In vieler Hinsicht eine logische Reaktion. Eltern würden ihren Kindern ja im Grunde sämtliche Wünsche erfüllen wollen – wenn sie nur den emotionalen und ökonomischen Überschuss dafür hätten. Wenn wir also Nein zu unseren Kindern sagen und diese sich nicht gleich damit abfinden, empfinden wir uns schnell als schlechte Eltern. Und wenn wir uns nicht mehr als wertvoll für diejenigen empfinden, die uns am Herzen liegen, reagieren wir aggressiv.
Kinder reagieren fast immer mit Tränen, und das aus zwei Gründen: Die Formulierung «Jetzt hör auf zu quengeln!» bedeutet sehr direkt «Du bist lästig, nicht wertvoll». Worüber man zu recht weinen kann. Der zweite Grund ist ebenso wichtig. Durch das Weinen bearbeiten die Kinder ihren Verlust. Sie trauern.
Erwachsene wissen in der Regel, wie wichtig es ist, zu weinen und zu trauern, wenn man Tragödien, Scheidungen und Todesfälle erleidet. Doch auch bei geringeren Verlusten gilt: Tränen sind die einzige Möglichkeit, unser mentales Gleichgewicht wiederherzustellen. Ausserdem sollten wir uns klarmachen, dass der brennende Wunsch eines Dreijährigen, der soeben eine riesige Eisreklame gesehen hat, für ihn keine Kleinigkeit ist. Wird dieser Wunsch abgelehnt, beweint er seinen Verlust. Der Junge hat sich darauf eingestellt, dass er kein Eis bekommt – im Gegensatz zu der gängigen Meinung der Erwachsenen, er würde durch sein Weinen versuchen, seine Mutter doch noch herumzukriegen. 90 Prozent der Dreijährigen weinen aus Frustration.
Im Prinzip glauben die meisten Erwachsenen auch, weinende Kinder seien unglücklich. Deshalb stellen weinende Kinder so eine grosse Provokation für uns dar. Je heftiger sie weinen, desto mehr fühlen wir uns als schlechte Eltern. Die betreffende Mutter wird also fürchten, von allen anderen Menschen im Supermarkt als schlechte Mutter betrachtet zu werden. Je mehr wir uns aber als schlechte Eltern empfinden, desto aggressiver reagieren wir. Also wird die Mutter ihren Sohn vermutlich zurechtweisen: «Jetzt hör auf zu quengeln!» Und je deutlicher wir unserem Kind zu verstehen geben, dass es lästig sei, desto mehr fliessen die Tränen.
Vermutlich liegt Ihnen jetzt die naheliegende Frage auf der Zunge, ob Kinder denn jedes Mal ein Eis bekommen sollen, wenn sie danach fragen. Natürlich nicht. Eine unserer Funktionen als Eltern besteht darin, dass wir den Rahmen für unsere Kinder abstecken und ihnen gewisse Grenzen setzen. So brauchen Kinder fünf bis sieben Jahre, um sich daran zu gewöhnen, dass es in der Welt und bei ihren Eltern ein Ja und ein Nein gibt. Wir Eltern helfen ihnen bei diesem Prozess.
Wir sollten die gesunde Reaktion unseres Kindes aber auch anerkennen und wertschätzen. Wir können uns über die Vitalität freuen, mit der es seinen Wunsch zum Ausdruck bringt. Deshalb sollte man seine Anstrengungen nicht an sich kritisieren, sondern freundlich und gelassen am eigenen Nein festhalten. Falls das Weinen kein Ende nimmt, kann man dies stillschweigend akzeptieren oder sein Kind auf den Arm nehmen und zu ihm sagen: «Ich weiss, wie schlimm es ist, etwas nicht bekommen zu können, das man so sehr will.»
Damit gibt man ihm zu verstehen, dass sein Verhalten an sich gesund und berechtigt ist. In der Regel dauert es danach noch dreissig bis vierzig Sekunden, bis das Kind aufhört zu weinen.
Betrachten wir einmal folgende Episode: Die Eltern besuchen mit ihrem fünfjährigen Sohn Elias und dessen älterem Bruder ein Restaurant. Elias benimmt sich während des Essens geradezu vorbildlich, doch als seine Eltern beim Kaffee angelangt sind und über ihre eigenen Dinge reden, beginnt er sich zu langweilen. Zunächst steht er auf, geht ruhig zwischen den anderen Tischen umher und begrüsst freundlich die anderen Gäste. Danach zieht er in einem bestimmten Muster, das eine Acht beschreibt, zwischen zwei leeren Tischen seine Bahn. Er kooperiert also mit dem Bedürfnis seiner Eltern, als Paar zu fungieren, und hat eine ebenso harmlose wie ruhige Beschäftigung gefunden. Plötzlich steht der Vater auf und zieht Elias unsanft zurück an den gemeinsamen Tisch. Er sieht ihn ernst an und sagt: «Setz dich hin! Sonst nehmen wir dich nicht wieder mit in ein Restaurant!»
Würde der Vater die enorme Kooperationsbereitschaft seines Sohnes begreifen, könnte er sagen: «Wie schön, dass wir hier in Ruhe sitzen können, während du dir so ein schönes Spiel ausdenkst.» Oder: «Was für tolle Achten du da machst.»
Die unsinnige Zurechtweisung des Vaters bedeutet natürlich nicht, dass er bösartig wäre oder seinen Sohn nicht lieben würde. Auch dieser Vater möchte der bestmögliche Erzieher für seinen Sohn sein. Wir alle haben in aller Unschuld wohl schon ähnliche Dinge zu unseren Kindern gesagt.