Herr Geiser, schadet der frühe Pornokonsum den Kindern?
Welchen Einfluss der Konsum von Pornos auf die Sexualität eines Jugendlichen hat, hängt unter anderem von der Beziehung zu seinen Eltern ab, sagt der Sexualpädagoge Lukas Geiser.
Lukas Geiser, wie tickt die Jugend von heute in Sachen Liebe, Beziehungen und Sexualität?
So wie ich das erlebe – und das zeigen auch Umfragen – denkt ein Grossteil der Jugend recht traditionell. Sie wünscht sich Partnerschaften, ein erfülltes Liebesleben, träumt von einer Familie. Es gibt aber auch solche Jugendliche, die sich lieber ausprobieren und Vielfalt leben wollen. Dazu haben sie heute auch viel mehr Möglichkeiten als frühere Generationen.
Spielen die Eltern im Internet-Zeitalter überhaupt noch eine Rolle bei der Aufklärung?
Teenager holten sich auch vor der Existenz des Internets Informationen aus anderen Quellen, wie Heftli und Büchern. Es ist wichtig, dass man sich mit zunehmendem Alter nicht nur bei den Eltern informiert. Trotzdem spielen sie eine zentrale Rolle. Sie dienen nach wie vor als Vorbilder, zeigen mit ihrer Gesprächsbereitschaft Interesse am Kind und an seinem Leben. Wer nie gemeinsame Erlebnisse geteilt oder Interesse von den Eltern gespürt hat, wird kaum begeistert sein, wenn die Mutter oder der Vater plötzlich mit einem über Sex reden will.
Eine Studie besagt, dass ein grosser Teil der Mädchen zu Hause aufgeklärt wird – vornehmlich von der Mutter – während Buben eher angeben, dass sie ihre Informationen in der Schule, von Freunden oder im Netz beziehen. Woran liegt das?
Das hat verschiedene Gründe. Einer ist die Angst der Eltern, dass ihre Tochter schwanger werden könnte, ein zweiter die einsetzende Menstruation. Da kommen Mütter eher mit ihren Töchtern ins Gespräch. Dazu kommt auch die Sorge vor sexueller Gewalt, der Gedanke, dass man Mädchen schützen muss. Bei Buben denkt man eher, die merken dann schon, wies läuft.
Dabei sind Buben genauso verunsichert wie Mädchen, gerade in Zeiten der «Me too»-Debatte.
Der entscheidende Punkt muss sein, dass wir unabhängig vom Geschlecht erstmal darüber reden, wie man mit Respekt auf andere Leute zugeht, über Einvernehmlichkeit und Gleichstellung, bevor man den Jungen eintrichtert, sie sollen ihre Finger bei sich behalten und den Mädchen, sie sollen sich gegen Übergriffe wehren. Dann können sie viel besser einschätzen, welches Verhalten sie tolerieren und gegen welches sie sich zur Wehr setzen möchten. Wer mit den Kindern nur über Übergriffe im Zusammenhang mit Sex redet und den schönen Teil weglässt, löst natürlich Verunsicherung aus.
Ein Grossteil der 15-jährigen Buben behauptet, schon mal einen Porno gesehen zu haben. Nicht einmal die Hälfte von ihnen hatte körperlichen Kontakt mit einem Mädchen. Warum ist die Schere zwischen dem virtuellen und dem realen Leben so gross?
Die Kinder konsumieren Medien, weil sie Zugang dazu haben. Das ist nicht per se schlecht. Sie konsumieren auch Dinge, die sie in der Realität vielleicht gar nicht erleben wollen oder können. Das tun wir übrigens alle und auch in allen Bereichen – kaum jemand, der einen Actionstreifen schaut, möchte eine entsprechende Erfahrung im echten Leben machen.
Was hat das für Auswirkungen auf ihre Sexualität, wenn die Kinder theoretisch schon alles gesehen haben, bevor sie praktische Erfahrungen machen?
Es ist für sie sehr streng herauszufinden, was sie selbst wirklich wollen und was nicht. Dass Jugendliche schon eine Idee von sexuellen Praktiken haben, bevor sie sexuell aktiv werden, ist nicht schlecht. Aber die Menge an Informationen, mit denen sie heute konfrontiert werden, können sie kaum verarbeiten. Da brauchen sie unsere Hilfe.
Es ist nicht schlecht, dass Jugendliche eine Idee von sexuellen Praktiken haben, bevor sie sexuell aktiv werden
Schadet der frühe Pornokonsum den Kindern?
Die Frage kann man nicht mit Ja oder Nein beantworten. Man spricht hier von einem Wirkungspotenzial. Man weiss aus der Forschung, dass die Bindung zu den Eltern und die Beziehungserfahrung der Kinder einen Einfluss auf die Wirkung solcher Dinge haben. Kinder, welche die Fähigkeiten besitzen, das Gesehene einzuordnen, können mehrheitlich besser mit Pornografie umgehen. Andere hadern mit stereotypen Rollenbildern, dem Druck, körperlich perfekt sein zu müssen, oder mit dem Leistungsdruck. Einordnen heisst auch, dass man über das Gesehene sprechen kann und dann weiss, dass Pornos Filme sind, die wie andere Filme auch mit Schauspielern gedreht werden, die in diesem Moment gar keine Lust empfinden.
Dabei könnte man oftmals meinen, auf einem Porno-Kanal gelandet zu sein, wenn man sich die Social-Media-Profile von gewissen Jugendlichen anschaut. Warum inszenieren sie sich so?
Jugendliche suchten schon früher Anerkennung und soziale Resonanz. Heute in unserer digitalisierten Welt orientieren sich Jugendliche dabei mehrheitlich an medialen Vorbildern. Je mehr Anerkennung Kinder in anderen Bereichen bekommen – in der Schule oder zu Hause – desto weniger bedeutsam ist, sie über Social Media zu generieren.
Und warum stellen Jugendliche trotz aller Warnungen Nacktbilder her und geben diese weiter?
Ganz einfach, weil Jungen und Mädchen dies spannend und teilweise auch lustvoll finden. Das einvernehmliche Herstellen von Nacktbildern ist ja nicht per se verwerflich. Nacktheit und die Anerkennung und Wertschätzung des Körpers sind ein wichtiger Aspekt eines positiven Körperbildes. Es ist aber entscheidend, dass Eltern ihren Kindern aufzeigen, was mit diesen Bildern geschehen kann und warum ihre «Liebesbeweise» eventuell missbraucht werden. Nur so können wir sie in der fragilen Teenagerzeit vor solchen Erfahrungen schützen.
Glauben Sie, dass die Kinder und Jugendlichen, die als «Digital Natives» aufwachsen, als Erwachsene ein anderes Verhältnis zu Sexualität haben werden als die Generation vor ihr?
Ja und nein. Sexuelle Gefühle ändern sich eigentlich nicht, aber die gesellschaftlichen Strömungen ändern sich und beeinflussen das Verhalten. Auch in Zukunft wünschen sich Menschen geliebt zu werden, sich zu verlieben und sich sexuelle Wünsche zu erfüllen. Mit der medialisierten Offenheit von Sexualität kann dies – wie in der Zeit der totalen Tabuisierung auch – anstrengend und beschämend sein, aber auch befreiend und lustvoller werden.