Die Kunst, Nein zu sagen, ohne zu verletzen oder zu kränken
Einst bekamen Kinder von ihren Eltern fast automatisch ein Nein zu hören, wenn sie einen Wunsch äusserten. Heute sagen Mütter und Väter oftmals Ja, auch wenn sie eigentlich Nein meinen. Dabei brauchen Kinder die authentische Rückmeldung ihrer Eltern.
Mit dem Nein verhält es sich wie mit Grenzen – es gibt keine, die per se richtig oder angemessen sind. Man kann keine Liste davon anfertigen, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Alter ein Nein automatisch gerechtfertigt wäre. Zwei Dinge lassen sich mit Sicherheit feststellen:
- Die erste Antwort, die ein neugeborenes Kind hören, sehen und fühlen muss, ist ein riesiges Ja, das von ganzem Herzen kommt. Ein «Ja, du bist willkommen». Ein «Ja, ich werde für dich da sein». Während des ersten Lebensjahres des Kindes müssen die Eltern ihm ein ständiges Ja zukommen lassen. Ein Ja zu Hunger, Durst und Kontaktbedürfnis. Ein Ja zu Koliken, Mittelohrentzündungen und Schlafschwierigkeiten. Ein «Ja, wir öffnen dir unsere Herzen und bieten dir für alle Zeit einen sicheren Platz darin».
- Wenn das Kind etwa achtzehn Monate alt ist, wird es Zeit, auch mal Nein zu sagen. Nicht nur im Interesse des Wohlergehens und der Entwicklung des Kindes, sondern ebenso sehr hinsichtlich der Qualität unserer Beziehung und unserer eigenen Bedürfnisse.
Kinder werden mit grosser Weisheit, doch ohne Erfahrung geboren. Kinder kommen als kompetente, vollwertige Menschen auf die Welt, doch fehlen ihnen zunächst zwei wichtige Kompetenzen: Sie sind nicht in der Lage, im umfassenden Sinne für sich selbst Sorge zu tragen, ehe wir dies zehn bis zwölf Jahre lang übernommen haben. Und sie können keine Verantwortung für die notwendige Qualität ihrer Beziehung zu den Erwachsenen übernehmen. Sie können signalisieren, wenn etwas mit dieser Beziehung nicht in Ordnung ist, doch sie können die Beziehung nicht ändern.
Grundbedürfnisse befriedigen
Dass sie nicht für sich selbst Sorge tragen können, zeigt sich darin, dass sie den Unterschied zwischen ihren momentanen Wünschen und ihren eigentliche Bedürfnissen nicht kennen. Es ist die wichtigste Aufgabe der Eltern, dafür zu sorgen, dass die Grundbedürfnisse ihrer Kinder nach Nahrung, Wärme, Sicherheit und sozialem Kontakt befriedigt werden. Die zweitwichtigste Aufgabe besteht darin, den Kindern den Unterschied zwischen momentanen Wünschen und grundlegenden Bedürfnissen zu vermitteln. Nicht, indem sie langatmige Vorträge darüber halten, sondern indem sie ihren Kindern bestimmte Erfahrungen ermöglichen.
Die wichtigste dieser Erfahrungen lautet, dass die Welt nicht untergeht, wenn man nicht immer gleich bekommt, worauf man gerade Lust hat. Viele solcher Erlebnisse formen sich zu einer wichtigen Lebenserfahrung, die zu dem gehört, was auch soziale Kompetenz genannt wird und das Gegenteil von Egozentrik ist.
Der richtige Zeitpunkt für ein Nein ist dann gekommen, wenn wir zu uns selbst Ja sagen müssen.
Eltern in unserem reichen Teil der Welt stehen hierbei vor der Herausforderung, bei der Begründung für ein Nein auf die eigenen Gefühle, Haltungen und Wertvorstellungen angewiesen zu sein. Frühere Generationen konnten sich darauf beschränken, auf einen allgemeingültigen Kodex zu verweisen, was «man» tat oder nicht tat beziehungsweise, was sich mehr oder weniger «gehörte». Doch schon damals wiederholten die Eltern ihr Nein zehn bis zwanzig Mal, ehe sie mit zornbebender Stimme ausriefen: «Ich hab Nein gesagt und damit basta!»
Ein Nein ist eine wertvolle Rückmeldung für das Kind
Im Verhältnis zu unseren Kindern gilt dasselbe wie zu anderen Menschen auch: Der richtige Zeitpunkt für ein Nein ist dann gekommen, wenn wir zu uns selbst Ja sagen müssen. Wenn wir unsere eigenen Grenzen und Werte wahren müssen und ein Ja aus vollem Herzen nicht möglich ist. Ein solches Nein hat die ausserordentliche Qualität, über «Wärme» zu verfügen – statt einer Abweisung ist es eine persönliche Rückmeldung, die sagt: So bin ich. In Langzeitbeziehungen zu Kindern, Partnern, Freunden und Angehörigen sind solche Rückmeldungen von unschätzbarem Wert. Die anderen wissen, mit wem sie es zu tun haben, und auch wir selbst lernen uns immer besser kennen.
Manche Mütter und Väter haben die unglückselige Angewohnheit entwickelt, auch dann Ja zu sagen, wenn sie eigentlich Nein meinen – so wollen sie Konflikte vermeiden oder ihr schlechtes Gewissen kompensieren, zu wenig Zeit und Energie für ihre Kinder aufzubringen. Entweder sagen sie sofort Ja oder sie bringen ihren Kindern bei, nur beharrlich genug sein zu müssen, damit ihre Eltern die Meinung ändern.
Wird mich mein Kind bei einem Nein ablehnen?
Diese Angewohnheit ist leicht zu erklären, aber schwer zu entschuldigen, denn sie schadet der persönlichen wie der sozialen Entwicklung der Kinder. Ausserdem geht sie auf Kosten der persönlichen Integrität und Selbstachtung der Eltern und trägt dazu bei, in der Familie eine Kultur zu etablieren, in der man sich um des lieben Friedens willen anlügt oder manipuliert.
Für die Kinder ist dies besonders gefährlich, da sie ein Minimum an Kontakt zu ihren Eltern brauchen, stattdessen aber nur das bekommen, worauf sie gerade Lust haben. Falls die Eltern ihre Partnerschaft auf denselben Prinzipien aufbauen, wird sie nicht lange Bestand haben. Manche werden sich jetzt fragen, wie es um die Konflikte bestellt ist, die ein wiederholtes Nein der Eltern zur Folge haben. Werden unsere Kinder nicht traurig werden und uns womöglich ablehnen?
Ein stetes elterliches Ja aus den falschen Gründen erschwert eine gesunde Entwicklung
Die Antwort auf die erste Frage lautet, dass Konflikte ein integraler Bestandteil jeder gleichwürdigen Beziehung sind und weder Kindern noch Eltern schaden. Die Antwort auf die zweite Frage lautet, dass Elternschaft nicht bedeutet, sich jederzeit beliebt zu machen. In der Kindererziehung geht es nicht darum, wie Kinder ihre Eltern in unterschiedlichen Situationen beurteilen, sondern darum, welche Beziehung sie langfristig zu sich selbst und anderen aufbauen. Und glauben Sie mir: Kinder, die aus falschen Gründen stets ein Ja zu hören bekommen, hassen am Ende sich selbst und sind nicht in der Lage, konstruktive Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen.
Konflikte sind Bestandteil jeder gleichwürdigen Beziehung und schaden weder Kindern noch Eltern.
Dass Kinder frustriert und traurig sind, wenn sie nicht das bekommen, was sie gerade wollen, ist eine gesunde und natürliche Reaktion. Eltern sollten ihnen diese Reaktion zugestehen, anstatt zu versuchen, sie herunterzuspielen oder zu kompensieren. Kinder, denen die Möglichkeit genommen wird, frustriert oder traurig zu sein, haben es schwer, ihre angeborene Fähigkeit zu Empathie und sozialer Kompetenz zu entwickeln. Wir können unsere Kinder nicht «verwöhnen», indem wir ihnen zu viel von dem geben, was sie brauchen. Sogenannte verwöhnte Kinder sind Kinder, die zu wenig von dem bekommen, was sie nötig haben, aber jede Menge davon, worauf sie gerade Lust haben, wodurch sich die Eltern allzu oft ihren Frieden erkaufen.
Es geht also darum, Nein zu sagen, um Ja zu sich selbst sagen zu können – zu den eigenen Gefühlen, Grenzen und Werten, den eigenen physischen und finanziellen Möglichkeiten. Und es geht darum, mit gutem Gewissen Nein zu sagen. Dasselbe müssen wir auch im Verhältnis zu anderen Menschen lernen, zu denen wir wichtige Beziehungen haben. Für viele von uns ist dies ein langer wechselseitiger Lernprozess. Unsere Partner werden dadurch ermutigt, sich selbst treu zu sein, und unsere Kinder lernen dadurch, guten Gewissens Eigenverantwortung zu übernehmen, wenn es sie in die grosse weite Welt hinauszieht.