Loslassen und Kindern Flügel geben
Es ist eine der grössten Herausforderungen für Eltern, ihr Kind loszulassen. Sie wissen, es ist der unausweichliche Lauf der Dinge und wesentlich für ihre Entwicklung – und doch so oft alles andere als einfach.
Loslassen. Was so ein kleines Wort alles in uns auslösen kann. Es erinnert einerseits an Verlust, Schmerz, Einsamkeit, andererseits an Befreiung und Erleichterung. Denn so schmerzvoll es sein kann, jemanden oder etwas loslassen zu müssen, so unheimlich befreiend kann es auch sein, sich von überflüssigen Dingen, von ungesunden Beziehungen, schlechten Gewohnheiten oder Überzeugungen zu verabschieden. In dieser Zwiespältigkeit zieht sich das Loslassen wie ein roter Faden durch unser Leben – von der ersten Ablösung, der Geburt, bis hin zum letzten Atemzug, dem Sterben.
Loslassen ist ein Gefühlscocktail aus Stolz, Wehmut, Trauer und Erleichterung.
Für uns Eltern ist es eine der grössten Übungen. Fragt man Mütter und Väter, was Loslassen für sie bedeutet, spiegeln die Antworten eine ganze Bandbreite an Emotionen wider: einen Spagat aus Vertrauen, Erleichterung, Kontrollabgabe, Abschied.
Das erste grosse Loslassen vollzieht sich zweifellos mit der Entbindung. Das Ende der Stillbeziehung ist ein Lösen aus einer Symbiose. Wenn das Kind zu laufen beginnt, unsere Hand loslässt, seinen Radius erweitert. Wenn es lieber gleich ohne uns in den Chindsgi geht, als Schulkind zunehmend eigene Pläne schmiedet, der Teenager mit einem Problem lieber zu Freunden geht als zu uns – dann können diese Momente schmerzhaft und berührend zugleich sein.
Ein bittersüsser Gefühlscocktail aus Stolz, Wehmut, Trauer und Erleichterung. Man spürt, das Kind wird gross und der Drang, Dinge selbst zu erleben, wächst mit ihm. Je grösser und eigenständiger das Kind, desto mehr kann sich ein Gefühl von Kontrollverlust einstellen, gerade in Entwicklungsphasen wie der Pubertät.
Ein Spannungsfeld aus Festhalten und Loslassen
Die gesamte kindliche Entwicklung ist auf Autonomie ausgelegt und unsere Aufgabe als Eltern besteht darin, Raum für diese Entwicklung zu schaffen. Es ist ein Spannungsfeld aus Festhalten und Loslassen, die Balance zwischen den berühmten Wurzeln und Flügeln. Da lassen wir uns auf eine unglaublich enge Bindung mit einem kleinen Menschen ein, der komplett abhängig von uns ist.
Wir wollen das Kind bei uns haben, es beschützen – und sollen es gleichzeitig darauf vorbereiten, uns irgendwann nicht mehr zu brauchen. Es soll selbständig werden, eigene Wertvorstellungen und Ideen entwickeln und dabei mit uns verbunden bleiben.
Wir sind von Anfang an komplett auf Bindung eingestellt, das ist evolutionär gewollt.
Nicola Schmidt, Wissenschaftsjournalistin
Parallel dazu sollen wir unsere Selbstbestimmung wiedergewinnen, die wir in den ersten Jahren zurückstellen mussten, unsere Partnerschaft neu erleben. Eine gewaltige Aufgabe, gerade wenn man bedenkt, wie erwartungsbehaftet Elternsein heute ist und wie einsam es sich anfühlen kann.
Die Rolle der Hormone
Um dieses Spannungsfeld und den daraus resultierenden Widerspruch besser verstehen zu können, hilft ein Blick in die Biologie. Zunächst einmal ist der Wunsch, unsere Kinder intensiv beschützen und für sie sorgen zu wollen, tief in uns angelegt. Dabei spielen Hormone eine ausserordentlich wichtige Rolle, und zwar nicht nur bei der Mutter. «Wir sind von Anfang an komplett auf Bindung eingestellt, das ist evolutionär gewollt», erklärt Nicola Schmidt, deutsche Autorin und Wissenschaftsjournalistin.
Die gebärende Frau schüttet die Hormone Oxytocin und Prolaktin aus, was ein Fürsorgeverhalten auslöst. Dabei verändere sich auch bei den ihr nahestehenden Personen der Hormonstatus und damit deren Fürsorgeverhalten. «Testosteron reduziert sich im Umkreis von Babys, dagegen steigt der Oxytocin- und Prolaktin-Spiegel bei Männern an, die sich in der Nähe einer stillenden Mutter aufhalten», so Schmidt. Auch seien unsere Babys ab Geburt extrem auf Bindung eingestellt, da sie abhängig von uns sind, «weil sie physiologisch zu früh auf die Welt kommen und Traglinge sind».
Ein evolutionäres Langzeitprojekt
Warum wir unseren Nachwuchs aus evolutionärer Sicht länger behüten als andere Spezies, erklärt Adrian Jäggi, Professor für Humanbiologie am Institut für Evolutionäre Medizin der Universität Zürich: «Menschenkinder sind viel länger auf Unterstützung angewiesen als andere Spezies. Wenn das Junge des Menschenaffen-Weibchens nach fünf bis acht Jahren entwöhnt ist, muss es mehr oder weniger allein zurechtkommen.» Viele der Jungtiere wanderten dann sogar in eine andere Gruppe aus.
«Bei uns Menschen dagegen, also auch schon bei Gesellschaften wie den Jägern und Sammlern, werden Kinder in der Regel schon früher abgestillt, können sich dann aber, im Gegensatz zu den Menschenaffen, längst nicht selbst ernähren. Sie müssen fast 20 Jahre lang von Erwachsenen versorgt werden», so der Biologe.
Dabei bräuchten unsere Kinder natürlich nicht nur Nahrung, sondern profitierten ein Leben lang von der sozialen und emotionalen Unterstützung der Eltern sowie der Erfahrung und dem Wissen aus ausserfamiliären Beziehungen. Die Bindung, die sich anfangs entwickelt, muss also bis ins junge Erwachsenenalter tragen.
Autonomie bedingt Bindung
Das ist die eine Seite – die Basis menschlichen Wachstums, der sichere Hafen. Laut der Bindungstheorie des renommierten britischen Kinderpsychiaters und Psychoanalytikers John Bowlby sind Kinder darauf programmiert, während der ersten Lebensjahre enge Bindungen mit ihren Bezugspersonen einzugehen, um ihr Überleben zu sichern. Diese seien enorm wichtig für die kognitive, soziale und emotionale Entwicklung des Kindes sowie ein Prototyp für dessen künftige Beziehungen.
Doch dieses Bindungssystem steht laut Bowlby im engen Wechselkontakt mit dem Wunsch des Kindes, eigenständig seine Umwelt zu erkunden, seinem Autonomiebedürfnis also. Erst, wenn sein Bindungsbedürfnis ausreichend befriedigt ist, sprich das Kind sicher gebunden ist, kann es entspannt auf Entdeckungstour gehen. Es braucht also im Zuge seiner Entdeckungsreisen immer wieder den sicheren Hafen, an den es zurückkehren kann.
Das Konzept der Bindung wird überinterpretiert und Exploration viel zu wenig diskutiert.
Margrit Stamm, Erziehungswissenschaftlerin
Dass Eltern ihre Kinder behüten wollen, ist demnach evolutionsbiologisch herleitbar. Dass Kinder nach Autonomie streben, ebenso. Auch gab es schon immer jene Mütter und Väter, denen das allmähliche Loslassen schwerer fiel als anderen. Doch die heutige Elterngeneration steht besonders in dem Ruf, sich schwer zu tun, ihre Kinder in die Selbständigkeit zu entlassen. Und tatsächlich haben wir im Vergleich zu früheren Generationen die Tendenz, uns mehr Sorgen um unsere Kinder zu machen.
Wir greifen häufig vorschnell ein, erledigen Dinge und lösen Probleme für das Kind, obwohl es das längst selbst kann. Sehen Gefahren, wo objektiv keine sind. Eine Überfürsorge, die Nicola Schmidt unter anderem dem herrschenden Zeitdruck zuschreibt, der heute auf Eltern laste. «Durch den ständigen Stress sind wir immer im Gefahrenmodus, sehen überall Risiken und wollen unser Kind beschützen», sagt sie.
Eltern stehen unter Druck
Dass Kinder überbehütet sind, beobachtet auch Margrit Stamm, Erziehungswissenschaftlerin und emeritierte Professorin für Pädagogische Psychologie an der Universität Freiburg. Sie stellt fest, dass heutige Eltern, zumindest die der bürgerlichen Mittelschicht, viel weniger gut loslassen können als früher. Das zeige sich bis in den Hörsaal hinein: «Ich sehe an den Infoveranstaltungen der Unis in den letzten Jahren vermehrt Eltern der Studierenden sitzen, die für ihre Kinder Fragen stellen und mitschreiben. 25 scheint das neue 18 zu sein. Das ist eine beunruhigende Entwicklung», sagt sie.
Als eine der Ursachen für das überbehütende Verhalten sieht Stamm den gesellschaftlichen Erwartungsdruck, in der Kindererziehung alles richtig zu machen. Dahingehend habe sich in den letzten Jahrzehnten eine Kultur der Angst entwickelt – «eine wettbewerbsorientierte Kultur, die Eltern, vor allem aber Mütter, dazu drängt, perfekt zu sein und perfekte Kinder haben zu wollen».
Dieser Optimierungsdrang spiegle sich in den sozialen Medien wider und befördere besonders Mütter in eine Perfektionsspirale. Dies sei eine der Hauptursachen dafür, dass Eltern heute weniger gut loslassen können. Statt aber Eltern an den Pranger zu stellen, plädiert Margrit Stamm dafür, gesellschaftliche Erwartungen zu hinterfragen, die ihnen die Abnabelung von ihren Kindern erschweren.
Die Professorin verweist daneben auch auf die Entwicklung des Erziehungsstils hin zu bedürfnis- und beziehungsorientierten Ansätzen. Dieser Wandel sei zwar begrüssenswert, doch richte er zum einen zusätzliches Augenmerk auf die Eltern – zum anderen erzeuge der häufig verbreitete Irrtum, bedürfnisorientierte Erziehung bedeute, dem Kind jedes einzelne Bedürfnis zu erfüllen, zusätzlichen Druck.
Starke Wurzeln, gestutzte Flügel
Dieser Argumentation schliesst sich der deutsche Kinderarzt und Autor Herbert Renz-Polster an. Er bedauert zudem, dass durch die missverstandene und falsch verbreitete Auffassung bedürfnisorientierter Erziehung der, wie er es nennt, Flügelraum in Vergessenheit geraten würde.
«Den Wurzelraum haben wir uns nach und nach erobert, der Flügelraum hingegen ist kleiner geworden», sagte der Kinderarzt in einem Interview für dieses Magazin. «Hier sind wir eindeutig aus der Balance geraten.» Wir sollten uns laut Renz-Polster bewusst machen, dass wir als Eltern eine Doppelrolle haben und nicht nur Haltgebende sind, sondern auch Ermöglichende.
Eltern sollten ein Gespür dafür entwickeln, wie viel Verantwortung sie dem Kind geben können.
Margrit Stamm sieht dahingehend die Bindungstheorie von John Bowlby missverstanden: «Laut Bowlby sind Bindung und Exploration gleich wichtig. Sie stehen in Balance zueinander, sind voneinander abhängig, komplementär und selbstregulierend», so die Erziehungswissenschaftlerin. Das Kind suche einerseits Nähe und Schutz, andererseits aber eben auch die Exploration.
Loslassen sei wichtig, damit beide Seiten sich entwickeln können. Moderne Erziehungsansätze fokussierten jedoch zu stark auf Bindung, und das Bedürfnis nach Autonomie werde dabei häufig vernachlässigt.
«Das Konzept der Bindung wird überinterpretiert und als ständige Nähe und Schutz verstanden, aber die Exploration wird viel zu wenig diskutiert.» Diese Einseitigkeit habe dazu beigetragen, dass die Überbindung es dem Kind schon früh erschwert, Tendenzen der Autonomie zu entwickeln. «Dann sind die Kontrolle und die Angst ums Kind übermächtig.»
Die individuelle Ebene
Natürlich wäre es zu einseitig, neben der gesellschaftlichen die persönliche Ebene ausser Acht zu lassen. Wir alle haben Prägungen und Charaktereigenschaften, die laut der Psychotherapeutin Joëlle Gut darüber mitentscheiden, wie gut oder schlecht wir loslassen können. So könne unser Nähebedürfnis einen Einfluss haben, unsere Fähigkeit, mit Veränderungen umzugehen, oder auch, ob wir eher von Gefühlen oder vom Verstand geleitet sind.
Laut Joëlle Gut, die dem Thema häufig in der Praxis begegnet, ist es auch wichtig, eigene Muster zu hinterfragen: Definiere ich mich über das Gebrauchtwerden? Wie selbst- oder fremdbestimmt ist mein Leben? Habe ich andere Schwerpunkte wie Freundschaften oder Hobbys? Wie stark sind gesellschaftliche Ideale in mir verankert? Auch Faktoren wie die Qualität der eigenen Partnerschaft können laut Gut dazu führen, dass Kinder als sogenannte emotionale Platzhalter für den Partner oder die Partnerin dienen – was das Loslassen zusätzlich erschweren kann.
Wenn Eltern nicht loslassen, können sich Kinder nicht richtig entwickeln.
Joëlle Gut, Psychotherapeutin
Liegt es aber nicht auch an der Persönlichkeit des Kindes, wie gut wir als Eltern loslassen können? Laut Expertinnen und Experten scheint diese bei einer normalen Entwicklung eine eher untergeordnete Rolle zu spielen. Zwar ist jedes Kind einzigartig und braucht mal mehr, mal weniger Nähe. Auch entwickelt es sich innerhalb bestimmter Phasen in seinem ganz eigenen Tempo – doch sein Ziel sei immer nach vorne gerichtet.
Wichtiger als die Persönlichkeit des Kindes sei die Kommunikation mit ihm. So ist es ausschlaggebend, im Alltag auf die Signale des Kindes zu achten. Vielleicht äussert der Siebenjährige eines Tages von selbst den Wunsch, die Ferienwoche mal alleine bei den Grosseltern zu verbringen, oder die Zehnjährige will mit ihren Freundinnen in ein Ferienlager. Diese Wünsche gelte es ernst zu nehmen. Und es gelte, Impulse in Richtung Eigenständigkeit zu geben. Eltern sollten ein Gespür dafür entwickeln, was als Nächstes in der Entwicklung ansteht und wie viel Verantwortung sie dem Kind geben können.
Klammern tut niemandem gut
Kinder wollen Sicherheit und Autonomieerfahrungen – ein Zusammenspiel von Nähe und Distanz, welches sich im Laufe des Heranwachsens stetig verändert. Nie zeigt sich der Drang nach Autonomie stärker als in der Pubertät, der kompletten Umgestaltung der Beziehung zu den Eltern. Das Kind, der Jugendliche, wendet sich zunehmend ab, und obwohl wir wissen, dass das normal und wichtig ist, kann es uns traurig stimmen oder verängstigen.
«Die Jugendlichen lernen, welche Verhaltensweisen und Einstellungen sie von ihren Eltern übernehmen und welche nicht», sagt Joëlle Gut. Auch gehe es darum, dass sie sich in ihrer Selbständigkeit weiterentwickeln können, Verpflichtungen eigenständig folgen. «Wenn Eltern nicht loslassen», sagt sie, «können Jugendliche nicht lernen, diese Entwicklungsaufgaben zu lösen.»
Je besser sich Eltern lösen können, desto besser ist das für ihre Identitätsfindung.
Pasqualina Perrig-Chiello, Psychologin
Ähnlich sieht das Pasqualina Perrig-Chiello, emeritierte Psychologieprofessorin an der Universität Bern. Zudem könnten Kinder durch das Klammern der Eltern Ängste entwickeln oder sich radikaler lösen, da es sonst fast nicht möglich wäre. Und auch für Eltern habe das Klammern Folgen, spätestens beim Auszug der Kinder.
«Je besser wir uns lösen können, desto besser für unsere Identitätsfindung», sagt Perrig-Chiello, die lange zur Entwicklungspsychologie der Lebensspanne geforscht hat. Eltern, die loslassen können, haben laut der Psychologin die Zuversicht, dass das Kind nach dem Auszug auf eigenen Füssen stehen und beruflich, partnerschaftlich und gesellschaftlich seinen Platz finden kann. «Dies wiederum gibt dem Kind Sicherheit und Zuversicht.» Auch in Sachen Partnerschaft hätten jene die besseren Karten, die sich bislang nicht einseitig über die Elternrolle definierten, sondern auch als Paar und als Individuum.
There is freedom waiting for you.
On the breezes of the sky.
And you ask: «What if I fall?»
«Oh but my darling, what if you fly?»
Die Freiheit wartet auf dich.
In den Lüften des Himmels.
Und du fragst: «Was, wenn ich falle?»
«Oh, aber mein Liebling,
was, wenn du fliegst?»
Erin Hanson, Amerikanische Malerin (*1981)
Schlechter ergehe es dagegen Eltern, die nicht loslassen können: «Dann verharren sie in ihrer Rolle und verpassen damit die eigene Individuation», sagt Perrig-Chiello. Das könne so weit gehen, dass sie sich in einer Abhängigkeit vom Kind befinden und versuchen, den Zustand mit allen Mitteln zu erhalten, «mit Liebe, Verwöhnung, wenn nötig auch mit Drohungen».
Loslassen ist lernbar
Idealerweise täten wir also gut daran, unsere Kinder möglichst achtsam auf ihrem Weg in die Selbständigkeit zu begleiten, ihnen Freiheiten zu geben und stolz zu sein, wenn sie sich einen neuen Schritt in der eigenen Selbständigkeit zutrauen. Ihnen dabei immer wieder die sichere Basis geben und einen Ort des Zurückkommens. All das geschieht natürlich nicht auf einen Schlag.
«Das erste Mal alleine Schuhe anziehen, das erste Übernachten woanders, die erste Klassenreise. Das erste Mal alleine mit dem Bus zur Freundin, alleine Bahn fahren. Wir müssen die Kinder nach und nach darauf vorbereiten, das Leben alleine zu meistern», sagt Nicola Schmidt. Bestenfalls erobern wir dabei unsere alten Freiheiten Stück für Stück zurück.
Was aber tun in Momenten, in denen wir dennoch mit dem Loslassen hadern? Dann hilft es zunächst, uns selbst zu hinterfragen. Margrit Stamm rät dazu, zwei Schritte zurückzugehen und zu reflektieren: Wer bin ich und was hat zu meinem Verhalten geführt? Wie sehr projiziere ich meine eigenen Wünsche und Erfahrungen auf das Kind? Was brauche ich, um gut loslassen zu können?
Der Perfektion absagen
Was die gesellschaftlichen Anforderungen an Eltern betrifft, so lassen diese sich nicht über Nacht ändern. Wandel braucht Zeit und Musse, und Eltern haben beides kaum. Aber allein sich dieser bewusst zu werden, kann dabei helfen, den Druck rauszunehmen und sich ein Stück zurückzulehnen.
Ein Schlüssel zum Ausbruch aus dem Perfektionsanspruch, der uns das Loslassen grundsätzlich erschwert, liegt laut Margrit Stamm im Verinnerlichen des Good Enough Parenting, zu deutsch: in der hinreichend guten Elternschaft.
Kinder sind uns nichts schuldig, auch nicht Dankbarkeit.
Der Begriff bezieht sich auf den Ansatz des britischen Kinderarztes und Psychoanalytikers Donald Winnicott, der bereits in den 50er-Jahren herausfand, dass Eltern, die versuchen, ihr Kind «perfekt» zu erziehen, seine Entwicklung letztlich weniger gut fördern als die, die liebevoll sind, aber auch gelassen mit eigenen Fehlern umgehen und wissen: Wir machen das gut, und gut ist gut genug.
In der Praxis gehört dazu auch, unsere starre Elternrolle Stück für Stück aufzubrechen, die Familie zu öffnen für ein Dorf und darauf zu bestehen, dass Kinder keine Privatsache sind, sondern alle etwas angehen. Sich den Vergleichen mit anderen, insbesondere in den sozialen Medien, zu verweigern; und nicht zuletzt rigide Mutterideale zu hinterfragen, die darauf pochen, die Mutter sei die einzig richtige und selbstaufopfernde Bezugsperson für das Kind.
- Jan-Uwe Rogge: Pubertät. Loslassen und Haltgeben. Rowohlt 2010, 352 Seiten, ca. 18 Fr.
- Margrit Stamm: Lasst dieKinder los. Warum entspannte Erziehung lebenstüchtig macht. Piper 2017, 288 Seiten, ca. 19 Fr.
- Herbert Renz-Polster: Kinder verstehen. Born to be wild: Wie die Evolution unsere Kinder prägt. Kösel 2022, 512 Seiten, ca. 34 Fr.
- Gerlinde Unverzagt: Generation ziemlich beste Freunde. Warum es heute so schwierig ist, die erwachsenen Kinder loszulassen. Beltz 2017, 256 Seiten, ca. 29 Fr.
Um loslassen zu können, kann letztendlich auch die Einsicht helfen: Kinder sind uns nichts schuldig, auch nicht Dankbarkeit. Wir können weder von ihnen einfordern, bei uns zu bleiben, noch sind sie verantwortlich dafür, dass wir uns gut und gebraucht fühlen. Worauf es am Ende hinausläuft, ist die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehung. Darum sollten wir sie bestmöglich bestärken und ihnen Mut, Zuversicht und Vertrauen mit auf den Weg geben.