«Eine Affäre ist keine Bankrotterklärung»
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«Eine Affäre ist keine Bankrotterklärung»

Lesedauer: 4 Minuten

Paar- und Sexualtherapeutin Helke ­Bruchhaus Steinert weiss, was der Erotik auf die Sprünge helfen kann, wenn Sex im Elternalltag rar geworden ist. Und erklärt, warum Intimität nicht mit Verschmelzung verwechselt werden sollte.

Interview: Virginia Nolan
Bild: Adobe Stock

Frau Bruchhaus Steinert, oft kommen Paare zu Ihnen, deren Liebesleben in Schieflage geraten ist. Wo hapert es am häufigsten?

Wenn die gemeinsame Sexualität Anlass zu Problemen gibt, ist Lustlosigkeit das häufigste Thema. Typischerweise ist sie einseitig, sprich, einer will mehr als der andere. Die eine fühlt sich durch Zurückweisung gekränkt, der andere durch Vorwürfe in die Ecke gedrängt.

Wie wichtig ist Sex für eine gelingende Partnerschaft?

Für die meisten Menschen gehört zu einer Liebesbeziehung auch die gemeinsame Sexualität. Allerdings erfährt diese im Verlauf einer Partnerschaft einen Bedeutungswandel. Am Anfang schlafen wir miteinander, weil wir verliebt sind, und festigen mit Sex das Gefühl einer Identität als Paar.

Helke Bruchhaus Steinert ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie mit ­Praxis in Zürich. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Paar- und Sexualtherapie. 2019 ist ihr Werk ­«Sexualstörungen» erschienen, ein ­Handbuch für Therapeuten.
Helke Bruchhaus Steinert ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie mit ­Praxis in Zürich. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Paar- und Sexualtherapie. 2019 ist ihr Werk ­«Sexualstörungen» erschienen, ein ­Handbuch für Therapeuten.

Später kommen andere Lebensbereiche dazu, die dieses Identitätsgefühl nähren, etwa eine gemeinsame Familie. Dann haben wir Sex, um die Liebe zu pflegen. Untersuchungen zeigen, dass die Häufigkeit sexueller Aktivitäten nach zwei Jahren abnimmt und dann meist lange auf einem konstanten Niveau bleibt.

Sex einen Platz in der Agenda einzuräumen, kann emotional viel Druck rausnehmen.

Was, wenn die Leidenschaft erlischt?

Dafür gibt es viele Gründe. Wenn eine Familie versorgt und die Arbeitslast in Beruf und Haushalt bewältigt werden müssen, fördert das Stress, der, wenn er andauert, zu den häufigsten Gründen für Sexflauten gehört. Wir wissen auch: Männer bauen durch Sex oft Spannung ab, demgegenüber brauchen Frauen Entspannung, um überhaupt in Stimmung zu kommen.

Manche Paare helfen ihrer Erotik mit Sex nach Kalender auf die Sprünge.

Ich finde das prima. In unserer Ideal­vorstellung ergreift uns die Lust spontan. Die Realität ist eine andere. Wenn der Alltag Spontanität untergräbt, warum der Erotik nicht nachhelfen? Sicher werden wir dafür nicht immer die gleiche Lust aufbringen: Sex ist einmal gut und ein andermal weniger, er kann lästig sein oder wunderbar belebend. Ihm einen Platz in der Agenda einzuräumen, kann emotional viel Druck rausnehmen.

Es zeigt, dass Sex beiden wichtig ist, überfrachtet diesen aber nicht mit bedeutungsschweren Fragen, die aufkommen, wenn es an Gelegenheit mangelt: Magst du mich überhaupt? Warum zeigst du es mir nicht?

Wenn Intimität mit Verschmelzung verwechselt wird, fehlt der Leerraum, den es braucht, damit Verlangen überhaupt entstehen kann.

Viele Paare dürfte eine weitere Frage umtreiben: Wie können wir langfristig begehren, was wir schon haben?

Diese Frage geht übers Erotische hinaus. Sie wurzelt in widersprüchlichen Bedürfnissen, die uns Menschen ureigen sind: Einerseits trachten wir nach Bindung, Zweisamkeit und Sicherheit, andererseits treibt uns der Wunsch nach Autonomie, Individualität und Veränderung an. Eine verbindliche Liebesbeziehung stellt uns fortwährend vor die Aufgabe, in diesem Spannungsfeld ein Gleichgewicht zu finden.

Wie gelingt das?

Nicht ohne Angst und Konflikte – denen wir uns stellen müssen, um eine Beziehung lebendig zu erhalten. Ein Partner, der den Wunsch nach Autonomie aufgibt, um die Beziehung zu retten, ist auf lange Sicht selten glücklich, ebenso wenig wie derjenige, der eine nahe Beziehung aufgibt, nur um seine Individualität zu bewahren.

Wir kommen nicht umhin, uns in diesem Zusammenhang mit eigenen Wünschen und Ängsten und denen des Partners auseinanderzusetzen. Dabei werden Widersprüche sichtbar, individuelle Unterschiede, eine Distanz zwischen den Partnern. Die gilt es auszuhalten. Distanz ist wichtig im Hinblick auf Intimität.

Wie meinen Sie das?

Der Sexualtherapeut David Schnarch hat es einmal so formuliert: «Intimität ist nicht dasselbe wie Nähe, Bindung oder Fürsorglichkeit. Sie schliesst das Bewusstsein mit ein, dass Sie und Ihr Partner getrennte Wesen sind, für die es in bestimmten Bereichen keine oder noch keine Gemeinsamkeit gibt.»

Wenn Intimität mit Verschmelzung verwechselt wird, fehlt dieser Leerraum zwischen zwei Individuen, den es braucht, damit Verlangen überhaupt entstehen kann. Es geht darum, sich als eigenständige Person zu begreifen und auch jene Bereiche zu pflegen, die uns allein ausmachen, unabhängig vom Partner. Damit erhöht sich die Chance, füreinander interessant zu bleiben.

Die meisten Menschen gehen nicht fremd, weil sie sich vom Partner abwenden, sondern aus dem Alltag ausbrechen wollen.

Eine Affäre gehört zu den häufigsten Gründen für eine Paartherapie. Warum gehen Menschen fremd?

Jedenfalls muss jemand in seiner Primärbeziehung nicht unglücklich sein, um fremdzugehen. Wenn der Alltagstrott dominiert, stellt sich oft der Eindruck ein, das gemeinsame Leben sei vorhersehbar. Kommt dann jemand daher, der einen umwirbt, beschert uns dies jene Lebendigkeit, nach der wir uns im gemeinsamen Leben mit dem Partner vielleicht zurücksehnen.

Die meisten Menschen gehen nicht fremd, weil sie sich vom Partner abwenden, sondern aus dem Alltag ausbrechen wollen. Affären sind letztlich auch eine Frage der Gelegenheit: Wer häufiger vom Partner getrennt ist, wird eher in Versuchung kommen. Auch gesellschaftliche Entwicklungen spielen eine Rolle.

Nämlich?

Wenn man Zahlen Glauben schenkt, kommen Affären heute häufiger vor. Das hat damit zu tun, dass Partner finanziell unabhängiger voneinander und die wirtschaftlichen Folgen einer Trennung für beide eher zu tragen sind. Aber auch unsere Wertvorstellungen haben sich verändert: Es gilt heute nicht mehr als besonders erstrebenswert, eine schwierige Beziehungssituation zu ertragen. In den Vordergrund gerückt ist die ­Frage, ob wir genügend Selbstverantwortung für Genuss, Erfolg und Lebenslust übernehmen und unsere Lebensziele verwirklichen.

Was bedeutet eine Affäre für die Beziehung?

In den meisten Fällen eine schwere Krise. Damit Schmerz, Wut und Enttäuschung heilen, braucht es Zeit und womöglich auch Unterstützung. Doch birgt jede Krise auch das Potenzial, gestärkt daraus hervorzugehen. Die Einsicht, dass die Liebe bessere Pflege braucht, kann der Beziehung eine neue Richtung geben. Eine Affäre ist keine Bankrotterklärung an die Liebe. Aber sie führt uns vor Augen, dass nicht alle Bedürfnisse und Sehnsüchte der Partner durch den anderen erfüllt werden können.

Eine offene Beziehung kann ein ­Versuch sein, dieses Problem zu umschiffen.

Mit Respekt und viel Toleranz kann das gelingen. Man muss dabei jedoch mit Unvorhergesehenem rechnen: Liebesgefühle im Rahmen der Aussenbeziehung, Eifersucht, Ansprüche von Drittpersonen. Was in der Theorie aufgeht, führt in der Praxis oft zu Chaos. Paare sollten sich bewusst sein, dass eine sexuelle Aussenbeziehung Zeit in Anspruch nimmt, die der verbindlichen Partnerschaft abgeht. Wer die Zeit mit dem primären Partner dann auf Alltagspflichten beschränkt und sich die schönen Seiten des Lebens für anderswo aufhebt, ist als Paar vermutlich nicht mehr lange glücklich.

Virginia Nolan
ist Redaktorin, Bücherwurm und Wasserratte. Sie liebt gute Gesellschaft, feines Essen, Tiere und das Mittelmeer. Die Mutter einer Tochter im Primarschulalter lebt mit ihrer Familie im Zürcher Oberland.

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