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«Man muss nicht immer das letzte Wort haben»

Aus Ausgabe
12/01 Dezember/Januar 2025/2026
Lesedauer: 6 min
Der ehemalige Sonderschullehrer Sammy Frey berät heute Schulen und Lehrpersonen zu der Frage, wie sie mit aggressivem Verhalten im Klassenzimmer besser umgehen können.
Interview: Fabian Grolimund

Bild: Désirée Good / 13 Photo

Sammy, du berätst Schulen in ­herausfordernden Situationen und wirst gerufen, wenn ein Kind durch Wutausbrüche oder aggressives Verhalten auffällt. Wie erlebst du diese Kinder und Jugendlichen?

Bei diesen Kindern sehe ich meist eine Überhitzung des Systems. Bevor sie in die Luft gehen, ist oft schon viel passiert. Als Lehrperson sieht man manchmal aber nur den Ausbruch. Wenn ich auf Unterrichtsbesuch bin, achte ich vor allem auf Stressoren: die Grund­stimmung in der Klasse, die Sitzplatzwahl, die Interaktionen zwischen Lehrperson und Kind. Ich achte darauf, wo das Kind hinschaut, mit wem es in Kontakt ist. Ich versuche eigentlich, mit meinem ganzen Wesen diesen Raum zu erfassen, mit allen Sinnen, und Muster zu erkennen. Da läuft vieles über das Bauchgefühl.

Zum Beispiel?

Kürzlich war ich auf Unterrichts­besuch und habe gemerkt: Alle «schwierigen» Kinder, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sassen ganz hinten, weit weg von der Lehrperson. Weil sie selbst Mühe mit diesen Kindern hat und keine Konflikte möchte, wie sie mir erzählte. Aber diese Kinder waren dadurch immer im Sendemodus, weil sie sich nicht gesehen fühlten.

Sammy Frey ist Sekundarlehrer mit Sonderschul­erfahrung und arbeitet als Schulpraxis­berater zum Thema Umgang mit herausfordernden Schulsituationen. In seinem Podcast «Schuelfrey» interviewt er Expertinnen und Experten aus der Schullandschaft. (Bild: zVg)

Als ein Junge dann nach ganz hinten versetzt wurde, weil er gestört hatte, fing er an, laut den Auftrag auf dem Arbeitsblatt zu lesen, um sich bemerkbar zu machen. Lehrkräfte sagen dann oft etwas abwertend: Der braucht halt Aufmerksamkeit. Aber eigentlich verkennt man damit, dass dahinter ein echtes Bedürfnis steckt. Und dann kommt sehr schnell der Reflex: Ich habe noch 22 andere.

Aber Aufmerksamkeit schenken kann auch heissen, dem betreffenden Kind mal einen Blick zuzuwerfen, ihm zuzuzwinkern, es anzulächeln oder kurz vorbeizugehen. Sprich, ein wenig Sensibilität entwickeln, dass die Kinder das brauchen. Bedürfnisse lassen sich schlecht wegdiskutieren.

Es bringt schon viel, wenn das Kind versteht: Das Gefühl ist da und geht auch wieder vorbei.

Worauf achtest du bei der ­Begleitung von Lehrkräften?

Wichtig ist mir, dass die Lehrkräfte ihren Einflussbereich wahrnehmen, sich also überlegen: Was kann ich beeinflussen? Wo habe ich Handlungsspielraum? Wenn ich mich darüber aufrege, dass die Eltern scheinbar ihre Erziehungsverantwortung nicht wahrnehmen oder ihr Kind nicht richtig ernähren oder wenn ich die Gesellschaft und Smartphones verteufle, dann entferne ich mich immer weiter von meinen Handlungsfeldern und meiner Wirkkraft.

Wie arbeitest du mit Kindern, die in der Schule von ihren Emotionen überwältigt werden?

Ich finde, es bringt schon viel, wenn das Kind versteht: Das Gefühl ist da und geht auch wieder vorbei. Und ich bin dem nicht ausgeliefert. Ich schaue mit den Kindern, wie sie sich selbst beruhigen können. Gerade letzte Woche hatte ich ein eindrückliches Erlebnis. Ein Kind hat nach einem schwierigen Morgen eine Anleitung für die Lehrperson und die Klasse geschrieben.

Darauf stand: Wenn ich wütend werde, dann lasst mich in Ruhe. Lauft mir nicht nach! Ich möchte dich nicht verletzen und dir nicht wehtun. Ich komme wieder, wenn ich mich beruhigt habe. Natürlich wird das nicht immer funktionieren und vielleicht fliegt doch mal was durch den Raum. Aber mich hat dieser Schritt beeindruckt.

Zu viel Nähe kann bei Wut sehr negativ empfunden werden. Ich bleibe dann in Sichtdistanz, aber mit Abstand.

Abstand zu gewähren: Fällt das ­gerade Menschen schwer, die ­Probleme durch Beziehung und Nähe lösen möchten?

Ja, das merke ich auch bei mir. Da müssen wir manchmal auch gegen unsere Natur handeln. Es ist ja ganz natürlich, dass man jemandem, dem es nicht gut geht, helfen möchte und ihn beruhigen will. Aber zu viel Nähe kann bei Wut auch sehr negativ empfunden werden. Sie kann beim Kind Stress oder mentales Chaos auslösen. Ich versuche dann trotzdem in Beziehung zu bleiben – in Sichtdistanz, aber mit Abstand – und sage: Ich bleibe hier und du kannst zu mir kommen.

Was rätst du Lehrpersonen, wenn ein Kind austickt, um sich schlägt oder Dinge kaputt macht?

In diesem Ausnahmezustand kann man nicht mehr viel tun. Es kann sein, dass man ein Kind dann festhalten muss. Das ist rechtlich okay. Aber es sollte kurz sein und dem Schutz dienen. Manchmal hilft es, wenn man das Kind an den Händen festhält und rasch eine Kreisbewegung macht und sie dann loslässt. Also etwas Überraschendes, was das Muster unterbricht.

Oder man klatscht laut und ruft den Namen des Kindes. Das löst eine biologische Orientierungsreaktion aus. Sobald das Kind hochschaut, sagt man ruhig und möglichst ohne direkten Blickkontakt: Komm mal kurz zu mir. Das Wichtigste dabei ist, dass man keinerlei Bedrohung ausstrahlt, sondern eher wie mit einem Baby spricht. Dann besteht die Chance, dass es sich beruhigt.

Wie geht es weiter?

Es ist wichtig, das nachzubesprechen. Aber ich erlebe oft, dass Lehrkräfte um 12 Uhr ins Klingeln reinrufen: «Du bleibst noch schnell. Setz dich  ​… Das hat mich gestört  …» Und die Kinder antworten dann mit «Jaja, Sie haben recht, ich mache es nie wieder. Kann ich jetzt gehen?» Das ist nicht nachhaltig. Wir Erwachsenen sagen dann: «Das haben wir doch gestern besprochen.» Aber das hat nichts mit besprechen zu tun. Daher ist es besser, zu sagen: «Wir besprechen das später. Komm bitte eine Viertelstunde vor der Nachmittagsschule.»

Als Lehrperson verliere ich nicht meine Glaubwürdigkeit oder Kontrolle, wenn ich nicht grad sanktioniere.

Und dann?

Mir fällt dazu gerade ein Beispiel ein. Ein Jugendlicher an der Sonderschule hat mir mal gesagt: «Ich ficke deine tote Mutter», und ist dann rausgelaufen. Ich wusste: Der kommt am nächsten Tag wieder in meinen Unterricht. Ich war dann tags darauf ganz normal zu ihm. Erst später habe ich gesagt: «Hey, ich möchte noch etwas von gestern besprechen.» Er hat dann gleich gesagt, dass es ihm leidtue, es sei ihm rausgerutscht.

Als Lehrkraft muss man einfach schauen, dass die Türe offen bleibt. Es gibt da diesen Satz aus der neuen Autorität: Man muss das Eisen schmieden, wenn es kalt ist. Das finde ich sehr wichtig. Ich verliere nicht meine Glaubwürdigkeit oder Kontrolle, wenn ich nicht grad sanktioniere. Besser ist es zu spiegeln: Jetzt bist du aber grad sehr wütend. Komm, wir schauen das später an.

Was tun, wenn ein Kind ausstickt?

5 Tipps für Lehrpersonen

  1. Nur im Notfall: Das Kind festhalten. Es sollte kurz sein und dem Schutz dienen.
  2. Das Kind an den Händen festhalten, eine Kreisbewegung machen und dann loslassen. Das führt zu einer Überraschung, die das Muster durchbricht.
  3. Laut klatschen und den Namen des Kindes rufen. Das löst eine biologische Orientierungsreaktion aus.
  4. Danach direkten Blickkontakt vermeiden und ruhig sagen: «Komm mal kurz zu mir.» Der Ton darf nicht bedrohlich sein, sondern besänftigend, wie bei einem Baby.
  5. Eine Nachbesprechung ist sehr wichtig. Nicht um 12 Uhr ins Klingeln hinein, sondern konkret abmachen. Zum Beispiel so: «Wir besprechen das später. Komm bitte eine Viertelstunde vor der Nachmittagsschule.»

An der Sonderschule habe ich gelernt, dass ich nicht das letzte Wort haben muss – sonst schaukelt sich die Situation nur immer weiter hoch. Wenn ich mich selber kontrollieren kann, kann ich die Situation besser kontrollieren, als wenn ich persönlich werde. Das ist nicht immer leicht, aber es hilft. Nicht zuletzt dem Kind, weil es in Not ist.