«Sex ist gleich wichtig wie ein Ämtli» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Sex ist gleich wichtig wie ein Ämtli»

Lesedauer: 7 Minuten

Die Corona-Pandemie ist ein grosser Belastungstest für die Familie, speziell auch für das Paarleben von Eltern. Die Paar- und Sexualberaterin Bettina Disler spricht im Interview darüber, wie man als Elternpaar, jetzt wo die ganze Familie viel zuhause ist, die Nerven behält und wie Eltern in diesem Ausnahmezustand trotzdem Zeit für erotische Zweisamkeit finden.

Interview: Irena Ristic
Bild: Ketut Subiyanto/Pexels & zVg

Frau Disler, Corona hat vor allem kinderlosen Paaren viel Zeit für viel Sex gebracht, ganz im Gegensatz zu den dauergestressten Eltern. Stimmt’s?

In meinem Praxisalltag sehe ich ja nur die, die ein Problem haben (lacht). Aber grundsätzlich ist es so: Die Paare, die sich vor der Coronakrise gut verstanden haben, geniessen ihre gemeinsame Zeit und haben tendenziell auch mehr Sex. Und die anderen, die schon vorher eine Krise hatten, die haben noch weniger Sex. Unabhängig davon, ob sie nun Kinder haben oder nicht.

Homeoffice, eventuell Quarantäne – auf jeden Fall sind alle viel zuhause: Können Eltern unter diesen Umständen die Erotik überhaupt noch ausleben? 

Können ja, aber Paare müssen sich die Zeit für Zweisamkeit nehmen. Ganz wichtig ist dabei, dass sich Elternpaare bewusst sind: Sie als Paar sind der Kern der Familie und nicht die Kinder. Sich Zeit nur zu zweit zu nehmen, diese zu pflegen, ist auch ausserhalb der Coronasituation wichtig.

Was heisst das konkret? 

Zeitfenster planen, die man genau so wichtig nimmt, wie Kindergeburtstage oder Wäschewaschen. Die Sexualität wird also gleich ernst genommen wie ein Ämtli, in dessen Rahmen man sagen kann: In dieser Zeit reden wir nicht über Probleme, schalten das Handy aus und treffen uns auch nicht im Schlabberlook. Auch wenn es derzeit schwierig ist und man nonstop zusammen ist: Behandeln Sie Ihren Partner so, wie Sie auch einen Kunden oder Ihre Nachbarin behandeln würden. Da versuchen Sie ja auch nett zu sein, ziehen sich etwas Passables an und sind offen gegenüber dem anderen.

Bettina Disler ist Paar- und Sexualberaterin. Sie absolvierte einen Masterstudiengang in sexueller Gesundheit und sexuellem Recht an der Hochschule für soziale Arbeit Luzern (HSLU). Disler lebt und arbeitet in Zürich. www.paar-sexualberatung.ch
Bettina Disler ist Paar- und Sexualberaterin. Sie absolvierte einen Masterstudiengang in sexueller Gesundheit und sexuellem Recht an der Hochschule für soziale Arbeit Luzern (HSLU). Disler lebt und arbeitet in Zürich. www.paar-sexualberatung.ch

Was raten Sie, wenn die Sexualität in einer Beziehung ganz eingeschlafen ist? 

Paaren, die zu mir in die Praxis kommen, gebe ich zum Teil experimentelle Aufgaben, um sich neu zu begegnen. Diese lösen sie übrigens sehr gerne. Eine könnte zum Beispiel sein, sich jeden Tag einen Zungenkuss zu geben, um herauszufinden, welche Art von Küssen sie toll finden. Dazu gehört, sich extra immer anders zu küssen. Wichtig ist dabei: Es muss nicht als erotische Aufgabe gesehen werden, sondern als eine Art Projekt, sich gegenseitig neu zu entdecken.

Um neu zusammenzufinden? 

Absolut. Eine Partnerschaft ist ein Balanceakt aus Gewohnheit und Neuem. Nun ist die Gewohnheit der stärkste Klebstoff, den sie als Paar haben. Wenn sie aber stetig in dieser Komfortszene bleiben, die viele am Anfang toll finden, wird es irgendwann langweilig. Niemand ist die gleiche Person wie vor einem Jahr oder vor zehn Jahren. Man muss mit diesem Wandel auch in der Partnerschaft mitgehen. Das heisst: Updaten Sie sich gegenseitig über die aktuellen Gedanken und Wünsche. So bleiben Sie interessant füreinander. Genau dieses Updaten verpassen leider oft auch Elternpaare, weil sie sich zwischen Job und Familie verlieren.

Wenn die Sexualität fehlt, dann kann das also auch ein Hinweis sein, dass es in der Beziehung an sich nicht stimmt? 

Es gibt Paare mit oder ohne Kinder, die seit vielen Jahren glücklich ohne Sex miteinander sind. Hat ein Paar aber ein Problem mit seinem fehlenden Intimleben, dann kann das bedeuten, dass es um ganz andere Themen geht, das Problem primär also nicht in der Sexualität liegt, sondern hier nur die Funktion der Distanztreiberin übernimmt.

«Verhandeln Sie mit Ihrem Partner oder mit Ihrer Partnerin, wenn Sie etwas anders haben wollen.»

Nun, der Alltag ist derzeit anstrengender, die Ungewissheit über die Zukunft stresst viele Menschen und der Ton im Familien- oder Paarleben wird gereizt. Was tun?

Gereiztheit bedeutet immer: Etwas triggert einen. Daher ist die Frage: Was triggert Sie wirklich in diesem Moment? Wirft man dem Partner etwas vor, dann hat das immer etwas mit einem selbst zu tun. Eine andere Person würde dasselbe Verhalten vielleicht gar nicht so provozieren. Aber in einer Partnerschaft ist ein Trigger-Thema eine Aufforderung hinzugucken und sich zu fragen: Was brauche ich, damit es mich nicht mehr triggert? Übernehmen Sie die Verantwortung für sich selbst und kommunizieren Sie Ihrem Gegenüber, was Sie brauchen. Und nicht den Vorwurf.

Der Haushalt ist derzeit ein grosses Trigger-Thema. Auch wenn sich Männer mehr am Haushalt beteiligen als früher, bleibt der grössere Teil der Care-Arbeit gemäss Studien nach wie vor an den Frauen hängen. Was macht Frau mit diesem Widerspruch?

Einfach weniger machen.

Also tagelang über Socken hinwegsteigen, die im Flur vor sich hin müffeln? 

Manchmal fällt es Frauen schwer, Kontrolle abzugeben, weil sie so schnell sind und alles im Blick haben. Viele Frauen würden wohl dann einfach diese Socken schnell wegräumen, weil sie denken: Bis es der Mann macht, geht es ewig. Und darin liegt das Problem. Wenn sie auch so entspannt damit umgingen, dann wäre die Chance gross, dass ihr Gegenüber dann mal sagt: Ok, ich mach es! Meine Erfahrung ist: Männer sind, was den Haushalt betrifft, tiefentspannt. Sie machen es dann aber schon. Einfach in ihrem Tempo.

Bis dahin ist die Partnerin mit den Nerven fertig. 

Aber dann sind wir wieder am gleichen Punkt: Sie lässt sich triggern und dann liegt das Problem bei ihr.

Oder, dass der Partner ihr seinen Lebensrhythmus überstülpt.

Das ist ja die Krux. Sie möchte es schnell erledigt haben, aber wenn sie das so von ihm einfordert, macht sie ja das dasselbe. Mein Tipp ist daher: Verhandeln Sie. Im konkreten Fall: verhandeln Sie mit Ihrem Partner, mit Ihrer Partnerin, das Tempo des Aufräumens. Erklären Sie Ihrem Gegenüber, wieso es Ihnen wichtig ist, dass etwas bis dann erledigt sein müsste. Und lassen Sie sich auch darauf ein, zu hören, wieso es Ihrem Partner wichtig ist, nicht alles gleich wegräumen zu müssen. Dann kommt oft Bewegung in die Situation.

Das hört sich ein bisschen anstrengend an.

Ab und zu ja, aber als Paar und besonders auch als Eltern sind Sie ein Team. Und diesen Team-Gedanken verlieren viele Eltern mit der Zeit. Sie fangen an, gegeneinander, statt zusammen zu arbeiten. Statt sich zu überlegen, was man am Gegenüber nicht gut findet, ist es besser zu sagen: Ok, wir sind jetzt in dieser Situation. Wie gestalten wir sie gemeinsam? In anderen Worten: Mehr miteinander verhandeln, was man will, statt darüber zu reden, was man nicht will.

Aber was tun mit der Wut auf den Partner oder die Partnerin? Oft verschwindet sie ja nicht einfach so.

Sie ist ein Hinweis darauf, dass Sie Ihre Grenzen spüren. Das ist etwas sehr Gesundes, vor allem in einer Beziehung. Was passiert, wenn Sie nicht auf Ihr inneres Nein hören und dann Ihre Grenzen nicht ziehen? Sie werden wütend. Zuerst auf Ihren Partner oder Ihre Partnerin. Und später auf sich selbst, weil Sie nicht für sich einstehen und kommunizieren, was Sie für sich brauchen, damit es Ihnen gut geht.

Welche Themen werden in dieser Corona-Krise in der Familie aus Ihrer Sicht zu wenig thematisiert?

Über den Umgang mit einem möglichen Todesfall eines Familienmitglieds wird zu wenig oder gar nicht geredet. Abschiednehmen, Trauermahl … all dies ist jetzt noch viel schwieriger. Allein die Logistik ist ein Kraftakt. Auch Finanzprobleme oder die Angst vor Jobverlust sind in diesen Zeiten die grossen Stressfaktoren, die auf Familien und Paare einwirken. Den individuellen Freiraum zu verhandeln fällt momentan auch vielen schwerer, weil sie sich verpflichtet fühlen, mehr aufeinander Rücksicht zu nehmen. Was auch ein Tabu-Thema ist: Affären in der Corona-Krise.

«In der Corona-Krise fliegen Affären eher auf»

Ein heikles Thema, das jetzt wohl noch explosiver geworden ist … 

Nun: Man muss jetzt eine sehr gute Ausrede finden, um länger aus dem Haus wegzubleiben. Das fällt mir gerade sehr auf in der Praxis. Männer und Frauen mit Affären, haben es derzeit sehr schwierig, sich zu treffen. Die Sehnsucht nach der Geliebten oder dem Geliebten ist nun teilweise noch grösser, was sich auch auf die Hauptbeziehung auswirkt.

Was ist die Folge? 

Affären fliegen eher auf. Es fällt halt auf, wenn der Partner oder die Partnerin nervös ist und ständig am Handy hängt. Das macht misstrauisch. Auf der anderen Seite fühlt sich auch die Affäre sehr vernachlässigt, weil sich der Affärenpartner nicht mehr so viel melden kann – oder will.

Könnte man also auch sagen, die Krise bringt die wirklichen Probleme ans Licht?

Es ist beides. Es gibt Leute, die bislang verdrängt haben, dass ihr Leben nur noch aus Alltagstrott besteht und die vor lauter 24/7 plötzlich ausbrechen und sagen: Ich möchte das nicht mehr. Das ist dann natürlich eine Art Befreiung, weil diese Menschen danach handeln, wie sie sich fühlen. Aber es gibt auch die anderen, die sagen, zum Glück kann ich das mal erleben. Vor lauter Arbeit hätte ich es fast verpasst, wie meine Kinder aufwachsen. Viele Männer geniessen übrigens die Zeit mit ihren Kindern zu Hause. Und die Kinder auch, da jedes Elternteil unterschiedlich ist, was Abwechslung in den Familienalltag reinbringt.

Die Coronazeit macht auch die Partnersuche kompliziert, für alleinerziehende Mütter und Väter ist diese aktuell wohl noch schwieriger. 

Das Onlinedating ist nach wie vor aktuell. Singles sind fast aktiver, als vorher, weil sie nicht alleine sein möchten. Kreativ ist zum Beispiel das Zürcher Projekt «be my quarantine», das im Frühling und Sommer Dates via Zoom organisierte. Aber klar: Alleinerziehende Mütter und Väter haben es zurzeit tatsächlich schwerer, weil das Daten ohne Babysitter nur über Online-Plattformen möglich ist.


Beziehungs-Tipps

  • Seien Sie mutig und wagen Sie ab und zu etwas Neues.
  • Updaten Sie sich gegenseitig über die aktuellen Gedanken und Wünsche. So bleiben Sie interessant füreinander.
  • Verhandeln Sie miteinander, was Sie möchten in der Beziehung, statt darüber zu reden, was Sie alles nicht wollen. 
  • Speziell in Coronazeiten: Reduzieren Sie die tägliche News-Dosis. Viele Menschen werden dadurch noch gereizter. Es ist schon so: Worauf sich der Fokus richtet, dorthin fliesst die Energie. Die Umstände können wir nicht verändern aber die Art und Weise, wie wir darauf reagieren schon. Fragen Sie sich als Paar: Wie möchten wir damit konstruktiv umgehen? 
  • Überraschen Sie einander immer wieder mal mit etwas Aussergewöhnlichem.
  • Elternpaare müssen sich die Zeit für (erotische) Zweisamkeit nehmen. Ganz wichtig: Sie als Paar sind der Kern der Familie und nicht die Kinder. Sich Zeit nur zu zweit zu nehmen, diese zu pflegen, ist auch ausserhalb der Coronasituation wichtig. 

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