Wie geht Aufklärung heute?
Bilder: Ornella Cacace / 13 Photo
Noch keine Generation galt als so aufgeklärt wie die unserer Kinder. Im Internet sind alle Informationen Tag und Nacht verfügbar. Doch was wissen Kinder und Jugendliche wirklich über Sex? Wie sieht altersgerechte Aufklärung heute aus? Und welche Rolle spielen die Eltern dabei?
Selbst wenn es uns Erwachsenen manchmal so vorkommt, als würden sich Jugendliche alle Informationen aus dem Netz besorgen, sind die Eltern in Sachen Aufklärung nach wie vor wichtig. Vielleicht sogar wichtiger als je zuvor. Warum das? Welchen Einfluss haben sie auf die Sexualität ihrer Kinder? Sollen Väter Söhne aufklären und Mütter Töchter – oder gerade umgekehrt? Und wie macht man das in Zeiten, in denen Kommunikation über soziale Medien stattfindet und Buben und Mädchen leichter an pornografische Inhalte kommen als an eine Dose Panaché?
Fakt ist: Aufklärung erfolgt heute sehr individuell und findet meist durch mehrere Instanzen statt. In einer aktuellen Umfrage von «Lust und Frust», der Zürcher Fachstelle für Sexualpädagogik, geben zum Beispiel 62 Prozent der Mädchen und 52 Prozent der Jungen an, von den Eltern aufgeklärt worden zu sein. Bei unseren Nachbarn sieht es ähnlich aus. In einer Studie der deutschen Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung von 2015 sagen 59 Prozent der Mädchen, sie seien von den Eltern – mehrheitlich von der Mutter – aufgeklärt worden, bei den Jungen sind es nur 34 Prozent. In beiden Umfragen nennen zwischen 50 und 60 Prozent das Internet als wichtige Informationsquelle. Und während in der Schweiz gut 80 Prozent der Teenager angeben, unter anderem in der Schule aufgeklärt worden zu sein, sind das in der deutschen Studie lediglich rund 40 Prozent. Weitere Rollen im «Aufklärungspuzzle» spielen Kolleginnen und Kollegen, Geschwister, Bücher, Zeitschriften sowie Ärztinnen und Ärzte.
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Ein Drittel der 13-Jährigen hat Pornografie im Internet gesehen
Wir erinnern uns: Pornografie war in unserer Jugend etwas, das man von den obersten Regalen im Kiosk kannte, an denen sich – so dachte man zumindest – nur schmuddelige alte Männer bedienten. Oder von der Teenie-Pyjama-Party, an der man spätabends heimlich und mit leichtem Schamgefühl «Eis am Stiel» schaute. Nackte Tatsachen und Klartext über Sex gab es in erster Linie in der «Bravo».
Ein Aufklärungsgespräch beim Eintritt in die Oberstufe – so wie das die heutige Elterngeneration erlebt hat – ist heutzutage zu spät.
Schon beim Baby alle Körperteile mit Worten benennen!
Wenn eine 3-Jährige ganz selbstverständlich von ihrer Scheide spricht oder ein 6-Jähriger nüchtern und sachlich beim Abendessen den Zeugungsakt erklärt, mag das für eine Elterngeneration, die Aufklärung anders erlebt hat, befremdlich klingen. Und wenn sich die 3-Jährige neugierig dazusetzt, wenn der Vater dem 6-Jährigen das Aufklärungsbuch vorliest, gerät man vielleicht ins Stocken.
Wie kommen Eltern mit ihrem Teenager ins Gespräch?
Dabei hat sich die Rolle der Eltern bei der Aufklärung im Laufe der Zeit durchaus gewandelt. «Die Jugendlichen brauchen heutzutage weniger Hilfe beim Finden der Informationen, sondern eher beim Sortieren», erklärt Annamaria Colombo, Mitautorin der Studie «Sex, Beziehungen … und du? Sexualität und sexuelle Transaktionen, die Jugendliche in der Schweiz betreffen». «Es ist wichtig, dass Erwachsene sich für die wirklichen Bedürfnisse von Kindern interessieren und nicht nur dafür, was sie selbst für diese Bedürfnisse halten. Nur so können sie den Kindern Orientierungspunkte bieten.» Würde beispielsweise die Mutter eines 15-Jährigen mit diesem ernsthaft über seine erste grosse Liebe reden, anstatt ihm einfach eine Packung Kondome zu geben, würde dieser im Hinblick auf seine ersten sexuellen Erfahrungen sicherlich mehr davon profitieren.
«Gespräche mit Vertrauenspersonen sind vor den ersten Erfahrungen die bessere Wahl, als das Internet frei zu erforschen.»
Dazu kommt, dass die sexualitätsbezogenen Inhalte im Netz aus der Perspektive der Erwachsenensexualität produziert sind. «Stereotype Vorbilder und Halbwahrheiten lösen mehr Fragezeichen aus, als dass sie nützliche Antworten geben.» Das bestätigt eine aktuelle Studie im Auftrag des Schweizer Nationalfonds. Sie sagt, dass junge Erwachsene, welche das Elternhaus oder die Schule als Hauptinformationsquelle in Sachen Sexualität angaben, später am wenigsten häufig von sexuell übertragbaren Infekten betroffen sind. Wer sich hauptsächlich im Internet und/oder im Freundeskreis informierte, legt ein riskanteres Sexualverhalten an den Tag und macht auch häufiger negative Erfahrungen.
Noch etwas sollten Eltern wissen: Jugendliche Sexualität ist nicht gleich wie die von Erwachsenen. «Jugendliche befinden sich in der Entdeckungsphase», sagt Annamaria Colombo. «Alles, was sie jetzt über Intimität und Sexualität lernen und erfahren, trägt zu ihrer späteren erwachsenen Identität bei. Denn Sex sollte nicht nur für sich betrachtet werden, sondern steht in einer Wechselwirkung mit anderen Lebensbereichen.»
Sexualität als etwas Schönes statt als etwas Gefährliches vermitteln
So ist es auch nicht verwunderlich, dass in einer Befragung der Fachstelle «Lust und Frust» im Kanton Zürich 84 Prozent der 15-jährigen Buben angeben, schon mal einen Porno gesehen zu haben, während es bei den Mädchen nur 36 Prozent sind. Und während 59 Prozent der Jungen sagen, das Ansehen solcher Bilder mache ihnen Lust auf Sex, sind es bei den Mädchen 14 Prozent.
«Neue Studien zeigen, dass solche Bilder auf Männer und Frauen neurologisch die gleiche Wirkung haben», sagt Lukas Geiser. «Wie mit diesen neuronalen Reizen umgegangen wird, ist aber sehr unterschiedlich. Beispielsweise wurde die weibliche Lust über Jahrzehnte tabuisiert. Wenn wir mit Mädchen – und auch mit Buben – im Zuge der Aufklärung vorwiegend über Krankheiten, Verhütung und Biologie reden, tragen wir nicht unbedingt zu selbstbestimmtem und respektvollem Umgang mit Sexualität bei. Dazu braucht es mehr.» Nämlich zuallererst einmal die Botschaft, dass sexuelle Gefühle etwas Natürliches und vor allem etwas Schönes sind.
Den Aufklärungsunterricht an Schulen finden Jugendliche oft zu technisch
Das soll sich nun mit dem Lehrplan 21 ändern. Dabei ist Aufklärung an der Schule nicht nur wichtig, um Wissenslücken zu schliessen, sondern auch, um die Themen mit Gleichaltrigen zu bereden. «Voneinander nehmen Jugendliche vieles eher an als von Erwachsenen, zum Beispiel ihren Eltern oder Lehrpersonen», weiss Sekundarlehrerin Gaby Bär, die seit über zehn Jahren Sexualkundeunterricht erteilt. Denn auch für Kinder aus den offensten Elternhäusern gibt es Dinge, die sie lieber mit Freundinnen oder Freunden besprechen.
Sexting als sexuelle Handlung begreifen
Auch Julia von Weiler sieht unseren Umgang mit dem sogenannten Sexting (das Versenden von sexy Selbstporträts) kritisch: «Alle beschäftigen sich mit dem Opfer, das irgendwie auch schuldig gesprochen wird. Dabei sind die Verbreiter das Problem.» Ihr Tipp: Statt den Kindern einzuschärfen, wie gefährlich Nacktbilder sind, soll man ihnen erklären, dass sie genauso eine sexuelle Handlung sind wie zum Beispiel Knutschen. «Also muss man sich überlegen: Will ich das? Ist mir das später peinlich? Und: Ist derjenige, dem ich diese schicke, so vertrauenswürdig, dass er oder sie damit nichts Blödes anstellt?»
Die heutige Generation hat nicht früher Sex als ihre Eltern.
Zur Autorin:
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