Loslassen verändert sich je nach Entwicklungsphase
Eltern müssen sich mit dem Kind mitentwickeln und immer wieder neue Wege finden, um ihm einerseits Halt und Sicherheit, andererseits Freiheit und Vertrauen zu schenken.
Das erste grosse Loslassen ist natürlich die Geburt – es braucht Vertrauen in den Körper und den Geburtsvorgang sowie die Bereitschaft, das Kind in die Welt zu entlassen. Während der ersten Zeit mit dem Baby ist es dann schwer vorstellbar, sich auch nur für kurze Zeit von ihm zu trennen – doch mit zunehmender Autonomie des Kindes geht es darum, die Balance zwischen Festhalten und Loslassen so gut es geht zu meistern.
Loslassen beim Kleinkind: Autonomie und Nähe
Sobald das Kind das Krabbeln und Laufen für sich entdeckt hat, will es seine Umwelt auf eigene Faust erkunden. Bis es dann, zwischen dem zweiten und dem dritten Lebensjahr, sehr deutlich sein Bedürfnis nach Autonomie signalisiert.
Der Begriff «Trotzphase» gilt dabei mittlerweile als veraltet. Der dänische Familientherapeut Jesper Juul schreibt dazu in seinem Buch «Dein kompetentes Kind»: «Wenn die Erwachsenen auf den Versuch eines Dreijährigen, eigene Kompetenzen zu entwickeln, mit Widerstand und Trotz reagieren, dann wird es entweder selbst trotzig – Trotz erzeugt Trotz – oder antriebslos und abhängig.»
Stück für Stück Verantwortung abzugeben, hilft bei der Entwicklung von Selbstwirksamkeit.
Es sind also Geduld und Einfühlungsvermögen gefordert, um beide Bedürfnisse, das nach Nähe und das nach Autonomie, unter einen Hut zu bekommen. Im Alltag hilft es, innezuhalten, statt sofort einzugreifen, wenn das Kind Neues ausprobiert.
Nun ist es an der Zeit, Beziehungen zu anderen Erwachsenen zuzulassen. Das Kind strebt nach Selbständigkeit, braucht aber gleichzeitig noch enorm viel Nähe. Diese Gleichzeitigkeit kann auch frustrierend sein, etwa dann, wenn das Kind sich nicht von einer anderen Bezugsperson betreuen lassen will.
Kindergarten: Andere Beziehungen zulassen
Wurde das Kind bisher zu Hause betreut, hatten Eltern die Kontrolle über den Tagesablauf. Das ist nun anders. Das Kind bestreitet nicht nur den Weg zum Chindsgi alleine, sondern es bleibt mehrere Stunden am Tag im Kindergarten, ohne dass die Eltern genau wissen, was dort geschieht.
In diesem Alter meistern Kinder die Theory of Mind, also die Fähigkeit, nicht nur die eigenen Gefühle und Motive wahrzunehmen, sondern auch die der Mitmenschen. Sie beginnen, erste Freundschaften zu schliessen und sich nachmittags zum Spielen zu verabreden. Nach und nach wird ihr soziales Umfeld grösser.
Loslassen bedeutet hier also nicht nur räumliche Trennung: Die Ungewissheit darüber, was im Kindergarten geschieht, benötigt Vertrauen, auch in die Lehrperson. Auf der anderen Seite ist die Bereitschaft nötig, dem Kind andere Beziehungen zu ermöglichen, zu anderen Kindern, aber auch zu den Lehrpersonen.
Pubertät raubt Eltern die Sonderstellung.
Remo Largo, Kinderarzt
Schulkind: Mut zum Ausprobieren
Die Einschulung ist ein Meilenstein und die Gefühle sind meist gemischt: Wie wird das Kind mit den Leistungsanforderungen der Schule zurechtkommen? Wird es sich gut eingliedern können? Es ist wichtig, den Fähigkeiten des Kindes und der Lehrpersonen zu vertrauen.
Freunde gewinnen an Wichtigkeit und die zunehmenden Erfahrungen mit anderen Menschen und ihrer Vielfalt sind wahre Entwicklungsmotoren. Jetzt gilt es, zuzulassen, dass das Kind auch ausserhalb der Familie emotionale Nähe, Vertrauen und Unterstützung von unterschiedlichen Erwachsenen erhält: von anderen Familienmitgliedern und Freunden, Grosseltern, Lehrpersonen oder Nachbarn.
Kinder wollen in dieser Phase viel ausprobieren. Allein mit dem Bus fahren, alleine in die Badi, zum Hobby. Stück für Stück Verantwortung abzugeben, auch im Haushalt, hilft bei der Entwicklung der Selbstwirksamkeit.
Loslassen in der Pubertät: Sicherer Hafen sein
Die Pubertät hat keinen guten Ruf – zu Unrecht. Kinder grenzen sich von den Eltern ab, entwickeln ihre eigene Meinung. Das ist Teil der gesunden Entwicklung, die nicht persönlich genommen werden, aber durchaus auch wehmütig oder besorgt stimmen darf. Neben den körperlichen Veränderungen erfährt das Gehirn des Kindes eine komplette Umstrukturierung. Das bedeutet auch eine Umgestaltung der Beziehung zu den Eltern – eine neue Beziehung entsteht. «Pubertät raubt Eltern die Sonderstellung», schrieb einst der Schweizer Kinderarzt Remo Largo.
Pubertät: Gemeinsame Regeln und Kompromisse sind enorm hilfreich, gerade im Umgang mit Ausgang und Medien.
Mehr denn je ist eine Gratwanderung zwischen Verständnis und Konsequenz gefordert, während das Kind seine eigenen Fehler und Erfahrungen macht. Auch ist es an der Zeit, eigene Ideale, Vorstellungen und Erwartungen an sich selbst als Eltern loszulassen und zu hinterfragen. Gemeinsame Regeln und Kompromisse sind enorm hilfreich, gerade im Umgang mit Ausgang und Medien.
Freunde nehmen einen Platz ähnlich der Familie ein. «Für die Persönlichkeitsentwicklung Jugendlicher ist es wichtig, dass sie sich zusehends ein eigenes soziales Netz jenseits der Kernfamilie gestalten, um sich aus der Rolle des Kindes zu lösen und erwachsen werden zu können», sagt die emeritierte Psychologieprofessorin Pasqualina Perrig-Chiello. «In einer sicheren Eltern-Kind-Bindung ist dieser Prozess keine Bedrohung. Begleiten Eltern ihn mit Respekt, Verständnis und Vertrauen, bleibt das eigene Elternhaus der sichere Hafen im Hintergrund, zu dem man immer wieder gerne zurückkehrt.»