Trotzige Kinder haben trotzige Eltern
Kinder wollen von sich aus kooperieren. Eltern haben die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die kindliche Integrität dabei nicht verletzt wird. Jesper Juul über trotzige Eltern und warum ein klares Nein Kinder entlastet.
Wenn wir im Allgemeinen über Kinder reden, bezeichnen wir sie gerne als gesund, stark, spontan und vital. Wir preisen ihre Anpassungsfähigkeit und ihren Überlebenswillen. Doch in einem Punkt sind Kinder extrem verletzlich: im Konflikt zwischen dem urmenschlichen Drang, mit den Menschen zu kooperieren, von denen wir abhängig sind, und unserem Bedürfnis, unsere Integrität zu wahren.
Integrität umfasst Begriffe wie Vollständigkeit, Unverletzlichkeit und Unantastbarkeit. Zur Integrität des Kindes gehören die Lebensäusserungen, die den Kern seiner Existenz zum Ausdruck bringen und eine eigenständige Kraft haben, ohne von den Gedanken oder Anpassungen des Kindes beeinflusst zu werden.
Bei der Integrität handelt es sich um die fundamentalen Bedürfnisse und persönlichen Grenzen des Kindes.
Es sind die Gedanken, Gefühle und Reaktionen, die sich unmittelbar einstellen und ein Ausdruck für das wachsende «Ich» des Kindes sind. Es handelt sich, kurz gesagt, um die fundamentalen Bedürfnisse und persönlichen Grenzen des Kindes.
Kooperation verändert sich mit dem Alter. Ein Säugling beginnt damit, dass er das Verhalten seiner Eltern kopiert beziehungsweise nachahmt. Denken wir uns folgendes Beispiel aus: Es klingelt an der Tür. Sie nehmen Ihre kleine Tochter auf den Arm und öffnen die Tür.
Das Mädchen schaut nicht den Fremden auf der Schwelle, sondern nur Sie an, damit es weiss, wie es reagieren muss. Vor Ihnen steht eine Person, in deren Gegenwart Sie sich nicht wohlfühlen und die Sie lieber nicht sehen würden. Ihre Tochter kooperiert mit Ihnen, indem sie zu schreien anfängt, obwohl Sie sich um ein höfliches Lächeln bemühen.
Auch kennen wir wohl alle die Situation, wenn ein kleines Kind von seiner Mama oder seinem Papa zum Kindergarten oder zur Kita gebracht wird. Die Reaktion des Kindes hängt sehr stark vom Verhalten des Elternteils ab. Falls die Mutter sich selbst nicht ganz wohl damit fühlt, ihr Kind in fremde Hände zu geben, wird es womöglich «eine Szene machen».
Väter sind in solchen Situationen meist entspannter, wodurch auch die «Übergabe» leichter wird. Natürlich wäre es auch der Mutter am liebsten, dass aus der Verabschiedung kein Drama wird. Doch ihre Vorstellung von kindlicher Kooperation unterscheidet sich sehr vom Drang des Kindes, die inneren Vorgänge seiner Eltern zu kopieren und nachzuahmen.
Kinder sind Weltmeister im Kooperieren
Später arbeiten Kinder differenzierter mit uns zusammen und betrachten ihre Eltern als Rollenvorbilder, denen sie aktiv nacheifern. Stellen wir uns einen Fünfjährigen namens Luca vor. Sie schicken ihn zum Nachbarn, um ein wenig Zucker zu holen. «Du musst mitkommen», sagt Luca. «Ach, du bist doch schon gross. Das schaffst du doch allein», entgegnen Sie womöglich. Doch Lucas Bitte ist ein Zeichen dafür, dass er Sie als Vorbild studieren will, damit er weiss, wie er sich das nächste Mal verhalten soll, wenn er auf sich allein gestellt ist.
Viele glauben, man müsse Kindern beibringen zu kooperieren. Das ist ein grosser Irrtum. Kinder kommen als Weltmeister im Kooperieren auf die Welt und tun dies so sehr, dass unentwegt ihre Integrität auf dem Spiel steht.
Wie schütze ich also die Integrität meines Kindes? Was die Integrität eines Kindes verletzt, ist sehr viel leichter zu beschreiben und lehrt uns vor allem, was wir nicht tun sollten. Viele unserer kleinen Übergriffe bestehen in der fast routinemässigen Kritik, die wir im Alltag an unseren Kindern üben.
Ein Beispiel: Sie wollen mit Ihrer dreieinhalbjährigen Tochter Mia das Haus verlassen, um sie zur Kita zu bringen. Mia nimmt Ihnen den Kinderanorak aus der Hand und sagt: «Selber machen!» Sie erklären ihr, dass sie dazu noch zu klein sei. Doch Mia besteht darauf, also überlassen Sie ihr widerwillig die Jacke. Nach einem längeren Kampf mit den Ärmeln hat Mia die Jacke verkehrt herum an. «Ich hab ja gesagt, dass du noch zu klein bist», sagen Sie ungehalten. Wenn Kinder zwei bis drei Jahre alt sind, macht die Entwicklung ihrer Integrität einen Sprung. Die sogenannte kindliche Trotzphase ist ein Mythos. Mias Verhalten hat nichts mit Trotz zu tun. In Wahrheit verhält sich ihre Mutter trotzig.
Kinder haben vor allem das Bedürfnis, als diejenigen gesehen zu werden, die sie sind, und nicht nach dem beurteilt zu werden, was sie tun.
Eltern lassen mit diesem Trotz erkennen, dass es für sie nicht leicht ist, zu erleben, wie ihre Kinder immer selbständiger werden und sich zunehmend von ihren Eltern unterscheiden. Die Kinder brauchen Übung, und die Eltern müssen sich an ihre neue Rolle gewöhnen.
Wenn Kinder in ihrem Selbständigkeitsdrang auf Trotz oder Widerstand stossen, kopieren sie dieses Verhalten und beantworten Trotz mit Trotz. Wodurch sich die Eltern in ihrer Sicht bestätigt fühlen: «Warum musst du immer so trotzig sein!» Wer die Integrität seines Kindes wahren möchte, sollte sich auf einen längeren, beschwerlichen Weg einstellen: Vielleicht wird Mia fünfundzwanzig Versuche brauchen, bis sie gelernt hat, ihre Jacke richtig herum anzuziehen.
Natürlich müssen sich Kinder so früh wie möglich an gewisse Spielregeln gewöhnen, die ihre Integrität notgedrungen ein wenig einschränken. Doch eines ist gewiss: Je mehr man versucht, die Integrität eines Kindes zu modifizieren, und je mehr es sich anpassen muss, desto schlechter wird es sich als junger Erwachsener in der Gesellschaft zurechtfinden, desto abhängiger, unreifer und selbstdestruktiver wird es sein und desto heftiger wird in der Pubertät die Rebellion ausfallen.
Was Kinder lernen, wenn Eltern guten Gewissens Nein sagen
Wenn man die Integrität eines Kindes kränkt, nimmt man ihm damit einen wesentlichen Teil seines Selbstgefühls und vermittelt ihm die grundlegende Erfahrung, nicht so sein zu dürfen, wie es ist. Diese Erfahrung löst bei Kindern wie Erwachsenen eine existenzielle Krise aus.
Kinder haben vor allem das Bedürfnis, als diejenigen gesehen zu werden, die sie sind, und nicht nach dem beurteilt zu werden, was sie tun. Kinder brauchen zum einen loyale Eltern, die ihre Führungsrolle wahrnehmen, und zum anderen einen verlässlichen Rahmen.
So wie Zwei- bis Dreijährige allmählich unabhängiger von ihren Eltern werden, müssen sich auch die Eltern Stück für Stück ihr Territorium zurückerobern. Viele Eltern haben Schwierigkeiten damit, zu ihren Kindern auch mal Nein zu sagen, ihnen einen Wunsch abzuschlagen oder einfach mitzuteilen, dass sie gerade keine Zeit für sie haben.
Kinder, die nie ein klares Nein oder Ja erhalten, sind aus mehreren Gründen tief frustriert. Zum einen gibt die Halbherzigkeit der Erwachsenen ihnen das Gefühl, dass sie anstrengend und nicht in Ordnung sind, wenn sie den Kontakt suchen. Zum anderen wollen sie gerne mit ihren Eltern zusammenarbeiten, kopieren deren schlecht getarnte Reizbarkeit und werden das, was ihre Eltern dann als launisch, quengelig oder unmöglich bezeichnen.
Wer nicht in der Lage ist, aus Überzeugung Nein zu sagen, wird auch nie zu einem Ja aus vollem Herzen in der Lage sein.
Kinder sind darauf angewiesen, dass wir Eltern so oft wie möglich und aus vollem Herzen Ja zu ihnen sagen. Doch haben wir auch das Recht auf ein klares Nein, wenn wir Nein meinen. Es geht nicht um ein Nein zu materiellen Dingen, sondern um ein Nein zum kindlichen Wunsch nach Aufmerksamkeit, Engagement, Fürsorge oder anderen Formen des Kontakts.
Wir mögen unsere Kinder zunächst frustrieren, wenn wir ihnen Wünsche verweigern, doch zugleich bringen wir ihnen etwas Wertvolles bei: Dass es in Ordnung ist, zu anderen Nein zu sagen, auch wenn diese noch so sehr um ein Ja bitten. Und wer nicht in der Lage ist, aus Überzeugung und guten Gewissens Nein zu sagen, wird auch niemals zu einem Ja aus vollem Herzen in der Lage sein.