Vom Umgang mit Respekt, Grenzen und Regeln

llustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren
Das Thema «Grenzen setzen» erlebt unser Kolumnist als eine der grössten Herausforderungen im Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Während es einfach ist, allgemeine Prinzipien zu formulieren wie «Kinder brauchen Regeln» oder «als Eltern muss man konsequent sein», ist die Ausgestaltung im Alltag äusserst anspruchsvoll und in vielen Fällen eine Frage des Bauchgefühls.
«Niemals würde ich es wagen, so etwas zu dir zu sagen»
Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Eltern je explizit Regeln aufgestellt hätten. Dennoch war uns Kindern bewusst, was «bei uns» gilt.
Meiner Mutter gelang es aber auch in anspruchsvolleren Situationen, für gegenseitigen Respekt zu sorgen. Sie war bis zu ihrer Pensionierung leidenschaftliche Kindergärtnerin. Die letzten Berufsjahre führte sie einen Kindergarten, der auch von vielen fremdsprachigen Kindern und solchen aus bildungsfernen Familien besucht wurde. Viele von ihnen brachten einen Rucksack an schwierigen Erfahrungen mit, sprachen schlecht Deutsch und verhielten sich teilweise auffällig. In der ersten Woche sagte sie zur Gruppe: «Hier gibt es nur eine einzige Regel, an die wir uns alle halten: Wir haben Respekt vor uns selbst, den anderen und den Sachen.»
Übertretungen wurden zum Anlass, immer wieder auf die Frage zurückzukommen, wie man respektvoll handelt.
In einer Klasse gehörten Schimpfwörter als Selbstverständlichkeit zum Umgang untereinander. Zum Beispiel: «Kastrier deine Aids-Bazillen» und «Fick deine Mutter!».
Meine Mutter rief die Kinder in den Kreis: «So. Sagt mal alle Schimpfwörter, die euch einfallen. Die ganz schlimmen könnt ihr leise sagen.»
Sie schrieb alle Antworten auf Papierstreifen. Im Anschluss legte sie drei Kreise auf den Boden: grün, orange und rot. Sie las ein Schimpfwort nach dem anderen vor: «Scheissdreck: Wie findet ihr das?» «Hui, schlimm!», kam es von den Kindern. «Ich finde es nicht so schlimm – legen wir es in den grünen Kreis?» Dann sagte sie «Fick deine Mutter», und die Kinder meinten «geht so», worauf sie antwortete, dass es ziemlich schlimm sei und es gefährlich sein könne, wenn man Wörter sage, deren Bedeutung man nicht verstehe. Alle unbekannten Wörter kamen zur Sicherheit in den roten Kreis. Nach und nach wurden die Schimpfwörter verteilt.
«Fick dei … Frau Grolimund, haben wir das verbrannt?»
«Fick dei … Frau Grolimund, haben wir das verbrannt?», fragten wenig später die Kinder, wenn sie zu einer Fluchtirade ansetzen wollten. «Ja, das ist verbrannt! Schau, du kannst dir eines von den grünen aussuchen», antwortete meine Mutter und las einige Schimpfwörter vor, bis das Kind ein geeignetes gefunden hatte.
In vielen Fällen gelang es ihr, mit den Kindern ein gemeinsames Verständnis dafür zu entwickeln, wie man miteinander umgeht, und dabei auch Kinder miteinzubeziehen, die von zu Hause einen ganz anderen Umgang gewohnt waren.
Gerade im Jugendalter bekommt das Thema Respekt nochmals eine neue Dimension. Jugendliche reagieren sehr viel sensibler darauf, wenn ihnen jemand respektlos begegnet als jüngere Kinder. Für unser neues Videoprojekt «Und was denkst du?» haben Stefanie Rietzler und ich über 20 Jugendliche interviewt. Fast alle sagten, dass sie sich am meisten darüber ärgerten, wenn sie nicht ernst genommen oder von Erwachsenen blossgestellt würden.
Fast alle Jugendlichen
sagten mir, dass sie sich am meisten darüber ärgerten, wenn sie nicht ernst genommen würden.
Ich erwarte viel von euch – weil ihr mir wichtig seid
Auch Kinder dürfen von Erwachsenen Respekt einfordern. Meine Vierjährige isst einmal pro Woche in der Mittagsbetreuung. Es gefällt ihr überhaupt nicht: «Es hat nur zwei Betreuerinnen, die ich gerne mag. Die anderen sind blöd.» Das will ich natürlich genauer wissen und frage nach, was diese tun. Sie erzählt, dass sie beim Essen neben ihrem Bruder sitzen möchte, das aber nicht darf, weil die Kinder nach Klasse sortiert werden. Und dass die «blöden Betreuerinnen» schimpfen, wenn sie deswegen weinen muss. «Die schimpfen? Die trösten dich nicht?», will ich wissen und bekomme die Antwort: «Nein, Papa! Das sind so Scheisshühner!»
Das ist vielleicht eines dieser Beispiele, bei denen man je nach Auffassung, was Respekt bedeutet, sehr unterschiedlich reagiert. Vielleicht würde jemand entgegnen: «Es wird nicht geflucht! Solche Wörter sagt man nicht!», jemand anderes: «Wenn das eine Regel ist, musst du dich auch daran halten». Mir war es wichtig, dass meine Tochter in ihrer kindlich-direkten Art sagen kann: «Ich darf traurig sein und weinen und muss mich nicht falsch fühlen, wenn eine erwachsene Person deswegen schimpft.»
Fabian Grolimund
www.mit-kindern-lernen.ch, www.biber-blog.com
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