Wir erzählen: Wie findet Aufklärung wirklich statt?
Die einstige elterliche Belehrung zum grossen Tabuthema ist einem viel entspannteren Umgang gewichen. Doch wie findet Aufklärung im heutigen Familienalltag wirklich statt? Ein Jugendlicher, eine Familie und eine Mutter erzählen.
Ich erzähle: «Ich finde es schräg, mit meinen Eltern über Sex zu sprechen»
David, 15, ist Einzelkind und wohnt mit seinen Eltern in Zürich. Er geht in die 3. Sekundarschule und hatte vergangenen Sommer zum ersten Mal eine Freundin. Dass ihm seine Mutter Kondome besorgte, fand er lustig.
«Ich erinnere mich, dass ich meine Eltern mit sechs oder sieben Jahren mal beim Sex ertappt habe. Ich habe geschrien wie am Spiess, weil ich dachte, mein Vater tut meiner Mutter weh. Sie haben mich beruhigt und gesagt, das ist etwas Schönes. Und dass so Babys entstehen. Danach habe ich immer gelauscht, ob sie das wieder machen und ich endlich ein Geschwister bekomme. Leider bin ich ein Einzelkind geblieben.
Meine Eltern waren immer sehr offen mit mir, wir haben über alles geredet. Es sind auch ständig alle nackt rumgelaufen bei uns zu Hause. Irgendwann, so mit 12 oder 13 Jahren, wollte ich das nicht mehr. Ich weiss nicht genau warum. Diesen Sommer hatte ich meine erste Freundin, und meine Mutter hat mir eine Packung Kondome gegeben. Da musste ich lachen. Als ob ich die nicht selbst kaufen könnte, wenn ich wollte. Ich finde es schräg, mit meinen Eltern über Sex zu sprechen. Das geht sie doch irgendwie nichts an, oder? Mein Vater sagt zwar seit sicher zwei Jahren immer wieder zu mir, wir würden dann mal ein richtiges «Männergespräch» führen. Passiert ist das aber bis heute nicht. Meine Mutter hält manchmal so Monologe, über Sexting und solches Zeug. Ich höre schon zu – aber
was soll ich auch gross dazu sagen?
Ich würde nie ein Nacktbild von jemandem herumschicken, egal, wie hässig ich bin. Aber anschauen, wenn ich eines bekomme, würde ichs schon.
Wir hatten auch in der Schule Sexualkunde, zum Beispiel in der 5. Klasse, bei unserem Bio-Lehrer. Das war schon spannend, auch wenn das nie jemand zugeben würde. Ich hab da einfach so getan, als ob ich eh schon alles weiss, und die meisten anderen auch. Heute bin ich sicher, dass die alle nicht mehr wussten als ich! Wenn ich etwas wissen will, frage ich meinen Freund und Nachbarn, der ist zwei Jahre älter als ich.
Er hat mir auch zum ersten Mal so Videos und Fotos auf seinem Handy gezeigt. Ich finde das spannend, man weiss ja sonst nicht, wie das so geht. Auch wenn ich natürlich weiss, dass das nicht unbedingt alles echt ist, was man da sieht. Das ist wie beim Gamen oder im Kino, dort ist das ja auch nicht echt.»
Ich erzähle: «Weisst du noch mit der Banane?»
Daniela und ihre Töchter Luna, 13, und Lilly, 10, wohnen gemeinsam mit dem Vater der Mädchen in einem Dorf im Kanton Zürich. Daniela ist gelernte Krankenschwester. «Mami ist mein Google», sagt Luna.
Daniela: «Das eine Aufklärungsgespräch gab es bei uns nicht. Wir reden immer über alles beim Essen. Auch über Sex.»
Lilly grinst.
Daniela: «Du hast erstmals gefragt, als du etwa fünf warst.»
Luna: «Das weiss ich noch. Ich habe damals gesagt, ich würde es ihr nach dem Essen erklären.»
Daniela: «Sie hat dann aber einen Rückzieher gemacht. Also habe ich das Buch ‹Woher die kleinen Kinder kommen› hervorgeholt und es mit beiden zusammen angeschaut und ihre Fragen beantwortet.»
Luna: «Es gab nie etwas, von dem ich das Gefühl hatte, dass ich es Mami nicht fragen kann. So wusste ich auch über die Periode Bescheid, als ich sie mit elf Jahren bekam. Das war keine grosse Sache.»
Lilly: «Ich frage auch immer Mami, wenn ich etwas wissen will.»
Luna: «Papi zu fragen bringt nichts. Er sagt dann: ‹Frag Mami!›»
Lilly: «Weisst du noch mit der Banane?»
Daniela: «Luna war etwa acht, als sie beim Znacht fragte, ob man eigentlich auch Sex haben könne, ohne schwanger zu werden. Also haben wir über Verhütung und Geschlechtskrankheiten gesprochen, und ich habe kurzerhand ein Kondom und eine Banane geholt und es ihnen vorgeführt. Mein Mann fragte nachher, ob das nicht weniger anschaulich gegangen wäre.»
Luna: «Im Sexualkundeunterricht in der 6. Klasse haben sie das Kondom über eine Gurke gezogen.»
Daniela: «Die armen Buben! Da hat offenbar niemand über realistische Grössenverhältnisse nachgedacht!»
Luna: «Ich hatte nicht das Gefühl, in der Sexualkunde etwas zu erfahren, das ich nicht weiss. Aber einige andere wussten schon nicht wirklich viel. Denen ist es vielleicht peinlich, ihre Eltern zu fragen. Mir nicht. Auch wenn ich nicht immer alles erzähle.»
Daniela: «Ich glaube, ich merke, wenn Luna verliebt ist. Aber ich quetsche sie nicht aus. Ich vertraue darauf, dass sie zu mir kommt, wenn es etwas zu erzählen gibt.»
Luna: «Einen Freund hatte ich noch nie. Mir gefallen aber eher ältere Buben. Die in meinem Alter sind kindisch. Ich würde einen Freund auch mit nach Hause bringen.»
Daniela: «Sie dürften dann auch allein in ihrem Zimmer sein. Ich vertraue ihr da völlig. Aber natürlich gibt es Dinge, die nicht gehen. Zum Beispiel, wenn er sehr viel älter ist als sie.»
Luna: «Ich rede mit meinen Freundinnen schon auch über Jungs oder unseren Körper. Aber über Sex nicht. Das interessiert uns noch nicht so.»
Daniela: «Ich muss nicht über alles im Leben meiner Töchter Bescheid wissen. Wichtig ist, dass sie wissen, dass sie jederzeit über alles mit mir reden können.»
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Ich erzähle: «Mit Mia ist es wesentlich einfacher als mit ihrem Bruder»
Corinne ist Mutter von Mia, 16, und Luca, 12, und lebt mit Mann und Kindern in der Agglomeration von Zürich. Bei ihrer Tochter habe die Aufklärung früh auf natürliche Art begonnen, als sie mit dem zweiten Kind schwanger war.
«Ich habe manchmal das Gefühl, bei Luca haben wir die Aufklärung im Kleinkindalter etwas verpasst. Bei Mia passierte das sozusagen natürlich, als ich mit Luca schwanger war. Da wollte sie wissen, wie das Baby in den Bauch gekommen war, und wir erklärten es ihr anhand von Bilderbüchern. Als Luca vier Jahre alt war, war sein Gotti schwanger, und ich grub die alten Bilderbücher wieder aus. Aber es interessierte ihn mehr, wann er denn endlich mit dem neuen Gspänli spielen konnte, als wie dieses in Gottis Bauch gekommen war.
Auch später fand und heute finde ich es mit Mia wesentlich einfacher als mit ihrem Bruder. Sie fragt, er nicht. Als sie fünf war und ich beim Einkaufen eine Packung Tampons aufs Band legte, erklärte ich ihr an der Supermarkt-Kasse, was das ist. Als sie vor zwei Jahren einen Freund hatte, redeten wir über Sex und Verhütung. Als es voriges Jahr einen Fall von Sexting an ihrer Schule gab, sprachen wir darüber.
Das tat ich dann auch mit Luca, weil das Thema ja nicht nur Mädchen angeht. Beziehungsweise sprach ich, und er hörte zu – oder auch nicht.
Ich glaube, einige seiner Freunde sind schon wesentlich «weiter» als er. Mädchen interessieren ihn noch nicht wirklich. Ich habe ihn zwar kürzlich beim Onanieren erwischt, aber ich denke, bei ihm hat das mehr mit guten Gefühlen als mit konkreten Vorstellungen oder Wünschen zu tun. Das zeigt auch der Fakt, dass es mir peinlicher war als ihm. Ich habe aber die Gelegenheit wahrgenommen und ihm später gesagt, dass das vollkommen in Ordnung sei, aber zu seiner Privatsphäre gehöre, und er doch die Zimmertür zumachen solle, wenn er das mache.»