So entwickelt Ihr Kind Selbständigkeit
Beim Entdecken und Erlernen ihrer Eigenständigkeit werden Kinder oft gebremst und in Schranken gewiesen. Unsere Autorin hat sechs Tipps, wie Eltern die Selbständigkeit Ihres Kindes fördern.
Wenn von Kindern Selbstverantwortung gefordert wird, geschieht dies in der Regel beim ersten Fauxpas. «Oje…! Was hast du getan? Wie kommst du nur auf eine solche Idee?» Schon im Ton ist die Frage ein Vorwurf und weit davon entfernt, offen und interessiert für eine allfällige Antwort zu sein.
Der Missetäter oder die Missetäterin zuckt zusammen, verzieht beschämt das Gesicht und schon kullern die Tränen. Der Blick auf die virtuos um den Kinderstuhl drapierte Pasta, die in Tausend Stücke zerborstene Vase oder das laut schreiende, mit Sand bespritzte Nachbarskind sagt alles: Da wurde offenbar eine Grenze überschritten.
Selbständigkeit ist nicht überall erwünscht
Im Laufe der Kinder- und vor allem der Jugendzeit wird es noch öfters zu solchen und ähnlichen Situationen kommen. Das Erkennen und Erlernen der geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze, Rituale und Regeln des Umfelds ist kompliziert und nicht nur selbstredend.
Was Zuhause gilt, ist vielleicht in der schulischen Umgebung ein Tabu. Was Frau Müller ein Lächeln entlockt, kann bei Herrn Meier als Verstoss gegen die Sitten gelten. Wo eine Handlung im Heimatland erwünscht ist, bewegt man sich damit im Gastland bereits in der Grauzone der Erwartungen. Der Grat der gesellschaftlichen Akzeptanz und Toleranz kann schmal und unübersichtlich sein: Fettnäpfchen lauern an jeder Ecke.
Da Menschen grundsätzlich von ihrem Umfeld für ihr Tun wertgeschätzt und für ihr Bemühen anerkannt werden möchten, sind Misserfolge im öffentlichen Raum schmerzhaft und oft schambesetzt. Solche Verletzungen können als Folge entweder Rückzug und Anpassung um jeden Preis oder merkbar unterdrückte Wut und Frust nach sich ziehen.
Wer schon als kleines Kind im geschützten Umfeld Erfahrungen mit Eigenständigkeit machen kann, wird sich später sicherer und selbstbewusster bewegen.
Eigenständigkeit kann gelernt werden
Wenn Kinder versuchen, sich mit einer dieser Verhaltensweisen zu schützen, wirken ihre Handlungen für ihr Umfeld oft unverständlich und schwierig. Warum nur hat Timo keine eigene Meinung und sagt zu allem Ja und Amen? Wieso ist Anna so dünnhäutig und reagiert bei jeder Kleinigkeit mit Wut? Vor allem in der Betreuung und der Schule beginnt damit ein Teufelskreis aus Aktion und Reaktion.
Die gute Nachricht ist: Wie alle sozio-emotionalen Kompetenzen kann auch Eigenständigkeit und Verantwortungsübernahme gelernt und geübt werden. Wer schon als kleines Kind die Möglichkeit erhält, im geschützten Umfeld des Elternhauses oder der Kita erste Gehversuche damit zu machen, wird sich später und auf sich alleine gestellt auf dem glitschigen Parkett der Peergruppe sicherer und selbstbewusster bewegen. Es gilt auszuloten, wo implizite und explizite Regelungen von allen zu beachten und einzuhalten sind und wann sie unbedingt hinterfragt werden dürfen, müssen und sollen.
Mit folgenden Ideen unterstützen Eltern die Fähigkeit ihres Kindes, gut mit anderen zu kooperieren, Grenzen wahr- und ernstzunehmen und demokratische Regeln und Beschlüsse zu respektieren. Ebenfalls werden Kreativität, Verhandlungsgeschick und Verantwortungsübernahme lustvoll und spielerisch geübt. Mit wachsender Erfahrung und gemäss aktuellem Entwicklungsstand wird der Handlungsspielraum erweitert und ergänzt. Die Familie profitiert von engagierten, mitdenkenden und -handelnden Mitgliedern und sind sie noch so klein!
1. Kurzehosenwetter
Jeden Frühling dasselbe Szenario. Kaum erspäht Ihr Sprössling die ersten zaghaften Sonnenstrahlen, fordert er oder sie unmissverständlich Hochsommerkleidung. Dies bedeutet vor allem kurze Hosen und Shirts ohne Ärmel. Anstatt sich auf tägliche Auseinandersetzungen über Wärme- und Kälteempfinden einzulassen, treffen Sie mit Ihrem Kind eine Vereinbarung. Bei 20 Grad ist es das ärmellose T-Shirt, bei 25 Grad sind auch kurze Hosen zulässig. Übergeben Sie ihm die Verantwortung für die Konsultation des Thermometers auf der Terrasse und markieren Sie mit Rot die entsprechenden Grenzwerte.
2. Den Hund knuddeln
Lassen Sie Ihr Kind wählen, was es für die Gemeinschaft tun möchte: Zweimal am Tag den Hund knuddeln, mit der Mama den Sonntagszopf backen, dem Grossvater regelmäßig ein paar WhatsApp-Zeilen schicken? Die originellen Ideen der Brainstorming-Runde am Familientisch werden Sie überraschen! Sind die Aufgaben einmal vereinbart und verschriftlicht, verlangen Sie kompromisslos eine pünktliche und zuverlässige Erledigung.
Gemeinsam geplante Ferien werden zum unvergesslichen Erlebnis.
3. Gelebte Demokratie
Nützen Sie regionale oder nationale Wahlen und Abstimmungen zu einem Ausflug in die direkte Demokratie. Erklären Sie Ihren Kindern auf verständliche Weise, worüber Sie als Erwachsene befinden dürfen, und hören Sie, wie Ihre Kinder abstimmen würden. Stellen Sie eine Schuhschachtel als Abstimmungsbox im Eingangsbereich auf und lassen Sie Ihre Familie das nächste Sonntagsmenü in geheimer Wahl bestimmen. Die Kleinsten dürfen zeichnen.
4. Malediven oder Camping am See?
Lassen Sie die Kinder mitdiskutieren, wohin es im nächsten Urlaub gehen soll. Sie bestimmen Voraussetzungen und Budget. Dann geht es zur angeregten Diskussion im Familienrat: Wasser, Berge oder Wolkenkratzer? Biken, schnorcheln oder Hängematte? Die Jüngsten dürfen mit ihren Vorschlägen beginnen und erhalten auf Wunsch Unterstützung. Sie als Eltern haben das Veto. Die Lösung bedeutet gelebte Demokratie und die gemeinsam geplanten Ferien werden zum unvergesslichen Erlebnis.
5. Starköche
Warum sich nicht verwöhnen lassen? Mindestens einmal im Monat erobert das Juniorteam die Küche und zaubert das Sonntagabendmenü auf den Tisch. Vom Einkauf bis zum Service ist der Lead bei Ihren Kindern, nur bei den Kosten reden Sie ein Wörtchen mit. Je älter die Köchinnen und Köche, desto raffinierter das Menü. Eines ist wichtig: Das Aufräumen der Küche gehört mit zum Programm!
6. Einkaufsbummel
Die schicke Jacke, die coolen Sneakers und die schwarze Mütze wären das grosse Glück Ihres Kindes. Leider treffen diese Prunkstücke weder Ihren Geschmack, noch sind sie aus nachhaltigen Materialien oder entsprechen den vereinbarten Budgetlimiten. Bevor Sie sich in endlose Diskussionen mit Zoff und tränenreichem Ausgang verstricken, fordern Sie Ihren Teenager auf, Ihnen gute Alternativvorschläge mit nicht widerlegbaren Begründungen für den Kauf zu präsentieren. Lassen Sie sich überraschen und überzeugen!