Was sollen Eltern tun, wenn sie das Kind beim Sex überrascht?
Ob in den Medien, in Kunst oder Kultur: Sex ist allgegenwärtig. Doch wie gesund und authentisch ist unser Umgang mit der eigenen Körperlichkeit? Die sexologische Körpertherapeutin Beate Wanka über die Vorbildfunktion von Müttern und Vätern, sexuelle Freiräume und schlechte Aufklärungsbücher.
Frau Wanka, jede Mutter, jeder Vater würde sich heute als aufgeklärt bezeichnen. Sind wir unseren Kindern gute Vorbilder in Sachen Sexualität?
Lassen Sie mich auf das Wort «aufgeklärt» eingehen und damit Ihre Frage beantworten. Aus meiner Sicht hat sexuelle Bildung in unserer Gesellschaft noch viel Entwicklungspotenzial. Ist der G-Punkt Mythos oder Realität?
Ich muss erst einmal meine eigene Scham überwinden, um sie meinen Kindern nicht mitzugeben.
Zudem sind auch die weiblichen Genitalien weit mehr als nur «Vagina», wie sie zumeist definiert werden. Dazu kommt, dass wir in vielen Bereichen, die unseren Körper und unsere Sexualität betreffen, sehr schambehaftet sind. Und all dies geben wir als Vorbilder weiter. Kinder spüren viel. Beispielsweise auch, ob sich ihre Eltern aus Verbundenheit küssen und umarmen oder ob es bloss Geste und Gewohnheit ist. Deshalb ist es wichtig, Nähe und Zärtlichkeit zum Partner bewusst und ehrlich zu leben.
Wie sieht denn ein authentischer Umgang mit der eigenen Körperlichkeit aus? Sollten Eltern zu Hause auch mal nackt herumlaufen?
Wenn ich mich als Mutter beziehungsweise als Vater dabei wohlfühle und es für die anderen Familienmitglieder stimmt, gerne. Aber viel wichtiger als mein Verhalten ist meine innere Haltung zum Thema.
Mit anderen Worten: Ich muss erst einmal meine eigene Scham überwinden, um sie meinen Kindern nicht mitzugeben. Vortäuschen funktioniert vor Kindern nicht. Wichtig ist, sich als Paar den Raum zu nehmen, auch mal die Schlafzimmertüre für Zweisamkeit zu schliessen. Die Kinder können lernen zu respektieren, dass die Eltern ein Paar mit Bedürfnissen sind – auch sexuellen.
Auch mitten am Tag? Schwierig vorstellbar, dass ein 5-Jähriger das akzeptiert.
Und wenn das Kind dann doch in der Tür steht und einen beim Sex überrascht? Sollten Eltern den Akt thematisieren?
Wie sollen sich Eltern verhalten, wenn das Kind keine Fragen stellt?
Beim Thema Kinder und Sexualität gibt es eindeutig Grenzen. Wo sollten Eltern diese ziehen?
Das Nichtbeachten des sogenannten «da unten» kann letzten Endes zu einer Taubheit im Genitalbereich führen.
Und wenn für mich eine Grenze erreicht ist?
Die 7-jährige Tochter geniesst beim Baden den Wasserstrahl im Intimbereich. Wäre dies eine gute Situation, über Lust zu sprechen? Soll man sie einfach gewähren lassen?
Was meinen Sie mit «spiegeln»?
Wie gehe ich damit um, dass mein Kind sich auch bei den Grosseltern oder bei anderen Menschen, die es betreuen, selbst berührt?
Sexualität ist per se Thema. Wir sind sexuelle Wesen. Von Geburt an bis ins hohe Alter.
Sie sagen, Mütter sollen ihre Töchter lehren, dass ihre Genitalien toll seien. Weshalb ist das besonders bei Mädchen ein Thema?
Wie baue ich als Frau eine solche «Fühl-Autobahn» aus?
Indem ich mich betrachte, berühre und berühren lasse. So wachsen neue Nervenverbindungen – in jedem Alter. Dazu müssen viele Frauen erst ihre Schamgrenze überwinden. Während Buben offener über Selbstbefriedigung sprechen, haben Mädchen einen weniger ungezwungenen Umgang damit. Dazu tragen noch heute solche Sätze bei: «Fass dich da nicht an, das ist schmutzig.»
Ich habe Frauen auch schon sagen hören: «Ich fasse mich selber nicht an, ich habe einen Freund, der macht das.» Doch das Nichtbeachten des sogenannten «da unten» kann letzten Endes zu einer Taubheit im Genitalbereich führen. Da kann dann auch der Freund nichts mehr machen.
Was sollten wir unsere Söhne lehren?
Es braucht einen Paradigmenwechsel in unserer Gesellschaft. Bei der Vorstellung von männlicher und weiblicher Sexualität herrscht eine Disbalance, es geht vor allem ums Nehmen und Genommenwerden. Dabei müsste selbstverständlich sein, dass Männlichkeit auch gefühlvoll und verletzlich sein darf – und Weiblichkeit fordernd und dominant. Um dahin zu kommen, müssen wir lernen, unsere Wünsche auszudrücken und Geschlechterklischees zu überwinden.
Wann ist der richtige Zeitpunkt, ein Kind aufzuklären? In der Pubertät?
Das wird schwierig, wenn Sexualität vorher totgeschwiegen wurde – dann ist sie nicht implementiert im Familiensystem und es wirkt unglaubwürdig. Man sollte sich Aufklärung nicht für einen bestimmten Zeitpunkt aufheben. Sexualität ist per se Thema. Wir sind sexuelle Wesen. Von Geburt an bis ins hohe Alter.
Schamlippen, Schambein, Schambehaarung. Wir müssen uns von «Scham» im Schoss trennen, denn Worte prägen unser Denken.
Was sollte man seinen Kindern in Sachen Sexualität auf jeden Fall mit auf den Weg geben?
Was halten Sie von der gängigen Aufklärungsliteratur?
In vielen Büchern, die auch in Schulen verwendet werden, findet man nichts Realistisches zur weiblichen Lust oder dazu, wie die Klitoris in Wirklichkeit aussieht. Aus meiner Sicht werden Erwachsene wie Heranwachsende dadurch manipuliert: durch Weglassen beziehungsweise Auslassen.
Auch der Wortwahl vieler Aufklärungsbücher gegenüber sind Sie kritisch.
So ist es. Schamlippen, Schambein, Schambehaarung. Es ist befremdlich, dass diese Begriffe noch heute gedruckt und nicht durch Worte wie Labien, Venusbein und Intimbehaarung ersetzt werden. Meiner Meinung nach müssen wir uns von «Scham» im Schoss trennen, denn Worte prägen unser Denken. Und ich will keine Scham in meinen Genitalien.
Wir leben in einer übersexualisierten Gesellschaft, die keinen entspannten Umgang mit Sexualität und Nacktheit hat.
Heute existiert eine Art Trend um die Vulva in Medien, Kunst und Mode. Wird unseren Kindern damit nicht sowieso ein offener und unverkrampfterer Umgang mitgegeben?
Leider nein. Das macht es aus meiner Sicht verkrampfter. Ein Trend stellt noch mehr fremdbestimmte Bilder her. Welche Frau traut sich beispielsweise heute noch, ihre Intimbehaarung lang und wuschelig zu tragen?
Meiner Meinung nach leben wir in einer übersexualisierten Gesellschaft, die keinen entspannten Umgang mit Sexualität und Nacktheit hat. Es existieren so viele Bilder, wie Sex auszusehen und zu funktionieren hat, schon Kinder kommen mit Pornografie in Berührung. Gleichzeitig fehlen grundlegendes Wissen, Eigenverantwortung und Dialog: zwischen Paaren, mit den Kindern und in der Gesellschaft.