Gamen nervt Sie nur? 7 Aha-Erlebnisse einer Mutter
Wissen Sie, für welches Game Ihr Kind gerade brennt und was es so interessant macht? Unsere Redaktorin tat sich lange schwer damit. Zu Unrecht, wie sie auf einer Wanderung mit ihrem zwölfjährigen Sohn feststellen musste.
Gamen ist nicht mein Ding. Ich verstehe wenig davon. Ein bisschen Super Mario in der Kindheit, etwas Tekken (ein Kampfspiel) und ein paar Autorennen als Erwachsene. Das wärs schon. Was ich als Mutter hingegen sehr gut kenne, ist das wohl populärste Elternmantra (zumindest bei Söhnen): «Deine Gamezeit ist vorbei.» Und überhaupt das permanente Verhandeln von Bildschirmzeit («Kann ich in den Ferien mehr gamen?»; «Nur noch fünf Minuten, bitteeee!»). Hinzu kommt eine gewisse Ratlosigkeit gepaart mit einer guten Prise Ärger, dass dieses Thema so viel Platz einnimmt in unserem Familienleben.
Bockig sind nicht die Muskeln. Bockig ist das Teenie-Hirn.
Nun, dachte ich, es gibt zwei Möglichkeiten: Erstens, es geht weiter so wie bisher (und der latente Ärger gärt vor sich hin) oder zweitens, ich knie mich in diese ominöse Gamewelt rein und versuche zu verstehen, was daran so genial sein soll (und ärgere mich in Zukunft hoffentlich weniger). Gute Vorsätze schiebt man im dichten Familienalltag leider gerne auf und so blieb es bei Option eins. Bis die Sommerferien kamen und mir plötzlich nichts anderes mehr übrigblieb.
Die Kunst der Ablenkung
Denn ich hatte die glorreiche Idee, mit einem Zwölfjährigen wandern zu gehen. Von Bivio über den Stallerberg (sehr lohnenswert, mit fantastischer Flora und Fauna und praktisch menschenleer) nach Juf, der höchstgelegenen ganzjährig bewohnten Gemeinde Europas (2126 Meter über Meer).
Die ist ja nicht ganz bei Trost, denken Sie jetzt vielleicht – und Sie haben recht. Wie bringt man einen bockigen Fast-Teenager nur den Berg hoch? Indem man sich an Lektion Nummer eins der Kleinkindphase erinnert: Die Kunst der Ablenkung.
Bockig sind schliesslich nicht die Muskeln. Bockig ist nur das Teenie-Hirn. Also fragte ich meinen Jüngsten: «Sag mal, was spielst du gerade für ein Game und worum geht es da?» Hui, Sie hätten diese Transformation sehen sollen: Der grimmige Blick wich einem hoch interessierten Gesicht mit strahlenden Augen. Die lange Schnute wandelte sich in ein plapperndes Maul, das wie der Bergbach neben uns munter vor sich hin plätscherte. Der schleppende Gang kippte schnurstracks in einen federnden, top motivierten Schritt.
Wie bei Harry Potter
Gemeinsam tauchten wir ein in die für mich komplexe Welt von Fire Emblem: Three Houses, dem aktuellen Lieblingsgame meines Sohnes. Er kennt es von seinem sieben Jahre älteren Bruder. Das spiele zwar keiner seiner Kumpels, denn es sei schon mega alt (gemäss meiner Recherche wurde es im Sommer 2019 von Nintendo lanciert. Erstes Learning: Fünf Jahre sind in der Gamewelt uralt). Er fände es aber sehr cool.
Es handelt sich um ein Strategie-Rollenspiel, das auf dem fiktiven Kontinent Fódlan spielt, der von drei Reichen beherrscht wird. «Das ist wie bei Harry Potter, wo es auch das Haus Gryffindor, Hufflepuff, Slytherin und Ravenclaw gibt», erklärte er mir begeistert. Bei Fire Emblem seien es die Blauen Löwen, das sei aktuell sein Haus, die Goldenen Hirsche und die Schwarzen Adler. «Die Schwarzen Adler wähle ich aber nie, denn sie werden später böse», ergänzte er mit verschwörerischer Stimme.
Kommt es zum Kampf, sieht man kein Blut. Es ist wie bei Star Wars, wo die getroffenen Figuren einfach umkippen.
Sohn, 12 Jahre
Ein cleverer Schachzug meines Sohnes. Nun hatte er mich als alte Leseratte an der Angel. Ich war ganz Ohr. Von Höhenmeter zu Höhenmeter erfuhr ich mehr darüber, was meinen Sohn am Gamen so fasziniert und ich muss ehrlich gestehen: Es ist ganz schön viel. Gerne möchte ich sieben Aha-Erlebnisse mit Ihnen teilen.
1. Weniger brutal als angenommen
Wenn der einzige Zugang zum Gamen die Geräuschkulisse im Hintergrund ist, kommt man schnell zum Kurzschluss: Da wird sinnlos rumgeballert und abgeschlachtet. Dem ist nicht so. In Fire Emblem beispielsweise übernimmt der Spieler die Rolle eines Lehrers, der seine Schützlinge zum Kampf ausbildet, bevor der Krieg ausbricht. «Es dauert manchmal ewig, um die Figuren zu rekrutieren. Bernadetta zum Beispiel ist sehr schüchtern und braucht viel Zuwendung und Geschenke, bis man sie endlich hat», klärt mich mein Sohn auf.
Kommt es zum Kampf, sieht man kein Blut. «Es ist wie bei Star Wars, wo die getroffenen Figuren einfach umkippen.» Das sei übrigens auch bei Fortnite so, betont mein Sohn (wir haben abgemacht, dass er es ab 13 spielen darf. Über seine Kollegen kennt er es aber schon). «Dort gibt es auch mega lustige Figuren. Zum Beispiel so einen Typen mit drei grünen Köpfen und spitzigen Zähnen. Der ist voll cool.»
Ein weiteres, sehr beliebtes Baller-Game bei Zwölfjährigen ist das Handygame Brawl Stars. Die Brawler, also Krieger, sehen aus wie Comicfiguren auf einer Chilbi (ich liess es mir später zeigen). Wenn man sie besiegt, lösen sie sich einfach auf. Klar gibt es auch äusserst gewalttätige Games mit sehr realistischen Darstellungen vom Töten. Doch die sind erst ab 16 oder 18 Jahren und bei uns zum Glück noch kein Thema.
In Games wie Fire Emblem kann man wahnsinnig viel machen und selber bestimmen. Das mag ich.
Sohn, 12 Jahre
2. Viele Games sind sehr abwechslungsreich
Als ich meinen Sohn fragte, was ihn an Fire Emblem so fasziniere, kam die Antwort schnell: «Man kann dort einfach wahnsinnig viel machen.» Er könne das ganze Kloster erkunden, kämpfen, Aufgaben lösen, Teestunden halten, angeln, essen, kochen, mit allen Figuren reden (das gehöre zum Erkunden), Dinge einkaufen und vieles mehr.
«Das war auch bei Zelda so. Doch das habe ich schon zweimal durchgespielt. Soll ich dir noch von den Waffen in Fire Emblem erzählen?», fragte er mit grossen Augen. «Schiess los», antwortete ich und lernte, dass es nicht nur Schwerter, Äxte, Bögen und Panzerhände gibt, sondern auch Vernunft, eine dunkle Magie und Glauben, eine helle Magie, mit der man kämpfen und heilen kann.
3. Die Figuren im Game entwickeln sich
Die Figuren in den meisten Games sind nicht statisch, sondern entwickeln sich. Zu Beginn sind sie mit einem simplen Starter-Set ausgerüstet und werden von Runde zu Runde stärker.
«Bei Fire Emblem hat man am Anfang ein Übungsschwert aus Holz oder Eisenwaffen. Später kann man sich silberne Kriegerwaffen holen. Das sind die stärksten und sie sind mega schön. Damit lässt sich eine gegnerische Einheit viermal angreifen», erklärt mein Sohn begeistert. Waffen liessen sich auch schmieden, dann seien sie ebenfalls stärker. Auch Figuren könne man zu höheren Einheiten machen. «Zum Beispiel eine Bürgerin zu einer Pegasus-Reiterin.»
Mein Sohn erklärt es so: «In Fifa gibt es richtig viele Bugs. Das nervt gewaltig und man rastet völlig aus.»
- Bug: Du hast 20 Schüsse aufs Goal gemacht und der Goalie hält alle, was völlig unmöglich ist. Sogar richtig schwierige Schüsse wie mit dem Innenrist ins Lattenkreuz.
- Bug: Wenn du deinen eigenen Spieler im eigenen Strafraum aus Versehen umgrätschst und dann Penalty erhältst.
- Bug: Fieser Schiedsrichter: Du grätschst ausserhalb des Strafraums in den Ball rein und kassierst dafür eine rote Karte.
Mehr zum Thema Wut beim Gamen von Medienwissenschaftler Florian Lippuner im Fritz+Fränzi-Artikel: Gamen: Wie gehen Eltern am besten damit um?
4. Wer gamt, ist selbstwirksam
Einer der stärksten Anziehungspunkte für die Welt des Gamens ist das Gefühl von Selbstwirksamkeit, sagen Experten. Die Welt, in die das Kind eintaucht, ist überschaubar und kann kontrolliert werden. Welche Waffen und Fähigkeiten soll die Figur erhalten? Soll sie sich nach rechts oder links bewegen? Durch diese Tür oder jene? Das Kind bestimmt es. Ist Auto-Unterricht, wie das bei Fire Emblem möglich wäre, eine Option? «Das wähle ich nie. Ich möchte alles selbst bestimmen.»
Die schüchterne Bernadetta gebe ich nicht auf. Ich will nicht, dass sie böse wird.
Sohn, 12 Jahre
5. Gamen weckt Empathie
Bis zu diesem Wandertag dachte ich, dass Gamen eine reine Ego-Angelegenheit sei, bei der es hauptsächlich ums Gewinnen oder Verlieren ginge. Je länger ich meinem Sohn über seine Abenteuer in Fire Emblem zuhörte, desto klarer wurde mir, dass der Spieler eine Beziehung zu seinen Figuren aufbaut, die auch empathische Gefühle weckt. «Die schüchterne Bernadetta gebe ich nicht auf», erzählte er mit Nachdruck, «ich will nicht, dass sie zu den Schwarzen Adlern kommt und böse wird.»
6. Gamen stärkt den sozialen Zusammenhalt
Viele Eltern machen sich Sorgen, dass Gamen ihr Kind isoliert. Wenn das Gamen zum Problem wird, das Kind sich mehr und mehr zurückzieht, keine anderen Hobbys mehr hat und seine sozialen Kontakte vernachlässigt, sollten Eltern handeln.
Ansonsten ist Gamen, wie mir mein Sohn bestätigt, Gesprächsstoff Nummer eins mit seinen Kollegen und so ein wichtiger Kit für den sozialen Zusammenhalt. Stundenlang können sie sich beispielsweise über Spielfiguren und ihre Skins (also die Ausstattung, mit der man Charakteren oder Waffen ein anderes Aussehen geben kann), legendäre Stardrops (ein besonders hoher Gewinn bei Brawl Stars) oder fiese Bugs beim Fussballgame Fifa austauschen (siehe blaue Box oben).
Würde es uns Eltern nicht auch guttun, wenn wir unseren Frust so einfach rauslassen könnten?
7. Ungehemmter Zugang zu Emotionen
Damit sind Eltern vertraut: Beim Gamen wird gebrüllt, was das Zeugs hält. Sei es aus überbordender Freude oder aus tiefstem Frust hinaus. Es heult und jault, kreischt und wiehert, wenn der Nachwuchs die Konsolen in die Finger nimmt. Das ist wohl mit ein Grund, weshalb viele Eltern – mich eingeschlossen – sich regelmässig übers Gamen nerven.
Da ich gerade so offen für dieses Thema bin, versuche ich, es aus einem anderen Blickwinkel als dem verärgerten zu betrachten. Würde es uns Eltern manchmal nicht auch guttun, wenn wir unseren Frust so einfach rauslassen könnten?