Woran erkennen Eltern, ob ihr Kind homosexuell ist?
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Woran erkennen Eltern, ob ihr Kind homosexuell ist?

Lesedauer: 3 Minuten

Der Basler Psychiater Udo Rauchfleisch erklärt, warum es Mädchen einfacher fällt, sich zu outen, wie Eltern ihr Kind beim Coming-out unterstützen können und warum «schwul» bis heute als Schimpfwort gilt.

Herr Rauchfleisch, ist es für Jugendliche einfacher geworden, sich als homosexuell zu outen?

Man könnte meinen, dass ein Coming-out für junge Menschen heutzutage kein Problem mehr darstellt. Es hat sich ja einiges getan in den letzten Jahren wie etwa die gleichgeschlechtliche Ehe oder die sogenannte Stiefkindadoption.

Dennoch ist das Outing für pubertierende Jugendliche nach wie vor ein sehr schmerzhafter Prozess. Zahlreiche Untersuchungen besagen, dass lesbische und schwule Jugendliche häufiger unter Depressionen, Angststörungen und Suizidgedanken leiden als gleichaltrige Heterosexuelle.

Udo Rauchfleisch ist emeritierter Professor für Klinische Psychologie der Universität Basel und Buchautor. Zu seinen Schwerpunkten gehört das Thema Homosexualität und Transsexualität. Daneben widmet er sich seiner Leidenschaft, dem Schreiben von Kriminalromanen mit schwulen Protagonisten. www.udorauchfleisch.ch
Udo Rauchfleisch ist emeritierter Professor für Klinische Psychologie der Universität Basel und Buchautor. Zu seinen Schwerpunkten gehört das Thema Homosexualität und Transsexualität. Daneben widmet er sich seiner Leidenschaft, dem Schreiben von Kriminalromanen mit schwulen Protagonisten. www.udorauchfleisch.ch

Wie schwierig ist es für Eltern, wenn sich das eigene Kind als homosexuell outet?

Für viele ist es immer noch ein Schock. Wobei Mütter anders reagieren als Väter.

Inwiefern?

Mütter sagen Sätze wie «Das habe ich mir schon irgendwie gedacht»; die Väter fallen meist aus allen Wolken. Das liegt unteranderem daran, dass Mütter in traditionellen Familienkonstellationen ihren Kindern meist näher stehen und mehr Gespür dafür haben, was in ihnen vor sich geht. Es ist belegt, dass Frauen grundsätzlich weniger homophob sind als Männer.

Woran liegt das?

Das hat gesellschaftliche Gründe: Männer hängen in der Regel stärker an traditionellen Männer- und Frauenrollen in unserer Gesellschaft. Ein Leben als gleichgeschlechtliches Paar stellt ihre Grundeinstellung infrage, denn innerhalb einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft müssen diese Rollen ja neu definiert und ausgehandelt werden.

Hinzu kommt, dass Frauen viel selbstverständlicher mit Nähe, Emotionen und Zärtlichkeiten umgehen. Auch ohne lesbisch zu sein, umarmen sich Frauen oder halten sich an den Händen. Bei Männern in unserem Kulturkreis hingegen ist das undenkbar und verpönt, für manche sind solche Vertrautheiten suspekt und unangenehm.

Vielfach wird das Coming-out von lesbischen Mädchen nicht ernst genommen, sondern als quasi experimentelle Phase gewertet.

Wie merken Eltern, wenn das eigene Kind auf das gleiche Geschlecht steht?

Es gibt keine eindeutigen Anzeichen dafür, dass ein Kind homosexuell ist oder nicht. Bei homosexuellen Jugendlichen beobachten wir häufig, dass sie verunsichert sind und sich von Schulkameraden, Freunden oder den Eltern zurückziehen oder sich einen neuen Bekanntenkreis suchen. Das zu erkennen ist nicht einfach, da sich auch heterosexuelle Jugendliche im Rahmen des natürlichen Abnabelungsprozesses in der Pubertät von den Eltern zurückziehen.

Wie können Eltern ihren Kindern das Outing erleichtern?

Das ist individuell. Allerdings gibt es einige wichtige Punkte, die Eltern beachten können. Indem sie etwa das Gespräch anbieten und das Thema benennen. Beispielsweise können sie ihre Tochter fragen: «Ist es ein Problem für dich, dass du auf Mädchen stehst?» Wenn das Kind nicht darüber reden möchte, muss man dies respektieren. Aber die Frage an sich signalisiert bereits: «Wir denken, es könnte so sein.»

Fühlen sich Eltern schuldig, weil die Sexualität des Kindes nicht dem Mainstream entspricht?

Ja, Schuldgefühle kommen häufig vor und sind immer unheilvoll. Im Falle eines Outings des eigenen Kindes läuft aber nichts schief, sondern einfach anders als üblich. Das sollten sich Eltern vor Augen führen. Diese Erkenntnis kann befreiend sein.

Die Schule ist mitunter der homophobste Ort der Gesellschaft.

In welchem Alter realisiert ein Kind, dass es homosexuell ist?

Unbewusst schon sehr früh und schon vor der Pubertät. Das berichten zumindest homosexuelle Erwachsene rückblickend. Vielleicht hat ein Mädchen während der Primarschulzeit besonders für eine Lehrerin geschwärmt. Das tun viele – aber für ein lesbisches Mädchen hat eine solche Schwärmerei eine viel intensivere Qualität.

Sind offen homosexuelle Kinder an Schweizer Schulen eine Ausnahme?

Die Schule ist mitunter der homophobste Ort der Gesellschaft. Natürlich darf man das nicht generalisieren, denn es gibt mit Sicherheit auch Schulen, an denen die Schüler sowie die Lehrerschaft sehr offen mit der Thematik umgehen. Doch das sind Ausnahmen. Viele Lehrerinnen und Lehrer berichten mir, dass sie in ihrer Ausbildung nicht oder nur lückenhaft auf solche Inhalte vorbereitet worden sind.

In der Schule selbst wird das Thema Homosexualität höchstens nebenbei im Biologieunterricht angesprochen. Wichtig wäre es deshalb, dem Lehrpersonal geeignete Mittel zur Verfügung zu stellen, damit es seine Schützlinge bereits auf Kindergartenstufe mit der Thematik vertraut machen kann. In Form von Bilderbüchern beispielsweise, in welchen der Prinz eben einen anderen Prinzen heiratet und nicht die Prinzessin.

Fällt es Mädchen einfacher, sich zu outen?

Ja. Lesbisch zu sein, stellt gesellschaftlich gesehen viel weniger einen Affront dar. Und mehr noch: Vielfach wird das Coming-out von lesbischen Mädchen nicht einmal besonders ernst genommen, sondern als quasi experimentelle Phase gewertet.

Warum gilt «schwul» bis heute als Schimpfwort?

Wer schwul als Schimpfwort gebraucht, assoziiert damit in der Regel Weiblichkeit und damit Schwäche. Das wiederum hat mit der Auffassung zu tun, wie Frauen in der Gesellschaft oft wahrgenommen werden: als das sprichwörtliche schwache Geschlecht.

Nicole Gutschalk
ist freie Journalistin. Sie beschäftigte das Thema Homosexualität bei Jugendlichen schon als 18-Jährige: Sie wunderte sich darüber, warum es an ihrem Gymnasium keine lesbischen oder schwulen Paare gab, die händchenhaltend über den Pausenplatz spazierten. Nicole Gutschalk hat drei Kinder und lebt mit ihrer Familie in Zürich.

Alle Artikel von Nicole Gutschalk

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