Von Fans und Fanatikern
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Von Fans und Fanatikern

Lesedauer: 2 Minuten

Erziehung ist immer Projektion, schreibt unser Kolumnist und warnt davor, die Talente unserer Kinder automatisch zu vergrössern.

Text: Lukas Linder
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

W ie viele Kinder geht unser Sohn am liebsten während des Abendessens auf die Toilette. Neulich sass er dort schon eine Weile, als er plötzlich ein Lied anstimmte. Mit Strophe und Refrain. Meine Frau und ich schauten uns an. Zum ersten Mal seit Langem dachten wir dasselbe: Musikunterricht. Vortragsabende. Arien in Konzerthäusern. So macht es sich bezahlt, dass ich ihm schon früh meine Lieblingsmusik vorgespielt und die Bemerkung ignoriert habe, seine Plüschkatze möge keinen Schubert.

Unser Sohn singt allerdings nur auf der Toilette. Wenn wir andere Leute mit seinem Talent beeindrucken wollen, müssen wir sie zum Essen einladen. Das ist das Unglück vieler Eltern: Die aussergewöhnliche Begabung ihrer Kinder zeigt sich oft so subtil, dass nur sie sie bemerken können.

«Er hat eine hohe emotionale Intelligenz», berichtete mir neulich eine Mutter auf dem Spielplatz über ihren Sohn, den ich zuvor dabei beobachtet hatte, wie er zwei andere Kinder in den Hintern trat.

Erziehung ist immer Projektion. Und wenn es um die Fähigkeiten unserer Kinder geht, ist das Vergrös­serungsglas oft besonders gross. Macht es einen Scherenschnitt, steht es am Anfang einer künstlerischen Karriere. Schneidet es ein Rüebli, sehen wir schon den Gourmetkoch. Und sitzt es einfach nur rum und bohrt in der Nase, erkennen wir darin das Wesen des Philosophen.

Oft sehen wir in den Talenten unserer Kinder unsere eigenen Träume gespiegelt und die Hoffnung, dass sie nicht die gleichen Enttäuschungen erleben werden.

Alle Eltern sollten Fans ihrer Kinder sein – ohne dabei zu Fanatikern zu werden. «Lebe ich hier gerade meine eigenen unterdrückten Sehnsüchte aus?», sollte man sich beispielsweise fragen, wenn man sich anschickt, dem Kind zu seinem fünften Geburtstag ein Saxofon zu kaufen.

Oft sehen wir in den Talenten unserer Kinder einfach unsere eigenen Träume gespiegelt und die Hoffnung, dass sie nicht die gleichen Enttäuschungen erleben werden. Aber Träume können nicht verallgemeinert werden. Jeder wünscht sich anderes. Jeder erlebt seine eigenen Erfolge und Enttäuschungen.

Das Ethos der Zeit

Meine Mutter hat mir früher gerne mit leidenschaftlichem Pathos von ihrer Kindheit erzählt. Allen diesen Geschichten war gemeinsam, dass Talent darin immer als eine Bürde erschien. «Nur nicht auffallen» war das Ethos der Zeit. «Sei so wie alle anderen.»

Heute ist der Individualisierungsdruck in unserer Gesellschaft so gross, dass man nicht früh genug damit anfangen kann, eine Rolle für sich zu finden. «Unterscheide dich» ist das Gebot der Stunde. Und dann sei dieses andere so lange, bis du es in den sozialen Medien zum Geschäftsmodell machen kannst.

Kinder zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie noch niemand sind. Ihr grösstes Talent ist die Neugier. Dazu gehört aber auch, dass sie in einem Moment leidenschaftlich mit dem Physikkasten spielen (und wir schon mit fiebrigem Blick die Anmeldebedingungen für das Cern studieren), die nächsten zwei Jahre den Kasten jedoch keines Blickes mehr würdigen.

Wenn wir als Eltern wirklich etwas fördern sollten, dann doch diese Offenheit. Kinder haben in ihrem Leben noch genug Zeit, um jemand zu sein. Lassen wir sie erst mal nichts sein – ausser Kind.

Wir haben neulich trotzdem ein paar Freunde zum Konzertabend eingeladen. Mit den Stühlen versammelten wir uns vor der Toilette. Es gab Piccata milanese und die bekannte Arie «I Like to Move It, Move It».

Lukas Linder, Kolumnist

Lukas Linder
studierte Germanistik und Philosophie. Der Dramatiker und Buchautor («Der Letzte meiner Art», «Der Unvollendete») hat einen Sohn und lebt mit seiner Familie in der Nähe von Zürich.

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