Diskussion statt Gehorsam: Die neue Erziehung

Bild: Emma Bauso, Pexels
Früher verlangten Eltern von ihren Kindern Gehorsam, heute wird in Familien fast alles ausdiskutiert. Die Folge sind Kinder, die zu geliebten Nervensägen werden, beklagen Fachleute. Setzen Eltern sich tatsächlich zu wenig durch und diskutieren zu viel?
Sie mag schon den Ausdruck «im Griff haben» nicht, er stamme aus der Ära des autoritären Erziehungsstils und sollte heute nicht mehr existieren. Er bezeichnet, so Ecarius, einen «Befehlshaushalt», der gekennzeichnet war von Disziplin und Unterordnung; Erziehung bestand aus Gehorsam, Strenge, Verzicht, Unterordnung, Sauberkeit und Pünktlichkeit. Widerspruch wurde nicht geduldet.
Die Macht zwischen Eltern und Kindern war klar verteilt: Wer sich nicht an die – meist hauptsächlich vom Vater aufgestellten – Regeln hielt, wurde bestraft: mit Strenge und notfalls mit Gewalt. «Heute haben Eltern eine ganz andere Bindung zu ihren Kindern», erklärt Jutta Ecarius. Die Basis der heutigen Erziehung bilde Vertrauen.
«Heute haben Eltern eine ganz andere Bindung zu ihren Kindern».
Jutta Ecarius, Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Köln
Typisch dafür ist, dass die zwischenmenschliche Bindung zum Nachwuchs immer im Vordergrund steht. Je älter das Kind wird, desto mehr rückt das Verhandeln über Regeln und deren Einhaltung in den Hintergrund und Eltern werden immer mehr zu beratenden Erziehern. Das ist mitunter anstrengend. «Die neuen Eltern machen ihre Sache aber ziemlich gut», meint die Erziehungswissenschaftlerin.
Eltern leisten Hilfe bei der Selbstfindung der Kinder
«Gespräche sind an die Stelle starrer Regeln gerückt, vor allem wenn die Kinder grösser werden», so Ecarius. Dann werden die Erfahrungen des Kindes analysiert und Strategien zum Bewerten dieser Erfahrungen erwogen, damit das Kind eigene Beurteilungsmassstäbe zu entwickeln lernt. Das Ziel: Das Kind soll in die Lage versetzt werden, seine Bedürfnisse und Fähigkeiten zu erkennen und dann zu entscheiden, was es will. Den einzigen Nachteil sieht Jutta Ecarius in der Tatsache, dass diese Art der Erziehung unheimlich aufwendig ist, sehr zeitintensiv und anspruchsvoll.
«Die Erziehung wird zunehmend zu einem andauernd reflexiven Prozess», meint Ecarius. Das kann natürlich auch zu Übertreibungen führen: zu viel fördern, zu viel beschützen, zu viel entscheiden lassen – und zu viel diskutieren. Und womöglich wünschen sich Eltern dann und wann, wenn zum millionsten Mal über eine Regel diskutiert werden muss, eine griffige Erziehungsformel zur Hand.
Die Forscherin stört sich daran, dass Eltern immer dann im Fokus stehen, wenn in der Kindererziehung etwas falsch läuft. «Eltern, die für ihre Kinder Berater sein wollen, interessieren sich wahrhaftig für deren Leben», so Ecarius. Dieses echte Interesse sei die Grundvoraussetzung dafür, dass Kinder Vater oder Mutter von ihren Sorgen, ihrem Ärger mit Gleichaltrigen, von Streitereien und überhaupt von sich und ihren Gedanken erzählen würden. Nur wenn Eltern «Berater» seien, würden die Kinder sie an ihrem Innenleben teilhaben lassen.
Der Erziehungsstil beeinflusst die Gesundheit
Elterliche Erziehungsstile, so Perrig-Chiello, wirkten sich nicht nur auf das familiale Zusammenleben aus, sondern auch auf die Schulleistungen der Kinder und sie begünstigten die Auffassungsgabe sowie die Entwicklung von Selbstvertrauen.
So habe der beratende und partizipative Erziehungsstil – also ein Führungsstil, in dem die Kinder selbst Vorschläge entwickeln dürfen und diese gemeinsam diskutiert werden – unabhängig vom sozialen Kontext der Familie weitaus den günstigsten Einfluss auf die psychische und emotionale Entwicklung der Kinder, wie Perrig-Chiello sagt. Im Unterschied etwa zum paradox-autoritären Stil («fordern, aber nicht fördern»).
«Erziehung muss sich unbedingt an den Bedürfnissen der Kinder orientieren».
Klaus Schneewind, emeritierter Psychologieprofessor Universität München
Die Grundlage für eine gute Entwicklung sei, dass Kinder sich geborgen fühlen müssten, pflichtete der emeritierte Münchner Psychologieprofessor Klaus Schneewind unlängst in der Fachpublikation «Psychoscope» der Schweizer Psychologinnen und Psychologen FSP seiner Standeskollegin Pasqualina Perrig-Chiello bei.
«Erziehung muss sich unbedingt an den Bedürfnissen der Kinder orientieren – und nicht an denjenigen der Erwachsenen, nur weil es sich bei diesen um vermeintlich gesellschaftliche Bedürfnisse handelt», erklärt Schneewind. Es gehe heute darum, den eigenen Lebensweg kreativ und aus sich selbst heraus zu gestalten.
Disziplin, gekoppelt mit Furcht und Gehorsam, könne da keine Rolle spielen. So würden nur der kindliche Wille gebrochen und Individualität und Eigeninitiative unterdrückt. Weil Erziehung heute so anstrengend ist, fordern sowohl Ecarius als auch Perrig-Chiello und Schneewind, dass Eltern in ihrer Erziehung mehr wertgeschätzt und ressourcenorientiert unterstützt werden.
Erziehungsstile im Wandel der Zeit
1970 bis 1990: Verhandeln – Einsicht in Regeln, die ausgehandelt werden – Kinder dürfen Freizeitinteressen selbst bestimmen, die Familienzeit ist kindbezogen – Diskussion und Verhandeln über Fehlverhalten
Ab 2000: Beraten – Eltern und Kinder beraten alles (Schule, Freunde usw.) – Kinder und Eltern haben eigene Freizeitinteressen – über Fehlverhalten wird beraten
Quelle: Jutta Ecarius, Familienerziehung in drei Generationen
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