Was tun, wenn das Kind lügt?

Zwischen Fantasie und Lüge liegt ein schmaler Grat, den gerade Kinder gerne ausloten. Daraus resultieren oft abenteuerliche Geschichten. Sie einzuordnen, ist für Erwachsene nicht ganz einfach. Wo können wir ein Auge zudrücken und wann gilt es hinzuschauen?
Manchmal kommen die Kinder von der Schule nach Hause und erzählen eine aufregende Geschichte; Geschehnisse, die sie bewegen. Manchmal sind es auch Geschichten, die sie traurig machen, beispielsweise ein Streit oder gar eine körperliche Auseinandersetzung mit einem Weggefährten. Reflexartig solidarisieren wir Eltern uns mit ihnen. Eine Reaktion, die absolut normal, aber je nachdem wenig hilfreich ist. Denn: Fragt man die Gegenseite, wird der Disput anders geschildert. Was stimmt denn nun? Meistens geht es bei ungleichen Versionen solcher Geschichten nicht darum, dass Kinder lügen. Vielmehr nehmen nicht alle Kinder und Erwachsenen Situationen gleich wahr.

Flunkern als Entwicklungsschritt
Mitunter pflegen Kinder aber auch schlicht und einfach einen flexibleren Umgang mit der Wahrheit. Im Rahmen eines wissenschaftlichen Versuchs lud der Psychologe und Verhaltensforscher Kang Lee Kinder zu einem Experiment ein, das aufgrund seines speziellen Settings richtiggehend zum Schummeln verführte. Anschliessend wurden die Kinder gefragt, ob sie dies auch getan hätten. Dabei kam heraus, dass von den zweijährigen Kindern rund ein Drittel gelogen hatte, bei den Dreijährigen war es schon die Hälfte und bei den Vierjährigen 80 Prozent. Von den noch älteren Kindern hatte praktisch keines die Wahrheit erzählt. Dies lässt den Schluss zu, dass die Kleinen etwas draufhaben müssen, um lügen zu können, sprich: Die Flunkerei geht offensichtlich mit der Entwicklung sozialer Kompetenzen einher.
Manchmal lügen wir auch aus Höflichkeit. Es gibt sogar Situationen, in denen wir Eltern uns wünschten, Kinder wären nicht so ehrlich.
Warum Menschen lügen
Es sind unterschiedliche Gründe, die Kinder und Erwachsene dazu veranlassen, es mit der Wahrheit nicht so genau zu nehmen. Kinder fürchten sich zum Beispiel vor Konsequenzen – oder aber sie haben ihren Fehler bereits eingesehen, wissen aber nicht, wie sie alternativ handeln können. Es bleibt ihnen nur das Abstreiten. Manchmal lügen wir auch, um zu gefallen, oder tun es aus Höflichkeit. Es gibt sogar Situationen, in denen wir Eltern uns wünschten, Kinder wären nicht so ehrlich – oder würden zumindest schweigen. Fast alle Mütter und Väter kennen Momente, in denen Kinder laut und deutlich das Aussehen einer anderen Person taxieren: «Mami, warum ist dieser Mann so dick?» Oder waren Sie auch schon in einer Situation, in der Sie sich bemüssigt fühlten, ein Kompliment auszusprechen, etwa für die neue Frisur des Gegenübers, Ihnen aber gar nicht danach war? In welche Komplikationen man geraten kann, wenn man nicht mehr lügen kann, erzählt auf humorvolle Weise der Film «Liar Liar» von Tom Shadyac mit Jim Carrey in der Hauptrolle. Weil der Hauptprotagonist immer mehr verspricht, als er halten kann, geht der Wunsch seines Sohns in Erfüllung: Papa kann nicht mehr lügen – und findet sich prompt in einer Reihe schwieriger und peinlicher Situationen wieder.
Beweggründe von Lügen verstehen
Bei Kindern im Vorschul- und je nach Entwicklung auch im frühen Schulalter kommt es vor, dass sie fantastische Geschichten erzählen, die sich mit realen Gegebenheiten vermischen. Wir Erwachsenen merken dann meist nicht auf Anhieb, dass die Sache einen Haken hat. Erst nach und nach registrieren wir, dass bei der Geschichte etwas nicht stimmen kann. Eine solche Situation könnte sich zum Beispiel folgendermassen zutragen:
Enya kommt in den Kindergarten und erzählt den anderen Kindern und der Kindergärtnerin, dass sie mit ihren Eltern umziehe. Im Verlauf der Erzählungen erwähnt sie, dass die Eltern mit ihr nach Kanada zögen, weil der Papa dort einen neuen Job habe. Die Kindergärtnerin kann Enyas Geschichte nicht ganz einordnen, zumal das Mädchen erst vor zwei Monaten zugezogen ist. Darum fällt es ihr schwer, zu glauben, dass die Eltern schon wieder umziehen möchten – erst recht, wo sie sich doch erst gerade den Traum eines Eigenheims ermöglicht haben.
Was steckt hinter dieser frei erfundenen Situation, die sich jedoch so zugetragen haben könnte? Es wäre beispielsweise möglich, dass Enyas Eltern eine Ferienreise nach Kanada geplant haben, kombiniert mit einer beruflichen Reise des Vaters. Oder aber das Mädchen verfügt über sehr viel Fantasie: Nachdem sie mit ihrer Gotte ein Buch über die Tiere in Kanada angeschaut hat, träumt sie davon, diese in freier Wildbahn zu sehen, und so kommt eins zum anderen. Oder Enya erfindet eine Geschichte, die sie auf irgendeine Weise mit ihrem Erfahrungsschatz kombiniert, um sich wichtigzumachen, respektive um Aufmerksamkeit zu erlangen. Beim Nachdenken über ihre Geschichte und mögliche Interpretationen stellen sich Fragen, die uns alle umtreiben: Wo hört die Fantasie auf und wo beginnt die Lüge? Und wie sollen wir Erwachsenen mit solchen Situationen umgehen?
Mir scheint es wichtig zu sein, dass wir ungeachtet des vermuteten Motivs versuchen, Kinder und ihre Beweggründe zu verstehen. Wenn wir merken, dass Kinder eine abenteuerliche Geschichte mit einem Schuss Fantasie würzen, dürfen wir uns zu Recht fragen, ob wir der Situation ihren Zauber nehmen und wie viel Realität wir dem Nachwuchs zumuten wollen – ungeachtet der Tatsache, dass die Wahrheit für das familiäre und gesellschaftliche Zusammenleben natürlich einen hohen Stellenwert hat.
‹Wenn Sie erstmals merken, dass Ihr zweijähriges Kind Sie anlügt, haben Sie Grund zum Feiern›, sagt der Verhaltensforscher Kang Lee.
Dem Schwindel aufgesessen – was jetzt?
Wenn wir hingegen eine Aussage als klare Lüge entlarven, dürfen wir Kinder daran erinnern, wie wichtig es ist, die Wahrheit zu sagen, und mit ihnen daran arbeiten. Dabei spielt Moral wohl eine Rolle, viel mehr noch stehen aber Werte des Zusammenlebens wie zum Beispiel gegenseitiges Vertrauen im Vordergrund. In der Diskussion mit dem Kind, das offensichtlich gelogen hat, soll es aber weder um Schuld noch um Strafe gehen. Vielmehr können wir uns gemeinsam mit ihm Gedanken machen, wie es das Vertrauen im gegebenen Fall wieder herstellen kann. Ganz wichtig: Das Kind soll wissen und spüren, dass wir es trotz seiner Lüge gernhaben.
Lügen ist ein überaus komplexes Thema, und zwischen Fantasie, ein bisschen Schwindeln und einer handfesten Lüge gibt es viele Graustufen. Glücklicherweise gibt es gute und ausführliche Literatur zum Thema – wer mag, kann sich einlesen. Grundsätzlich gilt: Wenn Lügen in der Beziehung zum Kind zu viel Raum einnehmen, ist es wichtig, sich fachliche Hilfe zu suchen, sowohl als Elternteil wie auch als Lehrperson. Manchmal können wir aber auch einfach mit einem Schmunzeln über eine Ungereimtheit hinwegsehen, wenn uns unsere Schützlinge mit viel Charme einen Bären aufbinden oder uns um den kleinen Finger wickeln. Oder um den Forscher Kang Lee zu zitieren: «Wenn Sie das erste Mal realisieren, dass Sie Ihr zweijähriges Kind anlügt, haben Sie Grund zum Feiern. Ihr Kind hat nämlich signalisiert, dass es einen nächsten Entwicklungsschritt gemacht hat.»