«Ich war Meisterin im Verdrängen»

Aus Ausgabe
11 / November 2025
Lesedauer: 4 min
Claudia*, 52, Mutter zweier erwachsener Kinder im Alter von 23 und 21 Jahren, versuchte, den Schmerz alter Wunden im Alkohol zu ertränken. Seit vier Jahren ist sie trocken.
Aufgezeichnet von Virginia Nolan

Bild: Marvin Zilm / 13 Photo

Eigentlich erstaunt es wenig, dass mein Weg in die Sucht führte. So mancher Risikofaktor prägte mein Aufwachsen: seelische und körperliche Gewalt, frühe Verluste, ein Vater, der vermutlich auch ein Abhängigkeitsproblem hatte. Er trank schon morgens sauren Most. Meine Eltern machten keinen Hehl daraus, dass ich als drittes Kind nicht erwünscht gewesen war.

Welches Bedürfnis ich auch äusserte, sie befanden, dass es «nichts Gescheites» sei. Zum Beispiel wäre ich gerne Floristin geworden, musste aber eine Kochlehre machen. Schlechte Noten bestraften sie mit Hausarrest oder Schlägen. Sie vermittelten mir: Du bist nichts wert.

Der Gedanke, dass ich nicht fähig gewesen war, ein gesundes Kind zu gebären, quälte mich.

Sorgen machte ich mit mir selbst aus; auch, als im Teenageralter meine erste Liebe und später auch meine beste Freundin bei einem Verkehrsunfall starben. Nur einmal, in der Lehre, nahm ich meinen Mut zusammen und erzählte den Eltern vom sexuellen Übergriff durch einen Vorgesetzten. Ihre Botschaft war klar: Mach kein Büro auf. Der Mann war ein Bekannter meines Vaters. Ich schämte mich.

Schwieriger Start als Mutter

Der Schmerz alter Wunden begleitete mich ins Erwachsenenleben. Ich heiratete, wurde Mutter. Bei der Geburt unseres Sohnes bekam er zu wenig Sauerstoff. Als Baby schrie er unentwegt. Als Kleinkind war er explosiv, hatte zudem motorische Probleme. Der Gedanke, dass ich nicht fähig gewesen war, ein gesundes Kind zu gebären, quälte mich.

Damals fing ich an, mich öfter mit Wein zu beruhigen. Ich hörte damit auf, als ich mit unserer Tochter schwanger wurde. Nach ihrer Geburt war ich pausenlos mit Schlichten, Trösten und Versorgen beschäftigt. Ich fühlte mich einsam, minderwertig. Andere Mütter hatten zufriedene Kinder, meine stritten dauernd, beim Grossen hörten die Probleme nicht auf. Es kamen eine Lernstörung und ADHS hinzu.

Als die Kinder in der Primarschule waren, betäubte ich meinen Schmerz immer häufiger mit Alkohol. Ich besorgte Wein im Karton, der war unauffällig zu entsorgen. Ich füllte alles in PET-Fläschchen ab; nippte daran – zu Hause und bei der Arbeit in einer Heimküche. Zwar wusste ich, das ist nicht gut, doch ich schob den Gedanken beiseite. Ich war Meisterin im Verdrängen.

Nie gelernt, über Probleme zu sprechen

Irgendwann fing der Morgen mit Zittern an, von dem mich erst der Wein erlöste. Dann kamen sie mir im Job auf die Schliche. Der Chef reagierte verständnisvoll, wollte mich behalten – sofern ich mir helfen liesse. Er beschwor mich, meinen Mann zu informieren. Das brachte ich nicht fertig. Weder ich noch er hatten je gelernt, über Probleme zu sprechen. Ich kündigte. Von da an ging es bergab.

Um aufzuhören, musst du tief drin verstehen, dass du es um deinetwillen tun musst.

Mein Versteckspiel endete, als mein Mann mich mittags auf dem Sofa vorfand, völlig betäubt. Wenig später folgte die erste stationäre Behandlung. Die Sache ist die: Es reicht nicht, wenn dir gesagt wird, dass du aufhören musst. Das war mir durchaus klar. Aber tief drin wusste ich nicht, warum ich dies tun sollte – um meinetwillen.

Nach dem Entzug war ich eine Zeit lang abstinent, zwei Jahre später folgte ein zweiter. Ich blieb vier Jahre trocken, daraufhin ging es auf und ab. Meine Grunderkrankung, hiess es, seien Depressionen. Ich nahm Medikamente, aber keine Therapie hatte zum Ziel, die Ursache für mein Leiden aufzuarbeiten. In mir wuchs der Widerstand, auf Tabletten angewiesen zu sein. Den Wendepunkt brachte eine Psychologin, die das verstand.

Der Knoten löst sich

Seither ist viel passiert. Ich machte Weiterbildungen zu ätherischen Ölen, in denen ich mich intensiv mit Gesundheit beschäftigte. Dies führte auch zur Auseinandersetzung mit meinen seelischen Themen. Es war, als ob sich ein Knoten löste. Heute berate ich Menschen, wie sie ihr körperliches und psychisches Wohlergehen pflegen können.

Das Verständnis, wie beides zusammenhängt, lässt mich achtgeben auf mich. Ich habe sämtliche Medikamente abgesetzt, trinke selten mal auf Besuch. Sonst habe ich kein Bedürfnis danach. Alkohol gibt mir nichts mehr, keinen Halt, den ich nicht auf anderem Weg finden könnte. Das Verhältnis zu meinen Kindern hatte die Sucht getrübt. Ich bin dankbar, haben wir es geschafft, Dinge zu klären und uns wieder verbunden zu fühlen.

* Name geändert