Es ist die Zeit der Übertrittsentscheide – von der Primarschule in die Oberstufe. Eltern sitzen angespannt vor mir, Lehrpersonen ringen um gerechte Einschätzungen, Kinder sind unter grossem Druck – und über allem steht die Frage: Wohin führt der Weg des Kindes?
Kürzlich schilderte mir ein Vater eindrücklich die Situation seines Sohnes. Er erzählte von dessen Stärken, seiner Begeisterung und seiner Unsicherheit in einzelnen Fächern. Dann sagte er den Satz, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht: «Mein Sohn hat noch nicht das ganze Potenzial entfaltet.»
Darin liegt das Dilemma: Wir müssen zu einem fixen Stichtag entscheiden, obwohl wir wissen, dass Talente Zeit brauchen.
Genau darin liegt das Dilemma. Wir müssen zu einem fixen Stichtag entscheiden, obwohl wir wissen, dass Talente Zeit brauchen.
Eltern und Lehrpersonen bewegen sich in dieser Phase im gleichen Spannungsfeld. Sie wollen Kinder fördern – und sind doch gezwungen, nach fixen Vorgaben zu urteilen. So werden Chancen verbaut, bevor sie sich überhaupt eröffnen konnten. Wie viel ehrlicher wäre es, Jugendlichen ein paar Jahre mehr Zeit zu geben!
Der falsche Zeitpunkt
Die Pubertät ist eine Phase voller Unterschiede. Während sich die einen schon erstaunlich gut organisieren, suchen andere noch ihren Weg. Fähigkeiten wie abstraktes Denken oder selbständiges Arbeiten entwickeln sich erst nach und nach. Trotzdem entscheiden wir in dieser Phase über Sek A, Sek B oder Gymnasium.
Besonders schwierig wird es für Kinder aus Familien mit weniger Ressourcen. Die frühe Selektion verstärkt soziale Unterschiede, anstatt sie auszugleichen. Kinder mit gleichem Potenzial haben damit ungleiche Chancen.
Der Entwicklungspädiater Oskar Jenni weist auf diese Chancenungerechtigkeit hin: «Buben mit niedrigerem sozioökonomischem Status, fremdsprachigem Elternhaus und Migrationshintergrund haben – bei gleicher Leistung – dreimal schlechtere Chancen als Mädchen aus privilegierten Familien, für ein anspruchsvolles Niveau auf der Sekundarstufe 1 empfohlen zu werden.»
Viele Eltern fragen sich: Verlieren leistungsstarke Kinder ohne frühe Selektion nicht an Tempo? Die Antwort lautet klar Nein. Talente verschwinden nicht, wenn man Kindern Zeit gibt – sie brauchen nur die richtigen Wege, um sichtbar zu werden. Eine spätere Selektion bedeutet nicht, dass Unterschiede verwischt werden. Im Gegenteil: Sie verpflichtet uns, Kinder gezielt zu fördern – sowohl jene, die mehr Unterstützung brauchen, als auch jene, die besonders schnell lernen.
Drei zentrale Punkte
Folgende Ansätze eignen sich dazu:
- Compacting: Kinder, die etwas schon können, müssen es nicht endlos wiederholen. Stattdessen haben sie Zeit für neue Herausforderungen.
- Enrichment: Wer Lust hat, darf tiefer eintauchen – durch Projekte, Experimente oder kreative Aufgaben.
- Fachliche Beschleunigung: Jugendliche können in einzelnen Fächern schneller vorankommen, in anderen noch im normalen Tempo lernen.
Im Alltag bedeutet das: Lernpläne oder Lernlandkarten helfen Kindern, ihren individuellen Weg zu gehen. Lehrpersonen beginnen mit einem Check-in, um die Vorerfahrungen abzufragen – mündlich, schriftlich oder digital. Darauf aufbauend erhalten die Kinder passende Aufgaben.
Die Lehrpersonen stehen nicht mehr nur vorne an der Wandtafel, sondern begleiten als Coaches durch den Lernprozess. Wenn nötig, gibt es kleine Kurse für Gruppen, die Stoff vertiefen müssen. Gleichzeitig können Kinder, die sich sicher fühlen, anderen beim Lernen helfen. Digitale Hilfsmittel wie Lernvideos eröffnen zusätzliche Chancen. Kompetenzraster, Portfolios und Lernlandkarten machen die Lernschritte sichtbar, sodass Kinder, Lehrpersonen und Eltern den Fortschritt gemeinsam verfolgen können.
So entstehen Lernwege, die niemanden bremsen und niemanden zurücklassen. Begabtenförderung ist kein Luxus – sie ist ein Auftrag an die Schule.
Kinder stark machen
Was Kinder wirklich fürs Leben brauchen, ist das Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten, die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Schule kann genau das fördern, indem Kinder eigene Lernwege gehen, Erfolgserlebnisse sammeln, konstruktives Feedback erhalten und Verantwortung übernehmen. Ihre Motivation wächst dann, wenn sie selbst Entscheidungen treffen dürfen (Autonomie), erleben, dass sie etwas können (Kompetenz), und spüren, dass sie dazugehören (Verbundenheit). Wenn Schule diese Erfahrungen ermöglicht, wachsen Kinder nicht nur im Wissen, sondern auch in ihrer Persönlichkeit.
Wir – der Verband der Schulleitungen – wollen eine neue Volksschule, die fördert statt filtert.
Damit solches Lernen gelingt, braucht es Zusammenarbeit. Wenn Lehrpersonen gemeinsam planen und sich gegenseitig unterstützen, können sie Kinder viel gezielter begleiten. In einigen Schulen arbeiten zwei Lehrpersonen gleichzeitig in einer Klasse – das schafft mehr Zeit für jedes Kind. Auch Lernateliers sind ein Beispiel: Kinder aus verschiedenen Klassen arbeiten an eigenen Projekten und erhalten Unterstützung genau dort, wo sie sie brauchen. Wenn in der Schule so gearbeitet wird, entsteht eine Kultur des Miteinanders, in der jedes Kind den Platz findet, den es braucht.
Der Weg in die Zukunft
Eine neue Volksschule von 4 bis 15 Jahren ist keine ferne Vision, sondern eine notwendige Weiterentwicklung. Mit 15 oder 16 können Jugendliche Bildungsentscheide auf stabilerer Grundlage treffen – gerecht, durchdacht und mit Blick auf ihr Potenzial.
In der Schweiz gibt es bereits Beispiele: In der Stadt St. Gallen lernen Jugendliche in einigen Pilotklassen nach der 6. Klasse gemeinsam weiter. Die Erfahrungen sind positiv – deshalb soll das Modell nun ausgeweitet werden. Im Kanton Bern werden Modelle mit gemischten Klassen und unterschiedlichen Niveaus erprobt. Schritt für Schritt wächst so eine Schule, die nicht filtert, sondern fördert.
Damit solche Konzepte gelingen, braucht es gute Rahmenbedingungen:
- Heterogene Stammklassen auch in der Oberstufe, in denen Kinder Aufgaben mit verschiedenen Schwierigkeitsgraden bearbeiten. Klare Kriterien sorgen dafür, dass ein Wechsel in eine höhere Stufe jederzeit möglich bleibt.
- Gemeinsame Verantwortung von Gemeinden und Kantonen, die Schulen mit gezielten Ressourcen, verbindlichen Leitlinien und Evaluationen unterstützen.
- Rechtliche Anpassungen auf kantonaler Ebene, damit ein selektionsfreier Übertritt bis 15 möglich wird und Zeugnis- sowie Übertrittsregeln entsprechend angepasst werden.
Eltern, Lehrpersonen, Politik und Wirtschaft tragen dabei gemeinsam Verantwortung. Wenn wir miteinander im Gespräch bleiben und auf Forschung wie auf Erfahrung hören, schaffen wir eine Schule, die Kinder stark macht – für ihre Zukunft und die unserer Gesellschaft.
Unser Ansinnen als Verband der Schulleitungen ist klar: Wir wollen eine neue Volksschule, die fördert statt filtert. Gemeinsam gehen wir Schritt für Schritt vorwärts – mit Verantwortung, Augenmass und dem Ziel, die Schule der Zukunft für die Talente unserer Kinder zu gestalten.








