenplanes und eines Kalenders und wird damit zur planbaren Grösse. Der Tagesrhythmus ist nicht mehr nur geprägt durch Schlafen und Essen, sondern durch Uhrzeiten, Tage, Wochen, Monate, Jahre. Und vor allem durch die Erfahrung: Man muss zu einer bestimmten Zeit Dinge tun, auf die man vielleicht gerade gar keine Lust hat. Und das erzeugt innere Unzufriedenheit und Frust.

«Die Frustrationstoleranz, die für dieses Uhrzeiten-Leben nötig ist, entwickelt sich erst mit den Jahren», sagt Zeitforscher Muri. Wenn Eltern erklären, warum manche Dinge in unserer Gesellschaft nur mit fixen Uhrzeiten funktionieren, hilft das Muri zufolge den Kindern, eine solche Resilienz zu entwickeln. Denn Pünktlichkeit sei in unserer Kultur nun mal wichtig für das Koordinieren und Organisieren des gemeinsamen Lebens.

Der Zeit mehr Raum schenken

«Neben der Pünktlichkeit soll jedoch auch ein grosser Zeitraum für das gemeinsame Erleben Platz haben, losgelöst von fixen Terminen», sagt Ivo Muri. Zeiten, zu denen einfach alle zu Hause sind, dienen der Entwicklung einer Familienkultur.

In solchen Begegnungs-Zeiträumen können sich dann ungezwungene Gespräche ergeben. Man merkt, wie es dem anderen gerade geht. Und es können sich alle gemeinsam an den Tisch setzen und in Ruhe essen, ohne dass gleich wieder jemand losmuss. «Das stärkt Familien und Kinder ungemein, wenn sie der Zeit mehr Raum schenken», so Muris Erfahrung.

Wie sich das Zeitgefühl entwickelt

Bis etwa sieben Jahre: Vor dem Primarschulalter haben Kinder nur ein begrenztes Verständnis für das gesellschaftliche Leben nach der Uhrzeit. Mit Begriffen wie «in einer Stunde» oder «morgen» können sie nichts anfangen. Ab einem Alter von etwa zwei, drei Jahren merken Kinder allmählich, dass es einen Unterschied gibt zwischen «jetzt» und «früher» oder «später». «Genauer differenziert werden kann das aber noch nicht. Alles, was nicht sofort stattfindet, kann dann beispielsweise ‹morgen› sein», sagt Erziehungswissenschaftler Tilmann Wahne. Um dennoch mit ihnen über bestimmte Zeitpunkte sprechen zu können, hilft es, diese mit möglichst konkreten Ereignissen zu verbinden. Also beispielsweise: Noch einmal schlafen, dann fahren wir zur Oma. Und nicht: Morgen fahren wir zur Oma. «Kindern in diesem Alter hilft ein Tagesrhythmus mit verlässlichen Schlafens- und Essenszeiten, um sich langsam an eine Zeitstruktur zu gewöhnen», sagt Zeitforscher Ivo Muri.

Ab der Primarschule: Sobald Kinder die Uhr lernen, beginnen sie auch ein Gefühl für die Uhrzeit zu entwickeln. Bis sie ein Verständnis für die tatsächliche Dauer von etwa einer Stunde bekommen, dauert es aber. Denn die Uhrzeit ist nichts Natürliches, die Zeiteinheiten wurden von den Menschen geschaffen. Ein Zeitgefühl lässt sich auch nicht trainieren, sondern erfordert Lebenserfahrung. «Und selbst bei den Erwachsenen haben manche ein sehr gutes und andere ein ungenaues Zeitgefühl», sagt Tilmann Wahne.

Ab dem Erwachsenenalter: Je älter man wird, umso mehr wird einem die Endlichkeit des Lebens bewusst, und damit wird die Zeit immer mehr zu einem knappen Gut, das es möglichst sinnvoll zu nutzen gilt. Obwohl Erwachsene schon viele Jahre mit der Uhrzeit leben, vergeht die Zeit dennoch mal schneller und mal langsamer. Das hängt damit zusammen, wie viele Reize beispielsweise während einer Stunde auf einen einprasseln. Sitzt man in dieser Zeitspanne im Wartezimmer eines Arztes und schaut nur aus dem Fenster, kommt einem die Stunde sehr lange vor. Ist man dagegen während eines spannenden Fussballspiels im Stadion oder während eines Konzerts ständig neuen und schönen Impulsen ausgesetzt, verfliegt die Zeit.

Zumindest so lange, bis Teenager bewusst versuchen, aus diesen familiären Zeiträumen wieder auszubrechen und sich – als nötige und wichtige Abgrenzung zu den Erwachsenen – eigene Zeiträume suchen. «Das drückt sich dann häufig in anderen Alltagsrhythmen aus», sagt Tilmann Wahne.

Denn: Mittags frühstücken die Eltern eher nicht mit. Auf nächtlichen Partys ist das Risiko geringer, Erwachsenen über den Weg zu laufen. Und in den virtuellen Räumen finden sich die Jugendlichen meist so viel besser zurecht als ihre Eltern, dass sie auch dort ungestört Zeit verbringen können. Und zwar so, wie es ihrer Vorstellung von Zeit entspricht. Und nicht so, wie es immer mehr aus der Erwachsenenwelt zu ihnen schwappt und zunehmend von ihnen erwartet wird: mit einem ökonomischen Blick auf die Zeit.

Erwachsene verwechseln Lebenszeit mit der Uhr

Zeitforscher Ivo Muri nennt Letzteres die dritte Art von Zeit. Erwachsene erleben die Zeit meist nur noch so: als endliches, knappes Gut, welches vor allem genutzt und aktiv bewirtschaftet werden muss. Denn um Geld zu verdienen, muss Zeit effektiv und effizient genutzt werden. «Indem wir Erwachsene aus Zeit Geld machen, verwechseln wir die Lebenszeit zunehmend mit der Uhr. Und damit verlieren wir den Zeitbegriff, den wir alle noch hatten, als wir Kinder waren», sagt Ivo Muri.

Wer sich in den Tagesablauf des Kindes hineinversetzt, merkt, wie wenig selbstbestimmte Zeit neben Schule und geplanten Freizeitaktivitäten übrig bleibt.

Blickt man durch diese ökonomische Zeitbrille, macht ein Jugendlicher, der auf der Couch chillt, statt für die Schule zu lernen, etwas Sinnloses. Dabei tut er eigentlich nur das, was für diesen Entwicklungsabschnitt so wichtig ist: sich von der Erwachsenenwelt abgrenzen und in diesem Fall das Zeit-ist-Geld-Mantra ablehnen. «Ausserdem verstehen Jugendliche unter sinnvollen Tätigkeiten einfach oft etwas anderes als Erwachsene, und das ist ihr gutes Recht», sagt Tilmann Wahne.

Kinder haben einen natürlichen Umgang mit Zeit

Denn jeder Mensch braucht Zeiten, die er selbstbestimmt gestalten kann. «Eltern denken oft, dass ihre Kinder ganz viel selbstbestimmte Zeit haben», sagt Wahne. Wer sich jedoch mal in den Tagesablauf des Nachwuchses hineinversetzt, der merkt häufig, wie wenig freie Zeit neben Schule und geplanten Freizeitaktivitäten tatsächlich übrig bleibt – um zu träumen, zu trödeln, zu chillen, um sich einfach nur mal zu langweilen. Und dabei vor allem die Uhrzeit nicht im Blick haben zu müssen.

Kinder schaffen es noch, sich solche Zeiträume einfach zu nehmen – vorausgesetzt man lässt sie und stresst sie nicht. «Erwachsene müssen sich dagegen mit Buddhismus beschäftigen, Yoga-Kurse besuchen oder ähnliche Dinge tun, um den achtsamen Umgang mit der Zeit wieder zu lernen», sagt Ivo Muri. Manchmal würde es vielleicht auch einfach reichen, mal wie der Teenager bis mittags im Bett liegen zu bleiben. Wie die Primarschülerin stundenlang ziellos im Wald herumzustrolchen. Oder wie das Kindergartenkind zahllose Sandkuchen zu backen. «Eltern dürfen es geniessen, über die Kinder wieder zurückzufinden zu ihrem natürlichen Umgang mit der Zeit», sagt Ivo Muri. Einen Versuch ist es wert.

Das Wichtigste in Kürze

Was Eltern wissen sollten:

 

 

  • Zeit ist nicht nur das, was die Uhr anzeigt.
  • Kinder brauchen selbstbestimmte Zeiträume, in denen sie tun können, worauf sie gerade Lust haben.
  • Primarschulkinder trödeln nicht, um ihre Eltern zu ärgern, sondern weil sie noch ein ganz anderes Zeitverständnis haben.
  • Jugendliche suchen sich bewusst eigene Zeiträume, um sich von ihren Eltern abzugrenzen.
  • Eltern können von ihren Kindern lernen, wieder mehr im Hier und Jetzt zu leben, statt die Zeit nur ökonomisch als ein knappes Gut zu sehen.

Sandra Markert
ist freie Journalistin und Mutter von drei Kindern im Kindergarten- und Primarschulalter. Sie lebt mit ihrer Familie am Bodensee.

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