Verzeihen ist mehr, als den Groll zu überwinden
Kaum etwas ist schwieriger, als den eigenen Eltern ihre Fehler zu vergeben. Doch wenn wir uns aus der Verbitterung befreien können, tun wir viel Gutes. Vor allem uns selbst.
D er Schlüssel zur Glückseligkeit lautet Shanti. Das Sanskritwort bezeichnet einen Zustand tiefer Ruhe, Erfülltheit und inneren Friedens. Um Shanti zu erreichen, so heisst es im Hinduismus, müssten wir alles loslassen, was uns belastet. Auch unseren Groll gegen andere.
Die ersten Menschen, die uns im Leben verletzen, sind häufig unsere eigenen Eltern. Ausgerechnet. Ihre Kränkungen treffen uns tief. Oftmals wirken sie auch besonders lange nach. Der Vater, der uns das Studium nicht zutraute, oder die Mutter, die ihre Liebe niemals zeigte: Sie können Gründe sein, weswegen wir später einmal eine Psychotherapie machen. Auch unüberlegte Handlungen unserer Eltern haben die Kraft, uns nachhaltig zu verletzen. Wenn sie ein Geschwisterkind ständig bevorzugten oder ein Geheimnis von uns ausplauderten, beschäftigt uns das noch bis ins Erwachsenenalter.
Kränkungen lösen starke negative Gefühlszustände aus wie Ärger, Angst oder Verunsicherung.
Matthias Allemand, Psychologe
Manchmal sitzen Verletzungen so tief, dass wir regelrecht in unserem Groll gefangen sind. Darunter kann langfristig sogar unsere Gesundheit leiden. «Kränkungen lösen starke negative Gefühlszustände aus wie Ärger, Angst, Verunsicherung und Orientierungslosigkeit», sagt Mathias Allemand. Er ist Psychologe und forscht und lehrt an der Universität Zürich zur Rolle der Persönlichkeit für das gesunde Altern. Liegen diese Gefühle auch noch Jahre nach dem auslösenden Ereignis vor, dann können sie laut Allemand unseren Schlaf, unser Wohlbefinden und unsere gesamte Lebensgestaltung beeinträchtigen.
Doch einigen Menschen gelingt es, sich mit der Zeit nicht nur räumlich, sondern auch innerlich von ihren Eltern zu distanzieren. Sich unempfindlicher zu machen, ihnen sogar zu verzeihen. Gelingt es uns, die negativen Gefühle abzulegen, dann können wir auch unseren inneren Frieden wiederherstellen.
Ein Zeichen von Edelmut
In den Weltreligionen ist Vergebung ein viel gepriesenes Instrument, um Erlösung und Seelenheil zu erlangen. «Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern», lautet es im Vaterunser. Jesus predigte das Gebot der Nächstenliebe, mit der wir selbst unsere Feinde bedenken sollten. Im Judentum und im Islam, im Buddhismus wie im Hinduismus streben die Menschen nach Glückseligkeit durch Verzeihen.
«Nur der ist weise und würdig, der seinen Zorn besiegt und Vergebung zeigt, auch wenn er von Starken verletzt, beleidigt und gekränkt wird», heisst es im indischen Epos Mahabharata. Wem es gelinge, seinen Zorn zu besiegen, auf den warteten «ewig währende Regionen der Freude».
Es zeugt von Grosszügigkeit und Edelmut, ja Ritterlichkeit, wenn wir sagen können: Ich verzeihe dir. Und welche Befreiung bietet doch dieser Gedanke: Andere Menschen mögen uns ein Unrecht angetan haben, aber wir lassen es nicht länger an uns heran. Wir befreien uns davon, indem wir ihnen verzeihen – und rauben ihnen somit die Macht über uns. Verzeihen – eine Superkraft? Gar ein Allheilmittel? So einfach ist es nicht.
Vertrauen missbraucht
«Verletzungen haben oft damit zu tun, dass unser Vertrauen missbraucht wurde», sagt Susanne Boshammer. Die Professorin am Institut für Philosophie der Universität Osnabrück forscht zu Fragen der Ethik. Als Kinder waren wir von unseren Eltern abhängig und ihnen gegenüber machtlos. Umso grösser ist der Schmerz, wenn ausgerechnet sie uns im Stich lassen, unser Vertrauen missbrauchen oder uns gar Gewalt antun. Gleichzeitig können wir unseren Eltern nicht wirklich entkommen. Selbst wenn wir den Kontakt abbrechen – die Verwandtschaft mit ihnen bleibt für immer bestehen. Das macht das Verzeihen besonders schwierig.
Verzeihen bedeutet nicht, zu vergessen. Es bedeutet auch nicht, sich zu versöhnen oder die Schuld aufzuheben.
Susanne Boshammer, Philosophin
Entscheiden wir uns jedoch dafür, unsere Gefühle wie Traurigkeit, Ärger oder Enttäuschung bewusst loszulassen, sagt Susanne Boshammer, dann können wir unsere Selbstermächtigung zurückerlangen – und uns aus der Opferrolle befreien. Wir reagieren nicht mehr nur auf Ereignisse aus der Vergangenheit, sondern werden selbst aktiv. Dies sei ein wichtiger, wenn auch nur der erste Schritt des Verzeihens, der eine grosse Entlastung für uns bedeuten kann.
Damit das gelingt, kann laut Boshammer ein Perspektivenwechsel helfen und der Versuch, das Verhalten unserer Eltern im Lichte ihrer damaligen Lebensumstände zu betrachten. Besonders an Mütter hätten wir oft hohe Erwartungen, die auf traditionellen Rollenbildern beruhen. «Spätestens wenn man selbst Kinder hat, lernt man schnell, dass Eltern auch nur Menschen sind.»
Keine Entschuldigung einfordern
Doch damit ist es nicht getan. «Den eigenen Groll zu überwinden, heisst noch nicht verzeihen», sagt Susanne Boshammer. Es bedeute immer auch, den anderen zu entlasten: «Von seiner Pflicht, zu bereuen oder unseretwegen ein schlechtes Gewissen zu haben.» Und genau hier wird es knifflig, denn vielleicht sind wir dazu – noch – gar nicht bereit.
Vielleicht möchten wir durch das Verzeihen in erster Linie uns selbst entlasten, warten aber innerlich noch auf eine Entschuldigung. Oder wir wünschen uns heimlich, der andere möge nun erst recht ein schlechtes Gewissen haben – dann entspricht unser Verzeihen eher einem Racheakt.
Ist der Wunsch nach Verzeihen derart motiviert, geht das laut Susanne Boshammer am eigentlichen Sinn der Übung vorbei. «Verzeihen bedeutet nicht, zu vergessen. Es bedeutet auch nicht, sich zu versöhnen oder die Schuld aufzuheben», schränkt die Philosophin ein. «Aber wir erlauben dem anderen dadurch, sich sein Verhalten nicht länger zum Vorwurf zu machen.» Und das sollten wir auch aus vollem Herzen so meinen. Selbst wenn es nur in unseren Gedanken stattfindet.
Ob uns das vollständige Verzeihen gelingt, darauf haben wir mitunter gar keinen Einfluss. Denn bei diesem Prozess hilft es natürlich sehr, wenn der andere seine Tat bereut oder sich sogar bei uns entschuldigt. Wenn wir uns zumindest sicher sind, dass es nicht aus böser Absicht geschah.
Belastende Gefühle in die Vergangenheit verbannen
Vielen Eltern falle es schwer, sich zu entschuldigen, sagt Susanne Boshammer. «Sie wollen wenigstens so tun, als wäre ihr Verhalten wohlüberlegt gewesen.» Manche seien sich auch keiner Schuld bewusst. Und einige Verletzungen sollten wir besser nicht verzeihen: «Wenn in Taten eine besondere Brutalität zum Ausdruck kommt» wie im Fall von Missbrauch oder körperlicher Gewalt. Auch wenn Eltern uns immer wieder herabsetzen, unsere Gefühle nicht ernst nehmen oder unser Vertrauen missbrauchen, ist es laut Boshammer nicht unbedingt ratsam, vergebungsbereit zu sein, «das hat auch etwas mit Selbstachtung zu tun».
Ob wir unseren Eltern oder anderen Menschen wirklich verzeihen sollten, bleibt eine höchst individuelle Frage. Was wir jedoch immer versuchen können, ist, unsere belastenden Gefühle loszulassen. Sie dahin zu verbannen, wo sie hingehören: in die Vergangenheit. Dabei kann es helfen, über andere Dinge zu sprechen als über die Kränkungen, sie auch gedanklich nicht ständig zu wiederholen. Gelingt uns das, können wir ein Stück unbeschwerter in die Zukunft schauen. Und irgendwann vielleicht sogar Shanti, den ersehnten Seelenfrieden, erlangen.