Schluss mit starren Rollen – zuhören!

Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren
Viele Eltern flüchten sich gegenüber ihren Kindern in Schauspielerei, weil sie Angst haben, die Führung zu verlieren. Dabei würden ihnen Empathie und ein echter Dialog auch helfen, Grenzen zu setzen.
Selbst wenn Eltern bis zu diesem Punkt präsent waren, hören in diesem Augenblick die meisten auf, zuzuhören. Sie beginnen mit der Schauspielerei und springen in die Rolle der Eltern: «Nun, dann musst du auch etwas angestellt haben!» Warum also sollte dieses Kind dir noch mal etwas anvertrauen, wenn du ihm nicht bis zum Schluss mit Empathie zuhören kannst? Niemand verlangt von dir, Partei zu ergreifen, aber du musst zunächst fürs Kind da sein – du musst dir die ganze Geschichte anhören. Und es ist völlig egal, welches nun die objektiven Tatsachen waren, die zu diesem Konflikt geführt haben: Wesentlich ist, dass das Kind sehr unglücklich ist.
Warum verschanzen wir uns hinter dem Rollen-Ich?
Das, was Eltern mit ihrer Haltung ausdrücken, ist, dass es ihnen viel wichtiger ist, unter Beweis zu stellen, was für «gute Eltern» sie sind, als mit ihrem Kind in Kontakt zu treten. Sie sind von sich selbst absorbiert und nicht wirklich auf Bezug und Dialog eingestellt.
Gerade Frauen müssten wissen, wie schmerzhaft es ist, sich zu öffnen und nicht gehört zu werden.
Frauen erzählen ihr Problem nicht, weil sie einen grossen Bruder oder Vater brauchen, der ihnen sagt, wo es langgeht. Sie finden die Lösung meist selber. Nur begreifen die Männer nicht, dass ein guter Teil der Lösung darin besteht, darüber zu sprechen. Die Frauen hoffen also, wenn sie sich ihrem Mann, den Eltern oder den Freundinnen mitteilen, und erzählen, was sie momentan quält, dass sie dann einen Ausweg für sich finden. So handeln die meisten Frauen!
Im inneren Dialog gefangene Männer
Zum Beispiel: Als mein Vater gestorben ist, wollte ich niemanden um mich herum haben, aber das war natürlich nicht möglich. Es kamen alle Verwandten und Freunde. Und für meine Mutter war es sehr hilfreich, denn indem sie jedem Neuankömmling dieselbe Geschichte erzählte, realisierte sie allmählich tatsächlich, dass ihr Mann tot war. Wenn sie allein gewesen wäre, wäre diese Trauerarbeit sehr viel schwieriger geworden, und sie wäre womöglich nicht so leicht darüber hinweggekommen. In dieser Hinsicht haben Frauen mehr Weisheit – und trotzdem sind sie genauso unweise wie die Männer. Wenn es um ihre Kinder geht, dann sind sie auch nicht imstande, zuzuhören.
So hilft ein Dialog den Eltern dabei, Grenzen zu setzen
Mithilfe des Dialogs kann man auch Grenzen setzen. Ein typisches Beispiel: Es geht um eine Familie mit zwei Kindern, einem Mädchen und einem Jungen. Der Vater möchte, dass sie um 21 Uhr zu Hause sind. Sie kommen aber um 23 Uhr. Der Vater: «Was war los? Was habt ihr euch gedacht, als ihr gesehen habt, wie spät es ist? Was war so wichtig, dass ihr die Uhrzeit vergessen habt?» Nachdem er all das weiss, sagt er: «Jetzt weiss ich, dass ihr mich nicht zum Narren halten wolltet, aber ich möchte, dass ihr von nun an immer um 21 Uhr zu Hause seid, ganz egal, was euch vielleicht wichtiger ist!» Dieser Vater hat sich die Kinder angehört und hat ihre Erlebnisse ernst genommen, sodass es den Kindern nicht schwerfallen wird, seine Regel zu akzeptieren, auch wenn sie etwas brummen werden. Letztlich sagen sie: Okay!
Ohne persönlichen Dialog können Kinder nicht erreicht werden.
Dieser Text stammt aus dem Buch «Wir sind für dich da. 10 Tipps für authentische Eltern» von Jesper Juul. Erschienen 2005 im Kreuz Verlag. Das Buch ist vergriffen.
Jesper Juul (1948 – 2019)
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hat wie kein anderer in den vergangenen Jahrzehnten Menschen mit seinen Erziehungs- und Beziehungsprinzipien geprägt.
Der Gründer von familylab, einem Beratungsnetzwerk für Familien, und Autor von über 40 Büchern («Dein kompetentes Kind», «Aus Erziehung wird Beziehung») starb am 25. Juli im Alter von 71 Jahren nach langer Krankheit in Odder, Dänemark. Er war zweimal verheiratet und hinterlässt einen Sohn aus erster Ehe und zwei Enkelkinder.
Die Kolumnen von Jesper Juul entstehen in Zusammenarbeit mit familylab.ch
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