Andrea*, 39, ist Lehrerin und lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen (8 und 6 Jahre) im Kanton Thurgau.
Könnte ich eine Sache an meiner Kindheit ändern, dann wäre es die explosive Stimmung daheim. Man musste auf Eierschalen um die Männer im Haushalt herumgehen. Meinen Vater brachten schon Kleinigkeiten wie ein verschüttetes Glas völlig in Rage. Dann wurde geschrien, manchmal warf er auch Gegenstände nach uns Kindern.
Mein drei Jahre älterer Bruder fiel bereits als Kleinkind durch Aggressionen auf. In der Pubertät wurde es richtig schlimm. Er war ständig gereizt, als suche er einen Anlass, um auszurasten. Auf dem Pausenplatz kam es oft zu handfesten Auseinandersetzungen.
Meine Mutter und ich waren körperlich unterlegen, konnten uns unmöglich wehren.
Daheim war es auch nicht besser. Wenn das Essen nicht passte, schrie er unsere Mutter an oder riss ihr die Kelle aus der Hand. Wollte ich mal das TV-Programm aussuchen, baute er sich vor mir auf oder stiess mich an die Wand. Manchmal jagte er mich durch die Wohnung, nur um mich in den Schwitzkasten zu nehmen, und fand das auch noch witzig. Einmal drückte er mir wegen einer Lappalie aus Wut den Kopf in die WC-Schüssel.
Meine Mutter und ich waren körperlich unterlegen, konnten uns unmöglich wehren. Mein Vater konnte sich zwar durchsetzen und tat das auch, war aber zu selten da, um uns zu schützen.
Meine Mutter hat oft geweint. Ich habe die gleiche Panik in ihren Augen gesehen wie in meinen. Zwar gingen meine Eltern zur Erziehungsberatung und mit meinem Bruder zum Psychologen, aber da hiess es, Knaben wollten halt raufen und sich reiben. Wir waren so alleine. Nie hat mich jemand gefragt, wie das als Geschwister ist. Dabei wäre das so wichtig gewesen! Ich fühlte mich ständig angespannt, wollte nicht zusätzlich auffallen, nur ruhig, fleissig, unproblematisch sein.
Wut war für mich lange so ein widerliches Gefühl, dass ich mir geschworen habe, nie so zu werden. Heute habe ich selbst Kinder und merke, wie diese Erfahrungen nachwirken. So musste ich erst lernen, Wut bei mir und meinen Kindern als etwas Normales zuzulassen. Das ist schwer, wenn dieses Gefühl so lange nur Bedrohung und Zerstörung bedeutet hat!
Keines meiner Kinder soll die Ängste durchstehen müssen, die ich erlebt habe.
Ich musste mir selbst anfangs immer wieder gut zureden: «Auch du hast ein Recht, dich mal zu ärgern. Das ist menschlich.» Wenn meine Buben mal ausflippen, probiere ich, ruhig zu atmen und mir klarzumachen, dass ich hier und jetzt in Sicherheit bin, nichts Schlimmes passieren kann und es nicht um Leben und Tod geht. Das beruhigt mich. Und trotzdem: Wenn die Kinder streiten, greife ich manchmal zu schnell ein, damit es ja nicht körperlich wird.
Eins ist für mich klar: Keines meiner Kinder soll die Ängste durchstehen müssen, die ich erlebt habe. Niemand soll Angst vor einem anderen Familienmitglied haben! Das Zuhause muss doch ein Ort sein, an dem man sich sicher fühlen kann.
* Name der Redaktion bekannt






