Wie Sie Ihr Kind durch stürmische Gefühle begleiten
Merken
Drucken

Wie Sie Ihr Kind durch seinen Gefühlssturm begleiten

Lesedauer: 4 Minuten

Die eigenen Gefühle aushalten und regulieren zu können, müssen Kinder erst lernen. Die meisten Eltern wollen sie dabei gut unterstützen – und missverstehen oft die Situation. Das sind die drei häufigsten Irrtümer.

Text: Stefanie Rietzler
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Ein Sonntagnachmittag vor dem Haupteingang des Zoos Zürich. Ein etwa neunjähriger Junge sitzt auf dem Trottoir, brüllt, schreit, fuchtelt wild mit Händen und Füssen. Seine Mutter hockt sichtlich abgekämpft, aber mit verständnisvollem Blick vor ihm, die Arme sanft ausgebreitet. Die Minuten ziehen dahin. Der Bub tobt weiter. Im Vorbeigehen möchte ich ihr gerne sagen, wie wunderbar sie ihr Kind durch diesen Gefühlssturm begleitet. Aber vielleicht wird sie das als Einmischung erleben, sich von mir bewertet fühlen? Also gehe ich schweigend weiter.

Was gelingt dieser Mutter in meinen Augen so gut? Sie gibt ihrem Sohn zu verstehen, dass er seine Wut fühlen darf. Sie bleibt ihm zugewandt, droht und straft nicht, redet nicht auf ihn ein, sondern versucht selbst ruhig zu bleiben und sich nicht von den Aggressionen anstecken zu lassen. Bald lehnt sich der Junge erschöpft an sie und kommt zur Ruhe.

Unangenehme Gefühle aushalten lernen

Solch eine Begleitung durch Gefühlsstürme wird in der Psychologie als Co-Regulation bezeichnet. Dabei fühlen wir uns in das Kind ein und bieten ihm mittels ­beruhigender Mimik und Gestik Sicherheit und die Möglichkeit, sich seinen Gefühlen zu stellen und sie ausklingen zu lassen. Nach und nach lernen Kinder so, ihre Gefühle und Bedürfnisse besser zu verstehen, ­unangenehme Empfindungen auszuhalten, mit etwas Distanz über sie nachzudenken und immer eigenständiger Lösungen zu finden.

Wenn ihnen das gelingt, werden sie vielen Erwachsenen etwas voraushaben, die Angst, Trauer und Scham am liebsten gar nicht fühlen wollen, ihre Wut unterdrücken oder unkontrolliert an ihren Mitmenschen auslassen, oder sich mit Essen, Alkohol oder Medikamenten betäuben. 

Viele Kinder vertragen keine sofortige Nähe, wenn sie wütend sind. Das muss nicht heissen, dass die Eltern schlecht trösten.

Heute setzen die meisten bindungsorientierten Eltern auf Co-Regulation, um ihren Kindern einen gesunden Umgang mit ihren Emotionen zu ermöglichen. Vielfach steht dahinter auch der eigene Schmerz darüber, dass man selbst als Kind abgewertet, beschämt oder mit Liebesentzug bestraft wurde, wenn man angeblich «unangemessene Gefühle» gezeigt hatte. 

Co-Regulation verlangt uns Eltern einiges ab: den eigenen Stress aushalten, wenn das Kind von seinen Emotionen durchgeschüttelt wird; uns selbst regulieren, wenn wir kurz davor stehen, zu explodieren; darauf verzichten, das «Theater sofort abzustellen», indem man etwa Gefühle kleinredet, mit Konsequenzen droht oder dem Kind Angst einjagt. Doch bei dieser bindungsorientierten Gefühlsbegleitung können uns einige Missverständnisse im Weg stehen.

Irrtum 1: «Wenn ich es richtig mache, wird sich mein Kind rasch beruhigen» 

Geraten Kinder in Rage oder sind sehr traurig, setzen sich viele Eltern stark unter Druck: «Ich muss meinem Kind dabei helfen, sich möglichst schnell zu beruhigen!» So, als wäre man nur dann gut in Co-Regulation, wenn sich das Kind einem sofort in die Arme wirft und rasch trösten lässt. 

Von diesem Irrglauben dürfen wir uns verabschieden. Zum einen unterscheiden sich Kinder von Geburt an stark hinsichtlich ihrer Erregbarkeit und sind verschieden leicht oder schwer zu trösten. Zum anderen können psychische Auffälligkeiten dazu beitragen, dass Kinder häufigere, längere und heftigere Gefühlsausbrüche haben und sich schwerer beruhigen lassen. 

Darüber hinaus vertragen viele Kinder keine sofortige Nähe, wenn sie wütend und frustriert sind – wollen zunächst weder angesprochen noch berührt werden. Das ist normal und muss nicht heissen, dass die Eltern «schlecht trösten» oder etwas mit der Eltern-Kind-Bindung nicht stimmt.

Co-Regulation beginnt nicht beim Kind, sondern bei uns selbst. Wir können auf unseren Atem achten und konstruktiv denken.

Irrtum 2: «Co-Regulation bedeutet, Gefühle zu spiegeln»

Oft sind wir so sehr mit dem Ausbruch des Kindes beschäftigt, dass wir uns dabei selbst vergessen. Wir spiegeln Gefühle, sagen dem Kind, dass es in Ordnung ist, wütend oder traurig zu sein, bieten Strategien an und wollen helfen. Wenn das Kind sich nicht darauf einlässt, reisst uns schon bald der Gefühlstornado mit. So viele Worte, so viel Nähe, so viele Angebote ärgern und reizen viele Kinder aber nur noch mehr. 

Was hilft? Weniger tun und dafür den Fokus stärker auf uns selbst lenken! Denn Co-Regulation beginnt nicht beim Kind, sondern bei uns selbst. Wir können auf unseren Atem achten – langsam und tief in den Bauch – und uns mit konstruktiven Gedanken entlasten: «Wir halten das gemeinsam aus. Der Sturm geht vorbei. Ich muss nichts weiter tun, ausser da zu sein.»

Natürlich hilft es Kindern, wenn wir ihre Gefühle spiegeln, erfragen und über Lösungsmöglichkeiten sprechen. Aber im Auge des Gefühlssturms sollte man sich nicht zu viel davon erhoffen. Meist ist es hilfreich, damit zu warten, bis unser Kind sich so weit gefangen hat, dass unsere Worte es wieder erreichen können.

Co-Regulation bedeutet nicht, dass wir alle Handlungen zulassen und die Familie in eine emotionale Geiselhaft gerät.

Irrtum 3: «Co-Regulation bedeutet, von Forderungen und Grenzen abzusehen»

Co-Regulation bedeutet, dass wir einen Raum schaffen, in dem sich das Kind mit seinen Gefühlen zeigen und auseinandersetzen darf. Es bedeutet nicht, dass wir alle Handlungen zulassen. Zugewandtes Begleiten durch Gefühlsstürme soll und darf Hand in Hand damit gehen, dass man klar und deutlich Stopp sagt und eingreift, wenn das Kind Gewalt anwendet oder Dinge kaputt macht, und sich dafür einsetzt, dass es angerichteten Schaden wiedergutmacht. 

Die Psychologin und dreifache Mutter Rebecca Kennedy arbeitet vielfach mit Familien, deren Kinder zu intensiven Gefühlsausbrüchen neigen. Dabei macht sie immer wieder die Erfahrung, dass manche Eltern sich so vor den Ausbrüchen ihres Kindes ängstigen, dass sie sich fast nur noch nach dessen Wünschen richten und die Familie in eine Art «emotionale Geiselhaft» gerät. 

Sie schlägt den Eltern Folgendes vor: «Sprechen Sie die folgende Aussage auf Ihr Handy und üben Sie sie so lange, bis sich Ihre Stimme sicher und überzeugend anhört: ‹In unserer Familie wählt normalerweise Bobby den Film aus. Sonst wird er meist ziemlich wütend. Heute machen wir es anders. Bobby, ich möchte dich darauf vorbereiten, was genau passieren wird. Heute ist deine Schwester dran, den Film auszusuchen. Falls du wütend wirst und schreist, gehe ich mit dir in dein Zimmer, damit die anderen in Ruhe den Film anschauen können. Dort setze ich mich mit dir hin und bleibe bei dir. Ich habe keine Angst vor deinen Gefühlen.›»

Viele explosive Kinder werden von ihren Gefühlsausbrüchen völlig überrollt. Sie geraten ausser Kontrolle, was ihnen auch Angst einjagt. Es spendet ihnen Sicherheit, wenn sie merken, dass es ihren Eltern nicht auch so geht und diese bereit sind, die schwierigen Gefühle mit ihnen auszuhalten und gleichzeitig für die Bedürfnisse aller Familienmitglieder einzustehen.

Stefanie Rietzler
ist Psychologin und Autorin. Gemeinsam mit Fabian Grolimund leitet sie die Akademie für Lerncoaching, ein Beratungs- und Weiterbildungsinstitut. Rietzler ist Mutter eines Sohnes und einer Tochter und lebt mit ihrer Familie in Zürich.

Alle Artikel von Stefanie Rietzler

Mehr zum Thema Emotionen

Verzeihen: Vater fährt Sohn beim Wandern durchs Haar
Gesellschaft
Verzeihen ist mehr, als den Groll zu überwinden
Niemand kann uns so nachhaltig verletzen wie die eigenen Eltern. Wie können wir ihnen verzeihen? Und muss es überhaupt sein?
Ein Junge schaut missmutig auf seinen Vater, der seinem Sohn eine Moralpredigt hält.
Elternbildung
«Mein Sohn ist weinend aus dem Haus gerannt»
Ein Vater wird bei einem Konflikt mit seinem elfjährigen Sohn handgreiflich. Er fühlt sich hilflos und bittet den Elternnotruf um Rat.
Advertorial
Lichterglanz am Kambly Weihnachtsmarkt
Kambly Weihnachtsmarkt: An den beiden ersten Advents-Wochenenden sorgt das Emmentaler Dorf Trubschachen für strahlende Momente.
Zweites Kindergartenjahr: Fast schon gross
Gesellschaft
Was ändert sich im zweiten Kindergartenjahr?
Nun gehört Ihr Kind bereits zu den Grossen im Kindergarten. Was das bedeutet und wie sich Kinder im zweiten Kindergartenjahr entwickeln.
Lehrstelle finden: Lea Schefer
Berufswahl
Berufswahl: Wer ist wofür zuständig?
Viele Jugendliche haben Mühe, sich auf die Berufswahl einzulassen. Auch für Lea Schefer war es ein hürdenreicher Weg bis zur Lehrstelle.
Gespräch übers Gamen
Familienleben
Gamen nervt Sie nur? 7 Aha-Erlebnisse einer Mutter
Wissen Sie, für welches Game Ihr Kind gerade brennt und was es so interessant macht? Unsere Redaktorin fragte endlich nach und lernte viel.
24-04-gefühle-umgang-kindergarten-kiga-elternmagazin-stefanie-rietzler-fabian-grolimund-hk.png hg
Entwicklung
So lernt Ihr Kind, seine Gefühle zu regulieren
Erstes Kindergartenjahr: Wie Eltern ihr Kind dabei unterstützen können, Emotionen wie Wut, Freude oder Angst zu regulieren.
«Jedes Kind reagiert auf den Eintritt anders»
Entwicklung
Kindergarten: «Jedes Kind reagiert anders auf den Eintritt»
Der Übergang in den Kindergarten ist ein grosser Schritt. Diesen bewältigt jedes Kind in seinem Tempo und durchläuft verschiedene Phasen.
Psychologin Giulietta von Salis über den Umgang mit Gefühlen.
Erziehung
«Kinder verstehen vieles gut, aber wir trauen ihnen zu wenig zu»
Psychologin Giulietta von Salis plädiert dafür, Kinder alle Emotionen erfahren zu lassen und sich als Eltern den eigenen Gefühlen zu stellen.
Elternblog
Misox – oder die Geschichte von der entfesselten Drachenkönigin
Redaktorin Maria Ryser verarbeitet das Unwetter im Misox und nimmt uns mit auf eine innere Reise, die sie auch als Mutter wachsen liess.
Wenn Grosseltern sterben
Familienleben
Wenn Grossmami nicht mehr mag
Oft erleben Kinder bei den Grosseltern zum ersten Mal, dass ein Leben zu Ende geht. Wie sollen Eltern ihren Nachwuchs darauf vorbereiten?
Elternblog
Warum tanzt er denn nicht?
Ausgerechnet am Tag seines grossen Theaterauftritts hat der Sohn unseres Kolumnisten Lukas Linder einen Ausschlag.
Werte an Schulen vermitteln
Lernen
Auf die Werte kommt es an
Eltern finden es wichtig, dass ihr Kind im Unterricht Werte wie Respekt, Toleranz oder Teamgeist lernt. Wie kann die Schule dies vermitteln?
Essstörungen: Mit diesen Tipps können Eltern vorbeugen
Ernährung
9 Tipps, um Essstörungen bei Kindern vorzubeugen
Zu einem gesunden Körperbild und einem entspannten Essverhalten können Eltern viel beitragen: 9 Tipps, um Essstörungen vorzubeugen.
Erziehung ohne Gewalt
Erziehung
«Wir müssen zu Krisenmanagern unseres Familienalltags werden»
Mütter und Väter seien heute hohen Anforderungen ausgesetzt, sagt Elternkursleiterin Stéphanie Bürgi-Dollet. So gelingt gewaltfreie Erziehung.
Entwicklung
Wie können Kinder mit einer Sprachstörung ihre Gefühle ausdrücken?
Kinder mit Sprachstörungen brauchen Unterstützung, um ihre Emotionen zu bewältigen. Was Eltern und Lehrpersonen tun können.
Erziehung
Wo Kinder sind, da ist es laut
Kinder schreien, lachen, toben – und nerven damit ihr Umfeld. Experten geben Tipps, wie Eltern mit dem hohen Lärmpegel umgehen können. 
Malen zeichnen Umgang mit Kinderbildern
Elternbildung
Was malst du da?
Sich beim Malen frei auszudrücken fördert die Kreativität, wirkt entspannend und kann sogar helfen, belastende Erfahrungen zu verarbeiten. 
Entwicklung
Die emotionale Stärke von Jugendlichen fördern
Das Üben von sozialen und emotionalen Fähigkeiten kann die psychische Gesundheit von Jugendlichen verbessern.
Mutter_verzweifelt
Elternbildung
«Ich bin meistens recht hart zu mir selbst»
Eine Mutter ruft beim Elternnotruf an, weil sie beinahe handgreiflich geworden wäre. Die Beraterin zeigt Wege auf, um gelassener zu bleiben.
Wie Soundhealing Wut bei Kindern besänftigt
Familienleben
Wie Soundhealing Wut bei Kindern besänftigen kann
Wütende Kinder sind mit Worten oft nicht mehr erreichbar. Soundhealing kann weiterhelfen. Zu Besuch bei Klangtherapeutin Bettina Steffen.
Erziehungsmythen Elsbeth Stern
Entwicklung
«Die Schule steckt Kinder zu früh in Schubladen»
Lehr- und Lernforscherin Elsbeth Stern weiss, wem Kinder ihr geistiges Potenzial verdanken und was sie brauchen, um es auszuschöpfen.
Nun sei doch mal dankbar!
Erziehung
Nun sei doch mal dankbar!
Masslos und egoistisch statt wertschätzend: So erleben Eltern ihre Kinder immer wieder. Eine Frage der Erziehung? Oder können Kinder vielleicht gar nicht anders?
Elternbildung
Trotzige Kinder haben trotzige Eltern
Kindliche Integrität, was heisst das? Jesper Juul über trotzige Eltern und warum ein klares Nein Kinder entlastet.
Kindergarten
So lernt Ihr Kind den Umgang mit seinen Emotionen
Wie Kinder emotionale Fähigkeiten entwickeln und was Eltern tun können, um sie dabei zu unterstützen.