Respekt verschaffen, ohne autoritär zu sein

Früher war man als Lehrperson Teil eines Ehrfurcht gebietenden Berufsstands. Zum Glück ist das heute nicht mehr so. Doch ohne eine gewisse Achtung geht es auch nicht. Hier kommt das Konzept der neuen Autorität ins Spiel.
Oft ist zu hören, dass Kinder den Erwachsenen nicht den nötigen Respekt zollen. Vorbei sind die Zeiten, in denen ein Mensch aufgrund seines gesellschaftlichen Status oder seiner beruflichen Stellung von seinem Umfeld automatisch respektiert wurde. Respekt kann nicht mehr einfach eingefordert werden, vielmehr muss man sich diesen verdienen. Und das ist auch richtig so. Oder wie Mahatma Gandhi sagte: «Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt.»
Die sieben Eckpfeiler der neuen Autorität respektive der verbindenden Autorität – neu ist irgendwann ja nicht mehr neu – sind «Präsenz und Beziehung», «Unterstützung und Netzwerk», «Gewaltfreier Widerstand», «Transparenz und Öffentlichkeit», «Deeskalation und Selbstkontrolle», «Wiedergutmachung und Versöhnung» sowie «Werte und Haltung». Bei näherer Betrachtung dürfte nicht nur Fachleuten auffallen, dass diese Begriffe viel Sinn machen und oft schon bekannt sind. Und doch ist das Konzept in dieser Form eben neu und es ist essenziell, systematisch an diese Themen heranzugehen.
1. Präsenz und Beziehung: Kontinuierliche Pflege
Man kann nur auf Menschen einwirken, mit denen man in Kontakt ist und eine Beziehung pflegt. Darum ist es so schwierig, einer unbekannten Person, die sich im öffentlichen Raum nicht gebührend verhält, zu sagen, sie solle mit dem störenden Verhalten aufhören. Folglich müssen wir in den Schulen stetig an der Beziehung zu unseren Schützlingen arbeiten, für sie greifbar oder gut wahrnehmbar sein. Und präsent bleiben, gerade wenn es schwierig und anspruchsvoll wird.
2. Unterstützung und Netzwerk: Konstruktiv und angstfrei
Manchmal wird die Beziehungsarbeit für Einzelpersonen – nicht nur in der Schule – zu einer Belastung. Darum ist es wichtig, ein Support-Netzwerk zu schaffen. Im Team sollte dafür ein Klima herrschen, in dem Probleme angstfrei besprochen werden können. Mitunter kann es sogar notwendig sein, dass das ganze Team (gilt auch für Eltern) zusammen auftritt, um Unterstützung zu signalisieren.
Eine notwendige verlangte Veränderung wird eingefordert, und zwar so lange, bis die Veränderung eintritt.
3. Gewaltfreier Widerstand: Durchhalten bis zur Veränderung
Mahatma Gandhi ist zwar nicht der Erfinder des gewaltlosen Widerstands, aber er dürfte der bekannteste Vertreter dieses Ansatzes sein. So mündeten seine gewaltfreien Aktionen in der Unabhängigkeit der heutigen Staaten Indien, Pakistan und Bangladesch vom britischen Empire. Im schulischen Kontext geht es dabei weniger um einen Sitzstreik, wie Gandhi das praktizierte.
Vielmehr geht es um Beharrlichkeit. Eine notwendige verlangte Veränderung wird eingefordert, und zwar so lange, bis die Veränderung eintritt. Die bisher genannten Eckpfeiler bilden eine Ankerfunktion: «Wir sind da und wir gehen nicht weg, selbst dann nicht, wenn es schwierig wird. Auf uns kannst du dich verlassen», lautet die Botschaft ans Gegenüber.
4. Transparenz und Öffentlichkeit: Keine falsch verstandene Diskretion
Warum jemand handelt, wofür sich jemand einsetzt und wie gehandelt wird, muss transparent sein. Dadurch wird Verlässlichkeit geschaffen, was sich positiv auf das gegenseitige Vertrauen auswirkt. Wichtig ist, dass Fehlverhalten offen kommuniziert wird – natürlich unter Einhaltung von Persönlichkeitsrechten. Das Gegenteil davon sind Geheimhaltung und Vertuschung unter dem Vorwand falsch verstandener Diskretion; dies schützt schädliches und fehlbares Verhalten.
5. Deeskalation und Selbstkontrolle: Impulsives Verhalten im Griff
Es ist schwierig, ruhig zu bleiben, wenn jemand in der Wut Äusserungen macht, die uns triggern. Aber gerade darin liegt die Magie, wenn es uns gelingt, einen verbalen Angriff des Gegenübers als das zu sehen, was es ist. Viele Wutbekundungen sind Ausdruck einer erlittenen Verletzung und in erster Linie kein Angriff gegen eine andere Person.
Gerade im schulischen Kontext ist es wichtig, dass man als erwachsene Person die Selbstkontrolle behalten kann. Wenn wir im Affekt auf ein mögliches Fehlverhalten von Kindern überreagieren, führt das nicht selten zu Schamgefühlen. Gerade die Beschämung hallt lange nach und torpediert die Beziehung zwischen dem Kind und beispielsweise der Schulleitung.
Bestrafung wird von Kindern und Jugendlichen als eine Form des Beziehungsabbruchs wahrgenommen.
6. Wiedergutmachung und Versöhnung: Schwächen schaffen auch Nähe
Erst kürzlich bin ich in meiner Funktion als Schulleiter einem Schüler gegenüber zu laut geworden. Gerne hätte ich meine Reaktion auf sein Verhalten rückgängig gemacht. Doch gesagt ist gesagt. Ich entschuldigte mich kurz darauf aufrichtig bei ihm, was auch seine Wirkung erzielte. Damit habe ich mein Fehlverhalten deklariert und dem Jungen zu spüren gegeben, dass er wichtig ist und dass das Verhältnis zu ihm für mich eine sehr grosse Bedeutung hat.
Die neue Autorität ist ein konstruktives Gegenkonzept zum unheilvollen System von Belohnung und Bestrafung. Besonders die Bestrafung wird von Kindern und Jugendlichen (und Erwachsenen?) als eine Form des Beziehungsabbruchs wahrgenommen. Ausserdem ist es eine Form der Beschämung. Ein Strafverdikt hat man entgegenzunehmen und man wird für schuldig befunden. Bei der Versöhnung oder Wiedergutmachung hingegen kann man sein Fehlverhalten eingestehen und etwas dazu beitragen, dass es dem Gegenüber wieder besser geht. Das wirkt sich bei beiden Parteien emotional positiv aus.
7. Werte und Haltung: Formulieren und vorleben
Es braucht gemeinsame Werte und Haltungen, um die Kinder zu begleiten respektive zu erziehen. In unserem Schulteam haben wir eine gemeinsame Haltung entwickelt, und es gelingt uns schon sehr gut, die oben beschriebenen Pfeiler der neuen oder verbindenden Autorität umzusetzen. Gleichwohl stolpern wir immer wieder und denken intuitiv an Bestrafung. Damit das nicht passiert, ist ein starkes Team sehr hilfreich. Die gemeinsame Haltung und die verbindenden Werte sind ein starkes Signal, das nach aussen wirkt, uns aber auch intern stärkt.
Wie beschrieben, ist das Prinzip der verbindenden Autorität nicht nur in Schulen eine erfolgversprechende Idee. Auch für Eltern bildet es eine solide Grundlage für die Erziehung des eigenen Kindes. Vernetzen Sie sich hierfür mit den Erziehungsberechtigten der Klassenkolleginnen und -kollegen. Fragen Sie auch die Klassenlehrperson Ihres Kindes, ob es möglich wäre, sich bei einem Elternanlass zu vernetzen.
Oder wählen Sie ein aktuelles Thema und versuchen Sie gemeinsam zu besprechen, wie damit umgegangen werden soll. Bei der verbindenden Autorität geht es nicht darum, sein Gegenüber zu besiegen. Es geht um das Signal, dass das Individuum der Gemeinschaft nicht egal ist. Ganz nach dem Motto: Gemeinsam sind wir stärker!