«Beim Loslassen geht es um das richtige Gespür»
Sich als Mutter oder Vater zurückzunehmen und die Kinder machen zu lassen, ist oft nicht leicht: drei Alltagssituationen und wie Expertinnen damit umgehen würden.
Mein Partner ist übervorsichtig und es fällt ihm schwerer als mir, loszulassen. Bei jeder Kleinigkeit eilt er den Kindern (fünf und sieben) zu Hilfe. Wie kann ich ihm auf eine gute Art und Weise sagen, dass ich das übertrieben finde?
«Fragen Sie Ihren Partner: Welche Sorge hast du? Was könnte passieren? Was würde dir helfen, das Kind einfach machen zu lassen? Ermutigen Sie ihn, dem Kind zu vertrauen. Wenn er bei jeder Kleinigkeit aufspringt und zu Hilfe eilt, fragen Sie: Wie empfindest du dieses Kind? Was siehst du? Empfindest du unser Kind als kompetent? Wie fühlst du dich damit, dass es jetzt schon so kompetent ist? Solche Fragen können Ihrem Partner dabei helfen, sein Verhalten zu reflektieren und schrittweise zu ändern.»
Nicola Schmidt,
Wissenschaftsjournalistin, Buchautorin und zweifache Mutter
Mein Sohn ist acht und für sein Alter recht weit. Doch mit der Selbständigkeit hapert es noch. So zieht er sich morgens beispielsweise nicht unaufgefordert an und oft vergisst er Dinge für die Schule. Was kann ich tun, damit er selbständiger wird und ich mehr loslassen kann?
«Es fängt bei den kleinen, alltäglichen Dingen an. Überlegen Sie: Kann mein Kind das selbst? Wir Eltern reagieren viel zu viel. In den kleinen Momenten, in denen es uns scheint, das Kind bekomme etwas nicht alleine hin, und wir zu Hilfe eilen, können wir innehalten, vielleicht das Kind fragen: Was könntest du machen, damit es klappt? Wichtig ist Vertrauen und dass so ein Schritt auch mal schiefgehen darf. Was zudem die Selbständigkeit von Kindern fördert, ist, ihnen Verantwortung im Familienalltag und Haushalt zu übergeben: Geschirrspüler ausräumen, Einkäufe einräumen, sich um Haustiere kümmern, Wäsche aufhängen, all das sind kleine Loslass-Schritte.»
Nicola Schmidt
Die Geschwisterfolge scheint beim Thema Loslassen keiner klaren Regel zu folgen. So behüten wir das erste Kind mehr, weil alles neu ist und wir uns erst herantasten müssen, lassen es aber mehr los, sobald ein Geschwister kommt. Am jüngsten Kind hängen wir vielleicht länger, sind aber gleichzeitig entspannter, da wir die Erfahrung mit dem älteren schon gemacht haben.
Laut Wissenschaftsjournalistin und Buchautorin Nicola Schmidt spielt aber das Alter der Mutter eine Rolle: «Je später eine Frau Mutter wird, desto intensiver behütet sie das Kind, vor allem, wenn das erste zugleich das letzte ist.»
Meine Tochter ist in der Pubertät. Sie sagt, ihre Freundinnen dürften viel länger in den Ausgang als sie. Wie finden wir das richtige Mass?
«Das Loslassen hat schon auch individuellen Charakter und kann mit jedem Jugendlichen anders sein. Es geht immer wieder um das richtige Gespür dafür, wie viel Verantwortung und Freiheit dem Jugendlichen gegeben werden kann. Sagen Sie zum Beispiel: Ich lasse dich länger in den Ausgang, erwarte aber, dass du pünktlich um 22 Uhr zu Hause bist. Wenn das klappt, habe ich richtig dosiert, wenn nicht, mache ich einen Schritt zurück und versuche es beim nächsten Mal wieder, indem ich frage: Was brauchst du, damit du pünktlich da sein kannst?»
Joëlle Gut,
Psychotherapeutin und Mutter zweier Teenager
- Springen Sie im Alltag nicht sofort auf, wenn das Kind etwas nicht auf Anhieb hinbekommt. Nicht alles benötigt eine Reaktion. Seien sie präsent und schauen Sie zuerst, ob das Kind das Problem nicht auch alleine lösen kann.
- Achten Sie auf die Signale des Kindes. Ist es für den nächsten Schritt – etwa alleine zu Hause zu bleiben, während Sie rasch einkaufen gehen – bereit? Ermutigen Sie es dazu.
- Wenn ein Schritt einmal nicht geklappt hat, sollte das Kind sich dafür nicht schämen müssen. Signalisieren Sie Verlässlichkeit und zeigen Sie, dass Sie da sind, wenn es Probleme gibt.
- Übergeben Sie Ihrem Kind stückweise Verantwortung im Haushalt und bei Erledigungen ausser Haus. Das stärkt die Selbstwirksamkeit und das Gemeinschaftsgefühl.
- Vertrauen Sie auf die Fähigkeiten Ihres Kindes. Kinder sind von Natur aus kooperativ, wenn sie sich ernst genommen fühlen und ihnen Vertrauen geschenkt wird.
- Machen Sie sich bewusst, dass die Abwendung des Kindes in der Pubertät normal und wichtig ist. Es ist entlastend, dies nicht persönlich zu nehmen.
- Hinterfragen Sie eigene Muster wie: Definiere ich mich hauptsächlich über die Elternrolle oder auch als Individuum oder Partnerin/Partner? Wie viel Nähe brauche ich? Wie stark sind gesellschaftliche Ideale in mir verankert?