In Erinnerung an Jesper Juul: Das grosse Interview (Teil 2)
Was ist das Beste, das Ihnen im Leben passiert ist?
Ich mache in meinem Leben keine Unterscheidungen zwischen gut und schlecht. Jede Erfahrung war und ist wertvoll und hat mein Leben bereichert. Auch die schmerzvollen.
Sie haben über zwei Dutzend Bücher geschrieben, in denen Sie Eltern Erziehungsratschläge geben.
Ich gebe keine Ratschläge. Ich plädiere für Dasein, nicht für Pädagogik. Ich habe oft gesehen, dass Eltern ihre eigenen Maximen einfach durch meine Werte und Prinzipien ersetzt haben. Das ist nie meine Absicht gewesen.
Welches Buch möchten Sie unbedingt noch schreiben?
Ich möchte unbedingt eine neue Version meines 1996 erschienenen Buches «Das kompetente Kind» verfassen. Ein Buch über Selbstwert und Selbstvertrauen liegt mir ganz besonders am Herzen. Beides sind ganz essenzielle Fähigkeiten in der heutigen Gesellschaft und wichtige Voraussetzungen für die psychische Gesundheit.
Kinder von Anfang an als gleichwertige Menschen zu akzeptieren, heisst, sie als Subjekt wahrzunehmen, statt sie zum Erziehungs-, Liebes- oder andersartigen Objekt zu machen.
Ihre Kolumnen, auch in diesem Magazin, sind nach wie vor sehr gefragt. Wie schwer fällt Ihnen heute, angesichts Ihrer Krankheit, das Schreiben? (Anmerkung der Redaktion: Jesper Juul leidet an einer Entzündung des Rückenmarks und ist von der Brust abwärts gelähmt)
Kolumnen oder Texte zu verfassen, die Fragen von Eltern zu beantworten, die Alltagssituationen oder Probleme betreffen, ist für mich nie anstrengend. Auch heute nicht.
Sie haben nur noch wenig persönlichen Kontakt zu Eltern und Kindern. Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass Ihre Tipps und Empfehlungen «aktuell» sind?
Die grösste Veränderung ist, dass immer mehr Eltern Erziehung nicht mehr nach dem Prinzip Belohnung und Strafe verstehen. Das bedeutet, dass sie ganz tief innen interessiert sind, neue Wege zu gehen und eine neue Sprache mit ihren Kindern zu sprechen. Sie sind also an einem sehr kreativen und fruchtbaren Punkt angelangt, in dem Inputs wie meine nicht einfach per se abgelehnt werden, sondern auf mehr Interesse stossen. Nur so wird ein Perspektivenwechsel möglich.
Wurden Sie je missverstanden?
1997 schrieb ich über Gleichwürdigkeit. Dieses Wort bringt zum Ausdruck, dass Kindern von Geburt an die gleiche Würde innewohnt wie Erwachsenen. Viele verstanden dies falsch und meinten, dass Kinder im demokratischen Sinne gleich sind wie Erwachsene.
Kinder werden mit allen sozialen und menschlichen Eigenschaften geboren.
Was ist denn der Unterschied zwischen Gleichheit und Gleichwürdigkeit?
In einer Familie haben die Erwachsenen die ganze Macht, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst sind und diese gar nicht haben wollen. Gleichwürdigkeit heisst, dass Eltern ihre Kinder genauso ernst nehmen wie sich selbst, indem sie deren Bedürfnisse, Wünsche, Träume und Ambitionen einbeziehen und nicht auf den Hinweis des Geschlechtes, des Alters oder der Behinderung abtun.
Warum ziehen Eltern den Ausdruck Gleichheit vor?
Weil vermutlich viele den Begriff Gleichwürdigkeit nicht kennen. Sie hören sofort das Wort Gleichheit und interpretieren es so, dass Kinder den Erwachsenen gleichgestellt sind. Aber darum geht es ja nicht. Es geht um Gleichwürdigkeit. Kinder von Anfang an als gleich würdige Menschen zu akzeptieren, heisst, sie als Subjekt wahrzunehmen, statt sie zum Erziehungs-, Liebes- oder andersartigen Objekt zu machen.
Das müssen Sie uns genauer erklären.
Erziehungsmethoden zielen auf eine Verhaltensänderung und machen Menschen zu Objekten. Damit läuft man Gefahr, den Kontakt zu sich selbst und seinem Gegenüber zu verlieren.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Eltern wollen wissen, was man mit einem acht Monate alten Baby macht, das nicht schlafen will. Sie fragen mich, was man mit diesem Kind machen soll, und setzt es so einem Objekt gleich. Sie sagen: Herr Juul, geben Sie mir eine Methode, ein Werkzeug. Aber so etwas gibt es nicht. Die Frage ist vielmehr: Bin ich bereit, dieses Kind als Mensch wahrzunehmen, oder will ich ein Funktionskind?
Eine Ihrer Kernthesen lautet: Erziehung funktioniert nicht.
Kinder werden mit allen sozialen und menschlichen Eigenschaften geboren. Um diese weiterzuentwickeln, brauchen sie nichts als die Gegenwart von Erwachsenen, die sich menschlich und sozial verhalten. Jede Methode ist nicht nur überflüssig, sondern kontraproduktiv.
Reicht es als Eltern nicht, sich auf ihr Gefühl zu verlassen?
Das geht nur, wenn man Herz und Verstand gebraucht. Und zwar in dieser Reihenfolge. Sich nur auf das Gefühl zu verlassen, reicht nicht.
Was brauchen Kinder heute?
Kinder brauchen Rückenwind von ihren Eltern. So sagt man es in Dänemark. Es bedeutet: eine liebevolle Begleitung, kein Zurechtweisen. Kinder brauchen so viel Selbstwertgefühl wie möglich. Das ist das Allerwichtigste.
Warum?
Es liegt daran, dass Erwachsene die Kinder von klein auf schubladisieren. Sie haben ein Bild von ihrem Kind und sagen: «So bist du!» Es ist hyperaktiv, schüchtern, sensibel oder aggressiv. Das Kind als solches, ohne Attribute und Schablonen, existiert nicht mehr. Aus Kindersicht braucht es sehr viel Kraft, sich dagegenzustemmen. Dazu wiederum ist es nicht fähig, wenn es sich nicht gut kennt.
Ich will nicht, dass Eltern ihre eigenen Maximen durch meine Prinzipien ersetzen.
Was bedeutet ein gutes Selbstwertgefühl im juulschen Sinne?
Es bedeutet: Ich kenne mich und nehme mich mit allen Ecken und Kanten an. Ein gutes Selbstwertgefühl ist wie ein soziales Immunsystem: Es wehrt Angriffe auf die eigene Persönlichkeit von aussen ab. Denn Eltern, Lehrpersonen und auch Therapeuten gehen oft von einem universalen Kind aus: So solltest du sein, und wenn du nicht so bist, bist du falsch.
Sie halten nichts davon, Kindern Grenzen zu setzen?
Heute meinen alle, man müsse Grenzen setzen. Das hat für mich so einen halb religiösen Touch. Kinder brauchen keine Grenzen. Sie haben doch schon überall Grenzen. Was wichtig ist: Jeder Mensch hat seine eigenen Grenzen, die er nach aussen hin wahren muss – auch gegenüber Kindern.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ich habe gerade eine Familie in Deutschland mit einer fünfjährigen Tochter beraten. Das Mädchen war für die Eltern und die grosse Schwester sehr provozierend. Die Eltern haben immer Ja zu ihm gesagt, weil sie einem Konflikt aus dem Weg gehen wollten. Und manchmal haben sie versucht, Nein zu sagen. Aber Nein, sagen kann man nicht versuchen. Man kann «Vielleicht» sagen oder «Bitte warte, ich muss darüber nachdenken» – aber ein Nein sagen, ohne es auch wirklich so zu meinen, geht nicht.
Was haben Sie ihnen geraten?
Diese Eltern mussten lernen, dass sich das Kind abgelehnt fühlt und wütend oder traurig wird, wenn sie Nein sagen. Dass diese Gefühle in Ordnung sind und ihre Berechtigung haben. So ist das Leben eben, manchmal fühlt man sich abgelehnt.
Wie war es für das Mädchen?
Wenn Eltern Nein sagen, bedeutet es einfach Nein. Das zu erkennen und es nicht als unangenehm zu empfinden, war für alle in der Familie eine grosse Erleichterung, weil die Mutter in der Familie eine Kultur definiert hatte, die eine Harmonie anstrebte.
Ist Harmonie unmöglich?
Sagen wir: Es ist möglich, aber es kostet uns alle viel. Nein sagen heisst, nicht immer Harmonie zu haben. Ich plädiere dafür, sich zu fragen: Will ich in ständiger Harmonie leben oder mit ganz normalen, lebenden Menschen aufwachsen?
Welche Motivation gibt es, sich von diesem Harmoniezwang zu befreien? Ist es der Leidensdruck?
Die Anregung kann aus einer Frustration kommen. Wenn Eltern oder das Kind frustriert sind, kommt ein Impuls, etwas anderes zu probieren. Meine eigene Motivation und auch die von meiner damaligen Frau war, es nicht so machen zu wollen wie unsere eigenen Eltern. Wir wollten modern sein. Aber was das heissen soll, wussten wir nicht. Das gilt auch für Lehrpersonen. Sie sollten sich fragen: Fühle ich mich erfolgreich und zufrieden damit, wie ich die Konflikte mit meinen Schülern löse? Wenn man diese Frage mit Ja beantworten kann, muss man nichts ändern.
Was wäre Ihre ideale Welt?
Familien, Institutionen und Gesellschaften mit viel weniger Gewalt, Missbrauch, Sucht und Vernachlässigung. Ich möchte, dass Familien, Organisationen und die Gesellschaft dazu inspiriert werden, sich und ihr Gegenüber ernst zu nehmen, liebevolle Beziehungen zu leben und sich gegenseitig von innen heraus mit Respekt zu behandeln.
Was ist, wenn Sie einmal nicht mehr da sind?
Mir ist es wichtig, dass meine Prinzipien auch ohne mich weiterleben. Ich will nicht, dass diese Haltung alleine an mir hängt. Wenn meine Person wichtiger wird als die Vision meiner Organisation familylab, ist das nicht gut. Ich mag die Personenzentriertheit nicht. Sie ist mir unangenehm. Mein Wunsch ist es, dass Werte gelebt werden und Menschen anständig miteinander umgehen. Stellen Sie sich vor, man trifft sich in zehn Jahren und streitet noch immer über den Wert Gleichwürdigkeit, statt diesen Wert zu leben und einen gleich würdigen Dialog zu führen. Ich hoffe, es wird nicht so sein. Aber vielleicht ist das naiv. Ich weiss es nicht.
Zur Person Jesper Juul
Jesper Juul wurde am 18. April 1948 in Dänemark geboren. Mit 16 Jahren fuhr er als Koch zur See. Sie wurde sein Zufluchtsort. Der Zeit in der Kombüse folgten Jobs als Tellerwäscher in Bars und als Betonarbeiter auf dem Bau. Später erinnerte ihn sein Vater daran, dass er in jungen Jahren Lehrer werden wollte. Juul war sich unsicher. In der Bar, in der er jobbte, holte er den Oberkellner und würfelte. Das Schicksal entschied für den Lehrerberuf.
Er arbeitete in einem Kinderheim mit verhaltensauffälligen und kriminellen Jugendlichen. Dort wurde ihm bewusst, wie wichtig die Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist. Auf einer Fortbildung lernte er den amerikanischen Psychiater und Familientherapeuten Walter Kempler kennen. Dessen Einfluss führte zu vielen der Methoden und Ansichten, die Therapeut Juul bis heute vertritt. Gemeinsam gründeten Kempler und Juul 1979 das «Kempler Institute of Scandinavia», das Juul 25 Jahre später verliess, um in Dänemark die erste Familienwerkstatt familylab aufzubauen.
Familylab ist eine gemeinnützige Organisation, die inzwischen in 21 Ländern aktiv ist. «Mit familylab wollen wir die psychosoziale Gesundheit und das Wohlergehen der heutigen und zukünftigen Eltern und Kinder wie auch der Fachpersonen verbessern», sagt Jesper Juul. «Ziel ist es, eine optimale Umgebung für ein gemeinsames, soziales, emotionales, kreatives und akademisches Lernen zu schaffen.» Jesper Juul ist Autor von mehr als zwei Dutzend Büchern, die in viele Sprachen übersetzt wurden.
Zu seinen bekanntesten Werken gehören: «Pubertät. Wenn Erziehen nicht mehr geht», «Wem gehören unsere Kinder?», «Die kompetente Familie», «Leitwölfe sein» und «Grenzen. Nähe. Respekt». Privat lebte Juul zuletzt zurückgezogen in seiner Wohnung in Odder, Dänemark, zweifach geschieden und Single. 2012 erkrankte Jesper Juul an Transverser Myelitis, einer Entzündung des Rückenmarks. Er verbrachte 16 Monate in Rehabilitation in einem dänischen Krankenhaus und sass seither im Rollstuhl. Seit 2014 schrieb er wieder. Am 25. Juli 2019 starb er nach einer Lungenentzündung im Alter von 71 Jahren.
Wir danken Jesper Juul
Bis zuletzt hat er regelmässig Texte für das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi geschrieben und wann immer es ihm noch möglich war, Elternfragen beantwortet. Dieses Engagement für Eltern ist ausserordentlich.
Teil 1 des grossen Exklusiv-Interviews verpasst? Dann hier entlang!