Musst du so austicken? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Musst du so austicken?

Lesedauer: 4 Minuten

Kinder, die zu Wutausbrüchen neigen, haben häufig unterentwickelte Problem­lösefähigkeiten, schreibt unser Kolumnist Fabian Grolimund. Mit etwas Übung lassen sich diese gemeinsam trainieren.

Ihr Sohn raste wegen Kleinigkeiten völlig aus, berichtet eine Mutter: «Es kann etwas ganz Banales sein: Er kommt bei seinem Computerspiel nicht weiter. Oder wir können, weil es regnet, nicht schwimmen gehen und fragen ihn, was er sonst gerne machen möchte. Dann flippt er aus. Manchmal reicht es schon, wenn er das Gefühl hat, jemand aus der Familie schaue ihn zu lange an.»

Wenig bringt Eltern und Lehrkräfte so sehr an den Anschlag wie Kinder, die aus scheinbar nichtigen Anlässen in Rage geraten, aggressiv werden und dabei um sich schlagen, Dinge zerstören, andere beschimpfen oder den eigenen Kopf gegen die Wand schlagen.

Oft leidet die ganze Familie unter diesen Ausbrüchen. Die Eltern fühlen sich hilflos und schämen sich, die Geschwister haben Angst, Klassenkameraden wenden sich ab und das betroffene Kind fühlt sich allein und unverstanden.

Wut als Ausdruck kindlicher Überforderung

Vielleicht bekommt das Kind eine oder mehrere Diagnosen: ADHS, Autismus-Spektrum-Störung, intermittierende explosible Störung, Störung mit oppositionellem Trotzverhalten, Störung des Sozialverhaltens, posttraumatische Belastungsstörung – oder es wird einfach als hochsensibel bezeichnet. Es kann wichtig sein, genauer hinzuschauen, was hinter den Ausbrüchen steckt. Trotzdem bleibt offen: Wie geht man mit den Wutanfällen um?

Diese Frage hat sich auch der amerikanische Kinderpsychologe Ross Greene gestellt, der hauptsächlich mit Familien arbeitet, deren Kinder häufig ausrasten. Seine Arbeit baut auf einer simplen, aber machtvollen Annahme auf: «Kids do well, if they can» – Kinder machen ihre Sache gut, wenn sie können.

Auf den ersten Blick mag das logisch klingen. Die meisten Reaktionen von Erwachsenen im Umgang mit kindlichen Wutausbrüchen bauen jedoch auf einer anderen Annahme auf: Kinder machen ihre Sache gut, wenn sie denn wollen.

Immer, wenn wir schimpfen, drohen, belohnen, argumentieren, bestrafen oder mit logischen Konsequenzen arbeiten, möchten wir unsere Kinder dazu motivieren, sich anders zu verhalten. Wir gehen unbewusst davon aus, dass sie nur nicht genügend wollen. Wenn Kinder aber nicht können, nützt all dies wenig. 

Wenn wir als Eltern oder Lehrkräfte wissen, welche Kompetenzen beim jeweiligen Kind noch nicht genügend entwickelt sind, werden Wutausbrüche vorhersagbar.

Ross Greene beschreibt drei Kompetenzen, die bei explosiven Kindern häufig unterentwickelt sind: Flexibilität, Frustrationstoleranz und Problemlösefähigkeiten. Die Kinder wissen infolgedessen nicht, wie sie mit sich selbst umgehen können, wenn Pläne unerwartet über den Haufen geworfen werden, etwas nicht so ist, wie es ihrer Vorstellung entspricht, wenn sie etwas nicht fertig machen können, ein Spiel verlieren, bei einem Problem keine Lösung finden, etwas nicht verstehen oder einen Misserfolg erleben.

Die aggressiven Ausbrüche sind also Ausdruck ihrer Überforderung. Um damit verbundene Situationen in Zukunft besser meistern zu können, benötigen bestimmte Kinder deutlich mehr Unterstützung und Training.

Wenn wir als Eltern oder Lehrkräfte wissen, welche Kompetenzen beim jeweiligen Kind noch nicht genügend entwickelt sind, werden Ausbrüche vorhersagbar. Wir verstehen das Muster dahinter und sehen, dass sich die Situationen, in denen das Kind ausflippt, ähneln und wiederholen.

Geduldig nachfragen und zuhören

Greene hat gemeinsam mit Familien einen Weg entwickelt, um solche Kompetenzen mit dem Kind zu üben. Im Vordergrund steht das kollaborative und proaktive Problemlösen. Hierfür beobachten Eltern genau, welche Situationen regelmässig zu Ausbrüchen führen.

Zunächst wartet der Erwachsene einen ruhigen Moment ab, in dem das Kind gut aufgelegt ist. Behutsam und ohne vorwurfsvollen Unterton beschreibt er eine schwierige Situation: «Mir ist aufgefallen, dass wir uns oft streiten, wenn die Gaming-Zeit vorbei ist. Können wir uns anschauen, was da los ist?»

Nun wird dem Kind Zeit gegeben, seine Sichtweise auf die Sache zu schildern. Wahrscheinlich sagt es zuerst «keine Ahnung» oder «weiss nicht» – dann braucht es etwas Geduld, um eine Gesprächspause zuzulassen: «Das macht nichts. Ich habe dich auch noch nie so direkt danach gefragt. Vielleicht willst du noch etwas darüber nachdenken? Wir sind nicht in Eile.»

Dieser Schritt funktioniert nur, wenn wir als Erwachsene den Standpunkt des Kindes wirklich erfassen möchten und geduldig nachfragen, was genau das Kind so wütend macht. Vielleicht sagt es am nächsten Tag: «Mein Computerspiel ist so spannend. Ich bin mittendrin und dann kommst du und willst, dass ich aufhöre. Elias darf viel länger gamen, alle dürfen länger gamen, nie darf ich machen, was ich will. Immer kommandiert ihr mich herum!»

An dieser Stelle fordert der Ansatz Erwachsenen einiges an Disziplin ab, weil es nun eben genau nicht darum gehen soll, zu argumentieren oder das Kind von der eigenen Sichtweise zu überzeugen.

Stattdessen bemüht man sich, weiter zuzuhören, die Gefühle des Kindes ernst zu nehmen und sich tiefer in das Problem hineinzudenken. Zum Beispiel, indem man Fragen stellt: «Was bedeutet für dich genau, dass wir dich herumkommandieren?», «Wie kommt es dazu, dass du denkst, du dürftest nie machen, was du willst?»

Mit dem Kind Lösungen gegen Wut suchen 

Erst wenn sich das Kind ausreichend verstanden fühlt und man selbst begriffen hat, was es so wütend macht, geht man zum zweiten Schritt über. Hier legen die Erwachsenen ihre Sorgen und Anliegen dar: «Du hast recht, wir kommandieren dich oft herum. Und am meisten natürlich, wenn es ums Gamen geht. Ich befürchte, wenn wir dir nicht sagen, dass du abstellen sollst, wird es zu viel und andere wichtige Dinge kommen zu kurz. Dann bleibt womöglich zu wenig Zeit, um Freunde zu treffen, anderen Hobbys nachzugehen oder sich um die Hausaufgaben und das Lernen zu kümmern.»

Wichtig ist, dass die Lösung nicht von den Erwachsenen kommt und diese das Kind nicht auf eine bestimmte Idee hinlenken.

Wenn die Erwachsenen ihre Sorgen geäussert haben, sprechen sie eine Einladung aus: «Ich bin gespannt, ob wir gemeinsam eine Lösung finden, damit du dich nicht herumkommandiert fühlst und ich mir trotzdem keine Sorgen machen muss. Hast du eine Idee?»

Zuerst kommt vielleicht keine Rückmeldung. Oder das Kind bringt nur Lösungsvorschläge, die seinen eigenen Wünschen Rechnung tragen. Dann kann man als Eltern sagen: «Ja, so würdest du dich nicht mehr herumkommandiert fühlen – aber meine Befürchtung bleibt. Finden wir eine Lösung, die für uns beide passt?»

Wichtig ist, dass die Lösung nicht von den Erwachsenen kommt und diese das Kind nicht auf eine bestimmte Idee hinlenken. Es soll merken, dass man ihm eine gute Lösung zutraut, mit der alle einverstanden sind.

Vielleicht denken Sie jetzt: «Das dauert ja ewig!» Aber: Es geht im Grunde genommen nicht um die Lösung einer ganz bestimmten Problemsituation, sondern darum, dass unser Kind wichtige Kompetenzen erwirbt, diese festigt und lernt, flexibler zu werden, Probleme genauer zu definieren, Lösungen zu finden und eigene Wünsche und Bedürfnisse in Worte zu fassen.  

Fabian Grolimund
ist Psychologe und Buchautor. Gemeinsam mit ­Stefanie Rietzler leitet er die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Er ist verheiratet, Vater eines Sohnes und einer Tochter und lebt mit seiner Familie in Fribourg.

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